Zweytes Kapitel

[182] An den Ufern des reizenden Sees, verwandelte sich meine Schwermuth in sanfte Melancolie. Heinrich hatte geirrt, nicht die erhabne, nur die liebliche Natur konnte mich heilen. – Jene zeigt sich dem Schuldigen wie eine strenge, unerbittliche Richterin, diese wie eine milde segnende Mutter.

Mein krankes Herz bedurfte der Schonung, meine ermattete Seele einer leichten geistigen Nahrung – wo hätte ich sie mehr finden können, als in dem gebildeten Genf? –

In der That, meine Heiterkeit wuchs zusehends, mit jedem Siege über meine[182] Sinnlichkeit fühlte ich mehr Kraft, sie zu bekämpfen, und ich ward mit Heinrich um so inniger verbunden, je mehr ich durch mich selbst die Möglichkeit einer ungeheuchelten Jugend begreifen lernte.

So glaubt der prüfende Mensch nur dann erst an das Göttliche, wenn er es in seinem eigenen Herzen entdeckt. Ach was nicht vom Anfange in ihm war, bleibt ihm auf ewig verborgen! – Die Dinge sind ihm nur das, was er sie werden läßt, nicht sie, nur sich selbst erkennt er in ihnen. Von allem was ihn umgiebt, kann er nur sagen es scheint – von seinem Gewissen allein es ist.[183]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 182-184.
Lizenz:
Kategorien: