Zehntes Kapitel

[36] »Wecke mich ehe die Sonne aufgeht« – hatte ich zu Heinrich gesagt. Aber noch ehe Heinrich erwachte war ich auf dem Wege zu meiner Eiche. Ach Mariens Vorhänge waren dicht geschlossen, alles lag noch im tiefen Schlummer, auch die Sonne verweilte und nur der freundliche Haushund kam mir schmeichelnd entgegen gesprungen.

Ich bestieg meine Eiche, und beschloß: sobald die Sonne hinter dem Berge hervorgegangen seyn würde, Marien mit meiner Flöte zu wecken. Aber schon lange war das liebliche Thal erleuchtet; und noch[36] zitterten meine Lippen unentschlossen an der Flöte.

Wie? sollte ich ihren Schlummer unterbrechen! – ich konnte es nicht wollen, ich konnte es nicht lassen – anfangs stahlen sich nur einzelne Töne aus der Flöte: aber ehe ich es gewahr wurde bewegten sich meine Finger unwillkührlich, und bald fand ich mich mitten in einem Adagio, in welches sich meine ganze Seele ergoß.

Mariens Vorhänge bewegten sich, meine Flöte schwieg, und von dickbelaubten Zweigen beschattet; starrte ich jetzt unverwandt nach ihrem Fenster. Jetzt öffnete es sich. O Gott! wie ward mir! Sie war es selbst. –

Ohne zu wissen was ich that, breitete ich meine Arme aus – und ach, da ließ ich meine Flöte fallen. Aber wie glücklich! Marie bemerkte es nicht, und noch ehe ich mich von meinem Schrecken erholen konnte[37] – sah ich sie in den Garten treten: wahrscheinlich um den unsichtbaren Flötenspieler zu suchen.

Noch wehten die langen blonden Locken ungefesselt um den schönen Hals, und das dünne Morgengewand raubte mir keine Bewegung des reizvollsten Körpers.

Welch ein Zauber liegt doch in einer vollendeten weiblichen Schönheit! – jede thierische Begierde verstummt, die Seele versinkt in tiefe Ruhe, und der sinnlichste Mensch begreift bey ihrem Anblicke: daß es noch etwas wünschenswertheres als Sinnlichkeit gebe.

Marie durchsuchte den ganzen Garten. Endlich kam sie an eine kleine Brücke die über den Bach nach der Wiese führte; wo mich meine Eiche vor ihren Augen verbarg. Sie schien unentschlossen: ob sie sich über die Brücke wagen sollte – aber ein Bologneserhund, der sie begleitete, war ihr[38] schon zuvorgekommen. Er tummelte sich mit einem Stück Holze – o Himmel es war meine Flöte! – auf der Wiese herum.

»Eine Flöte!« – rief Marie; und eilte schnell hinter dem Hunde her. Aber jedes Mal wenn sie nahe daran zu seyn glaubte ihn zu erhaschen; machte er sich plötzlich mit possierlichen Sprüngen auf und davon.

Jetzt näherte sich der Hund dem Bache, und jetzt wollte Marie das Aeußerste versuchen: aber indem sie sich hinüber beugte um die Flöte zu retten, verlor, sie das Gleichgewicht und sank tief in das hohe Schilf hinein.

Ein Schrey, ein Sprung, und sie lag in meinen Armen. –

Nein, dieser Augenblick war einzig in meinem Leben, und wird es bleiben.[39]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 36-40.
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