4. [Du fragst, was uns not tut, Freund]

[75] Du fragst, was uns not tut, Freund,

und was uns fehlt? ... O, so viel!

Ideale vor allem wieder

und ein festes großes Ziel!


Ideale, wie unsere Väter gehabt –

die selbst freilich taugen nicht mehr

und sind unmöglich geworden

die vergangenen Jahre her ...

wie sich das meiste, das man

uns in der Kindheit gelehrt,

im Getriebe der Welt von heut

zu Spott und Torheit verkehrt.


Die uns erzogen, sie meinten

es alle ja herzlich gut;

wenn ich zurückdenke aber,

schwillt mir noch heute das Blut[76]

ob all der Weisheiten, die man

so mühvoll uns eingepaukt,

Weisheiten, von denen nicht eine

zu wirklichem Leben getaugt!


Und was in Büchern und Schriften

als Vorbild uns hingestellt,

mein Gott, das war doch erst recht

eine ganz unmögliche Welt!

Und als es dann hieß: nun geh,

und was du willst, nun erring's! ...

da stand man mit all seinem Wissen

und wußte nicht rechts noch links!


Den Kampf aber, den's dann gekostet,

und die Kraft, o die schöne Kraft,

wenn Enttäuschung über Enttäuschung

einem das Herz erschlafft ...

und bis man abgeschüttelt

allmählich den ganzen Zwang

und Schritt für Schritt wieder Mut sich

und festeren Boden errang!


Auch die Alten freilich nun lassen

uns ab und zu einmal recht[77]

und erklären nicht alles mehr

von vornherein gleich für schlecht!

Ja, in gutgelaunten Stunden

gestehen sie sogar:

daß manches, das sie bestritten,

doch ganz vernünftig war!


Wenn sie kommen aber und sagen:

Einreißen sei kinderleicht!

doch, ohne Ersatz zu wissen,

was damit viel erreicht?!

so müssen wir still sein und schweigen –

denn das ist ja doch unser Leid,

die Not unseres ganzen Lebens,

der Jammer der ganzen Zeit:


Daß wir zerdacht und zerzweifelt

alles, was bisher war,

und was wir selber wollen,

noch nicht wie das Frühere klar ...

wie zwischen Charfreitag und Ostern

fehlt Freude und Zuversicht:

der alte Gott ist gestorben,

der neue erstand noch nicht!
[78]

Die Nacht, die lag, ist gewichen,

doch mit erloschen sind auch

die Sterne, die ihr geleuchtet,

und es weht ein frostiger Hauch ...

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


In Erfüllung ging ja soviel schon,

wofür das Herz uns schwoll,

und doch weiß niemand so recht,

was nun weiter kommen soll ...

ein jeder steht auf dem Platze,

ein jeder kämpft und ringt,

doch es ist nur ein Tasten und Suchen,

und keiner weiß, was gelingt ...


Du fragst, was uns not tut, Freund,

und was uns fehlt?! ... O, so viel!

Ideale vor allem wieder

und ein festes, großes Ziel!

Quelle:
Cäsar Flaischlen: Gesammelte Dichtungen. Band 2: Aus den Lehr- und Wanderjahren des Lebens. Stuttgart 1921, S. 75-79.
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