Drittes Kapitel

[184] Von dem allen war ich jetzt lebhaft überzeugt; aber dennoch erwachte manchmal der Geist des Widerspruchs in mir. Ich konnte es Heinrich nicht verzeihen, daß er mich so tief hatte sinken lassen; ob er mir gleich bewies: daß er ohne Gewaltthätigkeit nichts mehr für mich habe thun können.

»Zugegeben!« – rief ich – »aber leugne es wenn du kannst! ihr laßt dem Laster nicht Gerechtigkeit widerfahren; und dadurch stürzt ihr uns arme sinnliche Menschen. Eure Tugend hat noch immer die Mönchsgestalt, und Euer Laster ist ein[184] zähnfletschendes Ungeheuer. Ach wir Unglücklichen! so erscheint es uns nicht! –

»Wenn ich nicht irre« – antwortete er, mit seinem zärtlich wehmüthigen Lächeln – so declamirte ein gewisser junger Mann in seiner Kindheit, den Vers des ehrlichen Gellert recht artig: Des Lasters Bahn ist Anfangs zwar ein breiter Weg durch Auen – – – –

»Ach geh doch!« – rief ich – »ich wußte damals eben so wenig von welchen Auen die Rede war, als ich jetzt die Auen im Monde kenne! – das ist eben das Unglück, daß Ihr genug gethan zu haben glaubt, wenn Ihr uns schwatzen lehrt.

Heinrich. Nun, das dächte ich wäre doch jetzt bey der Erziehung nicht mehr der Fall.

Ich. Jetzt! – jetzt mehr als jemahls! und was wird Euer Zögling antworten? wenn ihm die Völker am Ufer des Ganges,[185] die Insulaner der Südsee, oder einige arabische Horden versichern: daß sie ganz andere Begriffe von Tugend haben als er? –

Er. Das was etwa ein Grieche, der den Apoll für das Ideal der menschlichen Gestalt ausgäbe, einem Chineser, einem Neger, oder einem Feuerländer antworten würde; wenn einer von diesen Leuten behauptete: daß nur seine Nation Begriffe von wahrer Schönheit habe, und daß der Apoll des Griechen, nichts mehr und nichts weniger als ein ungeschlachter Geselle sey, an dem sie nimmermehr Gefallen finden würden.

Ich. Nun?

Er. Lieben Leute, würde er etwa sagen, wenn ich nicht irre: so nennt Ihr Euch Menschen, weil Ihr durch einen Nahmen Euren Unterschied von den Thieren bezeichnen wollt?

[186] Ich. Das sollt' ich meinen! –

Er. Nun könnte man glauben: daß Ihr um so mehr diesen Namen verdient, je mehr Ihr Euch wirklich von den Thieren unterscheidet. –

Ich. Allerdings!

Er. Freund Chineser und Du mein guter Schwarzer, haltet Euch einen Augenblick ruhig. – Seht hier habe ich Eure Köpfe gezeichnet, und den Kopf meines Apolls darunter. Findet Ihr sie ähnlich?

Ich. Angenommen: Ja.

Er. Aber jetzt müßt Ihr mir versprechen: daß Ihr nicht böse werden wollt; wenn ich eine kleine Veränderung mit Euren Köpfen vornehme. –

Nun wohlan! Sieh lieber Chineser! ein paar Striche, und du bist in eine Katze verwandelt. Du mein guter Schwarzer mit noch wenigeren in einen Affen. Den armen Feuerländer kann ich, um den letzten[187] darzustellen, beynahe ganz unverändert lassen. Aber was fange ich mit meinem Apoll an! – Dieses herrliche Oval, diese gebietende Stirn, dieses göttliche Auge, diesen lieblich - majestätischen Mund, finde ich bey keinem Thiere.

Lasset Eure geschicktesten Zeichner und Naturforscher herkommen, nehmt die unsrigen dazu, ich wette, sie sagen dasselbe.

Könnt Ihr es mir nun verdenken: wenn ich Ihn den wahren Menschen nenne? –

Ich. Es war ein Gott! –

Er. Immerhin! nenne das Ideal der Menschheit einen Gott, und denjenigen, der sich diesem Ideale zu nähern strebt, einen werdenden Gott – ich habe nichts dagegen.«

Ich sank an sein Herz und verstummte.[188]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 184-189.
Lizenz:
Kategorien: