Viertes Kapitel

[65] Den folgenden Tag ließ ich mich bey ihr melden und ward, zu meiner großen Freude, sogleich angenommen. Kaum hatten wir eine halbe Stunde mit einander gesprochen; so war mir, als hätten wir uns Jahre lang gekannt, und als könne ich ihr die geheimsten Empfindungen meines Herzens entdecken.

Ihr schönes offnes Auge schien lange gewöhnt, über den Kummer dieser Erde hinwegzublicken, und in ihrem Gesichte herrschte eine Ruhe, welche unmerklich in die Seele des Andern überging.

In allem was sie sagte, lag ein so großer, schöner Sinn, den man aber erst lange[65] nachher entdeckte, wenn sie wieder geschwiegen hatte. In dem Augenblicke wo sie sprach, schien sie bey ihrem äußerst einfachen Wesen, etwas ganz gewöhnliches zu sagen. Man kann denken, ob ich sie ungern verließ. –

Ich hatte sie um die Erlaubniß gebeten, sie wieder zu sehen, und sie hatte sie mir in einem Tone gegeben, der sehr deutlich verrieth, wie weit sie sich über die Jahre hinausglaubte, wo Mangel an Zurückhaltung gefährlich werden kann.

In der That nutzte ich jetzt diese Erlaubniß auf das Aeußerste; es verging kein Tag, wo ich sie nicht wenigstens einmal sah, und bald ward es mir zum süßen Bedürfniß, ihr alle meine Gedanken und Empfindungen mitzutheilen.

Stundenlang unterhielten wir uns von Marie, und von allem was ich gehoft und gelitten hatte. Ach, so wie sie mich verstand;[66] konnte mich Heinrich nimmermehr verstehen. – Nein! dieses gänzliche Dahingeben in ein fremdes Interesse vermag kein Mann von sich zucrzwingen.

Mein bitterer, verschlossener Gram sing endlich an, sich immermehr in zärtliche Wehmuth zu verwandeln; aber die Leidenschaft hatte meinen Körper schon zu sehr erschüttert: und ich fühlte bestimmt, daß ich einer ernstlichen Krankheit nicht entgehen würde.

»Wenn ich krank werde« – sagte ich zu Sophien – »so bleibe ich bey Ihnen. Nicht wahr? Sie verstoßen mich nicht?« –

Sie antwortete mir mit einem gutherzigen Lächeln; und dachte freylich nicht, daß dieser Fall jemals kommen würde.

Aber als wir eines Abends im traulichen Gespräche neben einander saßen, überfiel mich plötzlich ein Schwindel, und als[67] ich das Bewußtseyn wieder erhielt, fand ich mich auf einem Bette, in einem unbekannten Zimmer, Sophie und den Arzt an meiner Seite.[68]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 65-69.
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