Neun und zwanzigster Brief
Wilhelmine an ihre Mutter

[81] Es war die höchste Zeit, beste Mutter! Einen Tag später, und meine Julie war verloren. Ich fand die Alte noch im Bette, und Julie schöner und duldender als jemals. Man sah es, sie hatte geweint, gewacht, unbeschreiblich gelitten; aber es ist und bleibt das Gesicht eines Seraphs. Noch etwas größer ist sie geworden,[81] und ihre blonden Haare schattiren jetzt in das Braune. Ihre Haut ist blendender, und der Blick ihres großen Himmelauges dringt bis in das Innerste der Seele.

Der schreckliche Mensch war auch da, und zitterte vor Wuth, da ich mich Julien näherte. »Die Mutter könne sie nicht entbehren, es sey vor dem Winter unmöglich,« und was dergleichen Ausflüchte mehr waren. – Aber jetzt übergab ich Ihren Brief. Herr Olivier fand nun für gut die Maske abzuziehen, erklärte gerade heraus, er werde es nicht dulden, und erhitzte sich während seiner Protestation so sehr, daß er wirklich schäumte, als der Arzt – Juliens zweiter Vormund – herein trat.[82]

Ich wandte mich sogleich an ihn, und bat um seine Entscheidung. Er war ganz für die Reise und behauptete, Julie werde ohne diese Zerstreuung einer ernsthaften Krankheit nicht entgehen. Um den Herrn Obristen völlig zu schlagen, bot er seine Schwester zur Wartung der Mutter an, und so konnte man denn vernünftiger Weise nichts mehr einwenden.

Noch ehe der Obriste sich von seiner Betäubung erholte, war der Reiseplan fertig, und Julie fiel mir, wie eine erlöste Gefangne, mit einem Thränenstrome um den Hals.

Der Obriste, und sogar die Mutter wurden heftig dadurch erschüttert. Juliens Lächeln hatte die Peiniger getäuscht, und jetzt erst[83] schien das ganze Bewußtseyn ihrer Schuld zu erwachen.

Die Mutter sah starr auf den Boden, und der Obriste, nachdem er wie ein Rasender umhergelaufen war, stürzte mit einem Male vor Julien nieder, und rief mit seiner fürchterlichen Stimme, halb bittend, halb drohend: »Julie! Sie wollen mich verlassen!«

Das unterdrückte Mädchen schloß sich jetzt noch ängstlicher an meine Brust. Auch bekenne ich, wie ich da den Mann, durch dessen Hand so viele Menschen starben, wie ich den Koloß da vor uns liegen sah, fühlte ich selbst eine Art Schauder.

Doch ermannte ich mich wieder. »Lieben[84] Sie Julie, Herr Obrister – sagte ich, indem ich das zitternde Mädchen zu einem Stuhle führte – so können Sie sich dieser Reise nicht widersetzen.« – Er antwortete mir nur mit einem wüthenden Blicke, rafte sich auf, und verfinsterte, indem er mit seinen klirrenden Sporen an das Fenster trat, das ganze unter seinem Fußtritte bebende Zimmer.

»Wann werden Sie reisen?« – fragte die Mutter. »Morgen – antwortete ich – die Wege möchten sich verschlimmern.« – »Morgen! – rief der Obriste – das geht nicht! Morgen ist die Verlobung.« – »Und davon sagtest Du mir nichts?« – redete ich Julien an. – »Weil ich es nicht wußte« – antwortete[85] sie mit ihrer Flötenstimme. – »Du wüßtest es nicht! – rief ich – und so wird es Dir angekündigt! – Julie! – fuhr ich fort, indem ich ihre beiden Hände ergriff und sie fest gegen meine Brust drückte – Julie? wirst Du Dich morgen verloben?«

Ich glaube sie sah die Verzweiflung auf meinem Gesichte. – »Nein – antwortete sie – ich werde reisen.« – In diesem Augenblicke schrie die Mutter laut auf: »dem Obristen wird nicht wohl!« – Wir sahen uns um und er hieng bleich wie eine Leiche über der Lehne des Sopha's. Julie wollte sich zu ihm hinneigen; aber noch ehe sie sich losmachen konnte, rief ich unsern Bedienten: »Friedrich! dem[86] Herrn Obristen ist nicht wohl! geschwinde seine Leute!«

»Er wird krank werden« – sagte Julie wehmüthig, als wir in ihre Kammer traten. »Und Du – antwortete ich – würdest auf Dein ganzes Leben elend werden. Was ist schlimmer?«

»O meine Wilhelmine – rief sie, indem sie das Engelgesicht an meine Brust legte – Gott weiß es wie sehr ich Dich liebe, und wie gern ich Dir folge! aber hätten wir ihn nicht etwas mehr schonen können? – Sein Kummer ist mir fürchterlich. – Ich bin nicht daran gewöhnt.« –

»Liebst Du ihn« – sagte ich, indem ich[87] sie von meiner Brust zurückdrängte und ihr starr in die Augen sah. – »Wilhelmine! – antwortete sie – Ach Gott! ich kenne die Liebe nicht! Aber wenn ich ihn liebe; so ist die Liebe kein süßes Gefühl.« –

»O es ist gut! es ist alles gut! – rief ich, und drückte sie wieder fest an mein Herz – Du fürchtest ihn nur, bist an ihn gewöhnt, kannst ihn nicht leiden sehen – das ist es, und weiter nichts. Fort! fort von hier! damit Du begreifst, wer Du bist, und von wem Du Dich trennest.«

»Aber morgen schon?« – sagte sie – »Heute, wenn es möglich ist« – wollte ich antworten; aber ich besann mich geschwinde, und als[88] hätte ich nichts gehört, fing mit ihr an, Kleider und Wäsche zum Einpacken hervorzusuchen.

»Spute Dich – rief ich – Du hast so lange keine Bewegung in freyer Luft gehabt. Wir müssen bey dem herrlichen Wetter schlechterdings noch eine Spazierfahrt machen. Meine Leute holen Vormittags den Koffer, und so ist auf morgen alles besorgt.«

Die Schlüssel fielen ihr aus den zitternden Händen; aber ich hob sie wieder auf, schloß zu, und steckte sie zu mir. Nun giengen wir zur Mutter, die wir glücklicher Weise allein fanden. Der Herr Obriste war nach langem Warten endlich davon gegangen; freilich aber mit der Drohung, gleich nach Tische wiederzukommen.[89] Die sogenannte Spazierfahrt mußte also beschleunigt werden.

Friedrich wußte Bescheid und noch vor drey Uhr trabte er neben unserm Wagen auf dem Wege nach P...

»Hier wird uns der Obriste nicht suchen,« – sagte ich, als wir in das Wäldchen kamen – »Aber fahren wir auch zu weit?« – fragte Julie. »Nicht weiter als nöthig ist – antwortete ich – diesen Abend sind wir in P...«

»O mein Gott! – rief sie – ohne Abschied von meiner Mutter!«

»Mit dem Abschiede wärest Du nie davon gekommen.«

»Was wird der Obriste sagen?«[90]

»Alles was ihm beliebt, – die Hauptsache ist, daß er uns nicht findet.«

»Wilhelmine! Du bist zu rasch gewesen. Man wird es tadeln.«

»Immerhin! bist Du doch frey. – Auch habe ich einen Brief an Deine Mutter hinterlassen. Der Doctor will das Übrige auf sich nehmen.«

Und so gieng es nun rasch nach P.... Gestern kamen wir an, und heute sind wir schon eingerichtet. Die Zahl der Brunnengäste ist ansehnlicher als jemals, und die mannichfaltigen Zerstreuungen werden auf Julien vortheilhaft wirken.

Lassen Sie bald etwas von sich hören, beste[91] Mutter, und schonen Sie Ihre Augen, aber nicht Ihren Secretair. In der That, ich glaube Reinhold hat das Amt gerne übernommen, und Sie können sich ganz auf ihn verlassen.

Julie umarmt Sie tausendmal und Ihre Wilhelmine küßt die liebe mütterliche Hand.[92]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 81-93.
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