Zwanzigster Brief
Reinhold an Olivier

[57] Ich habe sie gesehen, Olivier! habe mich eine Stunde mit ihr unterhalten, und bekenne, daß sie eine durchaus neue Empfindung in mir hervorgebracht hat.[57]

Denke Dir den Körper der Mediceerin – nur etwas größer. – Wirf ein weißes langes Gewand um diesen reitzenden Körper, den Kopf – doch das mögte Deiner Phantasie schwerlich gelingen, Dir diesen sonderbaren Kopf zu zeichnen. Ein dunkelbraunes, lockiges Haar auf einer blendenden gebietenden Stirne. Zwey lange geistvolle Braunen über ein paar schwarzen durchdringenden Augen, voll Unschuld und jungfräulicher Würde, voll Muth und anziehender Redlichkeit.

Sonderbar! eben diese Redlichkeit macht den bleibenden herrschenden Eindruck. Nur einen Augenblick ist man sich seiner Sinnlichkeit bewußt. Dann aber geht diese Sinnlichkeit[58] nicht, wie bey Andern, in Bewunderung oder in anspruchlose Zärtlichkeit über. Nein, man vergißt ihr Geschlecht, man vergißt, daß diese schöne, kraftvolle Seele in einem weiblichen Körper wohnt. Es ist einem wohl, man wünscht, daß es immer so bleibe. Ohne Leidenschaft, ohne süße peinigende Unruhe. Ist man unglücklich; so flüchtet man gewiß zu ihr. Man weiß es, sie wird einen nicht verlassen, in Noth und Tod wird sie treu bleiben.

So charakterisirt sie sich durch ein paar gehaltvolle Worte, ohne Anspruch dahingeworfen. Ach, da ist an keine Koketterie, weder feine noch grobe, weder erlaubte noch unerlaubte zu denken. So wie sie ist, giebt sie sich, gleichviel[59] was sie dadurch wirkt. An Liebe denkt sie nicht. Das sieht man. Auch – ich gestehe es – bringt sie sie nicht hervor. Schöne genußvolle Ruhe, kindliches herzliches Dahingeben, das fühlt man, und damit scheint sie zufrieden. Ohnedem wäre sie es. – Wahrlich ich glaube sie genüget sich selbst.[60]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 57-61.
Lizenz:
Kategorien: