Achtzehntes Kapitel

[116] Der andere Morgen sah beide wieder auf der Veranda.

»Nun, Fränzl, immer im Programm. Paragraph eins: wie hast du geschlafen? Paragraph zwei: was hast du geträumt?«

»Es war leider etwas wirr. Ich sah Szabô, den alten Obersten, in einer Gesellschaft schöner Damen, die sogleich neugierig einen Kreis um ihn schlossen. Und dabei sagte mir eine Stimme, daß von mir gesprochen werden würde, weshalb ich in eine Fensternische trat, um besser horchen zu können, was unschicklich ist, aber in drei Vierteln aller Lustspiele wird gehorcht, und so mußt du mir's verzeihen, wenn ich von der lieben alten Gewohnheit nicht gleich lassen kann. Wenigstens im Traume nicht.«

»Und sollst auch nicht. Bleibe, wie du bist. Aber weiter, weiter. Du horchtest also.«

»Ja, wenigstens eine Weile. Sehr bald indes schlich ich mich wieder näher und sah nun, daß aus dem Kreise schöner Frauen[116] ein Kreis alter Militärs geworden war, alle mit dicken goldenen Epauletten, und nur Szabô schien unverändert. Als ich aber schärfer zusah, war es Szabô nicht mehr, sondern Görgey.«

»Du hast das Bild in der Galerie gesehen, und so kam es in deinen Traum. Oder ist alles bloß Dichtung?«

»Dichtung und Wahrheit. Ich hab es mir etwas zurechtgemacht, um eine Brücke zu finden.«

»Eine Brücke? Wohin? Wozu?«

»Zu Fragen, die wie politische Fragen aussehen und doch schließlich keine sind, sondern nur allerpersönlichste Fragen und Lebensfragen dazu.«

»Da bin ich doch neugierig. Also.«

»Nun, sich, ich habe dich für wienerisch und gut kaiserlich gehalten und sehe plötzlich, seit ich hier bin, daß es doch sehr anders mit dir liegt. Ich atme hier nicht bloß ungrische Luft, sondern bin auch sonst noch in einer ungrischen Atmosphäre. Darüber mußt du mich aufklären und mich einweihen in die letzten und besten Interessen deines Herzens. Und daß ich eine Fremde bin, erleichtert es dir und mir. Ich bin eben als Fremde nicht österreichisch und nicht habsburgisch, und wenn es sich darum handelt, ungrisch zu sein oder ungrisch zu werden, so liegt nichts in mir, was mich daran hinderte. Nimm mich also als das vielzitierte weiße Blatt, auf das, wenigstens politisch, noch eine ganze Welt von Weisheit geschrieben werden kann. Allen Ernstes, ich proponiere, daß wir auch die Politik auf unser Programm setzen und daß ich, was dasselbe sagen will, in meinem täglichen Zeitungsrapport nicht gebunden bin, bei der Schratt oder der Frank ein für allemal stehenzubleiben. Ich kenne dich zu gut, als daß ich glauben sollte, du hieltest Theaterdinge für Weltbegebenheiten. Es tötet dir nur ein paar müßige Stunden weg, und Gräfin Judith täuscht sich, wenn sie glaubt, daß das wirklich dein Leben und deine Welt sei. Hab ich unrecht? Und ist es zudringlich, wenn ich darüber ein Wort zu hören wünsche?«

»Nein, Fränzl, ist nicht zudringlich. Und bist auch viel zu klug, um es zu sein. Ich freue mich, daß du fragst, und beinahe[117] mehr noch, dir unumwunden antworten zu können. Aber womit beginn ich? Gleichviel! In dem, was du hier gesehen hast, hast du richtig gesehen; es ist alles gut ungrisch, und mein altes Herz empfindet es als ein Glück und eine Gnade, daß es so sein darf und daß alles gekommen ist, wie's kam. Es hätt eben auch anders kommen können, und dann weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre. Jedenfalls kein Glücklicher, der ich jetzt bin, und jetzt mehr denn je.«

Bei diesen Worten nahm er Franziskas Hand und fuhr dann fort, während er sie mit besonderer Freundlichkeit anblickte: »Sieh, Fränzl, meine Jugend und meine besten Mannesjahre fallen noch in eine Zeit, darin es Fragen wie diese gar nicht gab. Unser altes Österreich war so bunt, wie's auch heute noch ist, aber die Farben vertrugen sich untereinander. Ein jeder hing mit Leib und Leben am Kaiserhaus, und weil das Kaiserhaus gut wienerisch war und wir alle mit, so wunderte sich keiner darüber, daß die ganze bunte Landkarte von Wien aus regiert wurde. Das war so Herkommen, immer so gewesen. Und nun vollends in der Armee; da hätt ich den sehen wollen, der mir etwas gegen deinen Namensvetter, den Franzl, oder auch nur gegen das Ferdinandl gesagt hätt, obwohlen das Ferdinandl ein schwaches Mandl war. Aber ich verliere mich.«

»O nein, nein. Nur weiter. Ich höre.«

»Nun also, so war's, und es hätt auch ohne Schaden so bleiben können, wenigstens für mich, der ich kein Politiker war und auch eigentlich bis diese Stunde nicht bin. Aber eines Tages, ›wie der Frühling kommt‹, so sagen die einen, oder ›wie der Dieb in der Nacht kommt‹, so sagen die anderen, eines Tages waren andere Zeiten angebrochen, und das Feuer, das wir bis dahin, wenn's irgendwo mal brannte, mit unseren Militärstiefeln leicht ausgetreten hatten, das brannte jetzt durch ganz Österreich hin, am meisten aber hier, und ehe du drei Vaterunser beten kannst, war unser Ungarland wie verkehrt oder meinetwegen auch wie verhext, und auf jeder Fahne stand und flatterte: ›Lieber ungrisch sterben als kaiserlich verderben.‹ Auf jeder Fahne stand es, sag ich, und in jedem Herzen dazu. Ja, Fränzl,[118] wir hatten eine Revolution, und Revolutionszeit ist schwere Zeit, und mehr als einer ist an ihr zugrunde gegangen. Laß dir's von Toldy, der mit dabei war, erzählen, wie sie die Sieben am Festungstore von Arad gehängt haben, gehängt um was? Bloß weil sie's Ungarland mehr geliebt als den Eid, den sie dem Kaiser geschworen.«

»Und du, Petöfy?«

»Nun, ich, ich tat das, was sonst immer als das Schlechteste gilt und meist auch ist, ich wählte nicht links und nicht rechts. Aber diesmal war es doch das Beste. Mußt es auch sein. Denn sieh, Fränzl, wenn einer ein richtiges Herz hat und tut dann das, was das Herz ihm sagt, das ist immer das Richtige, komme, was mag. Und so trat ich denn vor ihn hin, vor meinen Kaiser und Herrn, der dazumalen nicht in Wien, sondern auf Schloß Innsbruck war, und bat ihn um meine gnädigste Demission. ›Ich habe‹, so sagt ich ihm, ›eh ich Eurer Majestät schwur, Ungarn geschworen; das ist der ewige Blutschwur, den jeder seinem Lande schwört, dem Stück Erde, darauf er geboren. Hier mein Degen! Ich hab ihn für Osterreich geführt, und ich kann und will ihn nicht gegen Österreich führen. Aber auch nicht im Kriege gegen mein Land und seine Fahnen. Und nun verurteilen mich Eure Majestät, wenn es so sein muß.‹ Eine Wolke lag da wohl auf seiner Stirn, aber er gab mir doch den Degen zurück und entließ mich in Gnaden, und was nebenher Ungnade war und blieb, das diktierte die Politik, aber nicht sein edles Herz. Ich ging ins Ausland, in alle Welt. Und nun kennst du den alten Petöfy, der aller Zeiten Wandlungen unerachtet geblieben ist, was er war: gut kaiserlich und gut wienerisch, aber freilich auch gut ungrisch. Und wenn es zum letzten geht, gut ungrisch über alles. Bist du zufrieden?«

»Zufrieden und dankbar. Ich kenne nun die Richtung, in der ich zu gehen, und den Ton, den ich anzuschlagen habe. Von Überzeugungen, soviel bleibt, soll man nicht lassen, aber wo sie fehlen und fehlen dürfen, da soll man sich den Überzeugungen anderer anbequemen. Ich glaube, das ist Pflicht überhaupt und die meinige noch im besonderen, denn darin täuschst du[119] dich, Petöfy, die bloße Causerie reicht nicht aus für unser Leben, ebensowenig wie das beste Feuilleton für eine Zeitung ausreicht; es muß noch etwas Ernsthaftes hinzukommen, sonst wird das Scherzhafte bald schal und abständig. Ich beginne morgen Ungrisch, und sind wir im nächsten Sommer wieder hier, so lese ich dir den ›Pesti Hirlap‹ in der Ursprache vor oder wohl gar Jokais neuesten Roman.«

»Im nächsten Sommer«, wiederholte Petöfy. »Wer weiß, was dann ist. In meinen Jahren hat man gelernt, nach Tagen zu rechnen, und nimmt den Tag, als ob er das Leben wäre.«

Beide schwiegen. Ein leiser Zugwind ging und hob ein paar welke Blätter in die Luft, von denen eines auf Petöfys Hand niederfiel. Er nahm es und sagte: »Sieh die Bestätigung. Es wird Herbst.«

»Aber nicht Winter. Und von Herbst bis Winter ist eine lange Zeit.«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 4, Berlin und Weimar 21973, S. 116-120.
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