Dreißigster Brief
Reinhold an Wilhelmine

[93] Ihre Frau Mutter ist wohl, und hat seit gestern merkliche Besserung an ihren Augen verspürt. Demohngeachtet wird meine theure Freundin – ich habe ja die Erlaubniß, Ihnen diesen Nahmen geben zu dürfen – mit einer Secretairsnachricht vorlieb nehmen müssen.[93]

Der Herr Vater kann sich, wie gewöhnlich, zu keinem Briefe entschließen, und ist tiefer als jemals in seinen Acten vergraben. Kaum war es ihm möglich, mir einen Gruß für seine Julie zurufen zu können.

Olivier ist seit drey Tagen bey mir. Fast mögte ich sagen, er dauert mich. Ich finde ihn nicht sowohl äußerlich als innerlich bis zum Unkenntlichen verändert, und gestehe, unter allen Zaubereyen der Liebe ist mir diese eine der merkwürdigsten.

Gleichwohl droht sein oft mit Würde verhaltener, oft wie ein reißender Strom hervorbrechender Schmerz alle Vernunft zu überwinden. Anfangs wollte er mich zwingen, ihm[94] Juliens Aufenthalt zu entdecken, und nur lange nach einer sehr ernsthaften Scene, war er im Stande meine Verbindlichkeit zu begreifen. Nun will er fort, Sie aufzusuchen. Ich werde ihn reisen lassen, und hoffe auf diese Weise seine Genesung am sichersten zu bewirken.

Empfehlen Sie mich Ihrer theuern Freundin, und bitten Sie ihre Frau Mutter, mich meines Amtes nicht zu entsetzen.[95]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 93-96.
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