Fünfunddreißigstes Kapitel

[194] Eine Woche darnach, nachdem seitens der Kirche sein gewaltsamer Tod auf einen Anfall von Melancholie gedeutet worden war, war Totenfeier bei den Augustinern, und das Wappen der Petöfys stand zu Häupten des Katafalks, darüber die schwarze Sammetdecke mit dem Silberkreuz ausgebreitet lag. Im Halbkreis um den Altar her aber saßen außer den nächsten Angehörigen auch entferntere Leidtragende der Familien Asperg und Gundolskirchen, während das ganze Schiff der Kirche von Uniformen blitzte. Daneben viel Volks. Denn der Heimgegangene hatte die Werke der Barmherzigkeit allezeit geübt und war ein Christ in seinem Tun gewesen, wie sehr es sein Wort auch bestritten haben mochte. Viele waren selbstverständlich nur aus Neugier gekommen und erzählten im Flüstertone, was sie von seinem Tode gehört hatten: er habe zurückgelehnt in seinem Schreibstuhl gesessen, auf den ersten Blick ohne[194] Zeichen äußerer Verletzung oder überhaupt dessen, was geschehen sei, denn er habe sich nach innen hin verblutet. Auch über das, was seinen Tod verschuldet, wurde gemutmaßt: es habe sich um ein Hofamt gehandelt, das eben vakant geworden und in früherer Zeit immer bei den Petöfys gewesen sei, der Kaiser aber hab es nicht gewollt, entweder wegen der jungen Gräfin oder noch von Neunundvierzig und der Revolution her. Und das habe der alte Graf nicht verwinden können. So ging das Gespräch. Alles schwieg aber vom selben Augenblick an, wo Pater Feßler vor dem Altar erschien und mit der ihm eigenen, beinah kirchenfürstlichen Würde die Zelebrierung des Totenamtes begann. Die Responsorien klangen, und die Kerzen auf den mit Flor umwundenen Leuchtern brannten dunkler noch als gewöhnlich in dem Weihrauchgewölk, das über ihnen lag.

Eine Stunde später leerte sich die Kirche wieder, und die Dienerschaften des Grafen trugen den Sarg zu vorläufiger Unterkunft in eine der Seitenkapellen.

Es war zu verhältnismäßig früher Stunde, daß die Feier stattgefunden hatte; die nächsten Leidtragenden kehrten in das Palais Petöfy zur Gräfin Judith zurück, während die junge Gräfin ohne Säumen nach Schloß Arpa hin aufbrach, in dessen Gruftkapelle der alte Graf am drittfolgenden Tage beigesetzt werden sollte.

Die Fahrt währte nur wenige Stunden, und die verschleierte Nachmittagssonne stand noch über den Bergen, als Franziska bei Nagy-Vasar den Schnellzug verließ und unmittelbar darnach das Schiff bestieg.

Ein jeder an Bord wußte von dem Tode des Grafen, und die Flagge wehte von Halbmast.

Als das Schiff an der Landungsbrücke von Szegenihaza angelegt hatte, war die Sonne schon gesunken, und Franziska nahm allein Platz in dem ihrer harrenden Wagen. Ach, wie verändert alles seit jenem Julitage, wo sie hier zum ersten Male, den blauen Himmel über sich, über die sonnige Fläche hingeflogen war. Auf den Feldern standen heut überall Tümpel[195] und Lachen, und durch den aufgeweichten Boden hin ging es langsam und oft im Schritt auf das Schloß zu, dessen Umrisse sich im Nebel und Zwielicht kaum noch erkennen ließen. Alles war öde und abgestorben, und nichts als ein Rest von gelbem Laube hing noch an den Bäumen, die hie und da neben dem Wege standen. Dabei tiefe Stille, nur dann und wann unterbrochen, wenn ein paar Krähen aufflogen.

Und nun hatte der Wagen den Punkt erreicht, wo der Weg in Schlängellinie bergan zu steigen begann. Als sie bis zur halben Höhe hinauf waren, hielt ihr Gefährt, und Franziska sah, als sie sich vorbeugte, daß man nicht weiter konnte, weil ein schwerer, ebenfalls bergan fahrender Lastwagen die Passage so gut wie gesperrt hielt.

»Was ist es?« fragte sie den Kutscher, als das Gezänk mit dem Vordermann einen Augenblick schwieg.

»Is Glocke, Gräfin gnädigste«, antwortete der Kutscher und rief dem andern zu, daß er links bis an den Rand hin ausbiegen und die Felsen- oder Innenseite freigeben solle. Mühsam geschah es, und einen Augenblick später fuhr Franziska dicht an dem Wagen und seiner mit einem schwarzen Segeltuch überdeckten Last vorüber.


Im Schlosse fand sie's wohnlicher, als sie zu hoffen gewagt hatte; den zweiten Tag, wie verabredet, kam Gräfin Judith, und am dritten Tage stand der letzte Petöfy vor dem Altar unten in der Gruftkapelle. Die Zeremonie wiederholte sich hier wie bei den Augustinern, nur mit dem Unterschiede, daß statt des stattlichen Feßler der kleine Pfarrer von Szegenihaza die Totenmesse las und an Stelle der vornehmen Welt nur Dienerschaften und Tagelöhner um den Altar mit dem großen, verblakten Marienbilde her versammelt waren. In Front aber saßen die beiden Gräfinnen selbst, den Blick auf den mit neuen Kränzen geschmückten Sarg gerichtet. Auch Hannah war in einem fast bis ans Kinn reichenden Trauerkleide anwesend und sah ernst und teilnahmvoll vor sich hin, immer aber, wenn wieder unverständliche lateinische Sätze gesprochen und das Weihrauchfaß[196] geschwenkt wurde, lag etwas wie Verdrießlichkeit und Überhebung auf ihrem Gesicht. Endlich schloß die Feier, alles kehrte zu seinem Tagewerk zurück, und nur die Glocken oben klangen noch über Land und See hin.

Es waren aber wieder zwei, die geläutet wurden.


Franziska hatte sich bald darnach in ihr Zimmer zurückgezogen und blickte, nachdem sie lange vergeblich sich zu beschäftigen und in einem Andachtsbuche zu lesen versucht hatte, zu der Nische mit dem Baldachin hinauf, von woher ihr das Christkind den kleinen Arm entgegenstreckte. Sie nahm den daran hängenden Rosenkranz und ließ die Perlen desselben eine nach der andern durch ihre Finger gleiten. Da war es ihr, als ob hinter ihr die Tür ging, und Hannahs ansichtig werdend, steckte sie, wie von einer leisen Verlegenheit erfaßt, den Rosenkranz in den Gürtel, in der Hoffnung, daß seine Perlen auf dem schwarzen Kleide vielleicht weniger sichtbar sein würden.

Aber Hannah sah es doch und sagte: »Laß nur. Ich hab es mir lange gedacht. Es kommt nun doch so.«

»Vielleicht. Aber denke dich in meine Lage. Kannst du mir böse sein?«

Hannah schüttelte den Kopf.

»Du bist mir also nicht böse. Nun, das ist gut, aber es ist mir nicht genug. Ich will auch deine Gutheißung. Und wenn du mir die nicht geben kannst, so will ich wenigstens, daß du sagst: ›Ich glaube selbst, es geht nicht anders.‹

Sieh«, fuhr Franziska fort, als Hannah immer noch schwieg, »du bist so gescheit und mußt einsehen, daß alles sein Gesetz und seine natürliche Folge hat. Ich bin nun Gräfin Petöfy, ja, seitdem ich dies schwarze Kleid trage, mehr als vorher. Es war nicht nötig, daß ich's wurde; vielleicht wär es besser gewesen, ich wurd es nicht. Aber ich bin es jetzt und kann den Schritt nicht rückwärts tun. Dies Schloß ist mein und sein Besitzantritt, wie du weißt, an keine Bedingung geknüpft; ich hab es zu freiem Eigentum. ›Also wieder mal eine »Freiheit«‹, wirst du[197] sagen. Aber diese Freiheit wenigstens will ich zu gebrauchen verstehen, und nur das soll geschehen, was mir ziemt.«

»Und glaubst du wirklich, daß dir als erstes geziemt, einen Rosenkranz, wenn auch verschämt, an deinen Gürtel zu stecken?«

»Ja, Hannah. Ich will nun Pflichten leben. Es soll dies nicht bloß mein Wittum, es soll auch mein Wirkungskreis sein, und ich kann hier nicht wirken als eine Fremde. Was dieser Leute Sinnen und Trachten ausmacht, muß auch mein Sinnen und Trachten ausmachen; wir müssen eins sein in diesen Dingen, sonst geht es nicht.«

Hannah antwortete nicht.

»Sprich. Was denkst du?«

»Was ich denke? Nun, Franziska, Gräfin, da du's durchaus wissen willst, was ich denke, so will ich dir's auch sagen. Ich denk an meinen Vater selig, den ich eines Abends, als er dachte, ich schliefe schon, in seinem Halbplatt zu meiner Mutter sagen hörte: ›Hür, Olling, mit uns oll Paster Franzen is dat nich veel. Hüt is he so, un morjen is he so.‹ Und als meine Mutter nun widersprach und zum Guten reden wollte, da wurd er ärgerlich und sagte: ›Nei, nei, Mutter, bis still; dat versteihst du nich; ick awer, ick kenn en. Un wenn morjen de Franzos or de Ruß kümmt un uns vörpriestern deiht, »mit uns Herrn Christus wihr dat man nix, und de heil'ge Niklas, de wihr ollens«, denn priestert oll Franzen övermorjen: »Un de heil'ge Niklas is ollens.«‹ Und sieh, Franziska, das hast du von deinem Vater selig geerbt. Aber ich will nicht, daß sich meiner im Grabe rumdreht. I, da ging' ich ja lieber bis an der Welt Ende. Weiß wohl, manchem is es bloß wenig. Aber manchem is es auch viel.«

»Und so willst du fort?«

»Nein. Ich hab dich nun mal in mein Herz geschlossen, und weil ich dich liebe, bleib ich. Aber bei meinem lutherischen Katechismus bleib ich auch.«

Am andern Morgen trafen sich die beiden Gräfinnen, und Gräfin Judith erzählte, sie habe Feßler um seinen Besuch auf[198] Schloß Arpa gebeten, in der Voraussetzung, daß Franziska diesen Schritt billigen werde.

Franziska küßte die Hand der alten Gräfin und sagte: »Nie werd ich Schritte mißbilligen, die Gräfin Judith getan hat oder zu tun für gut findet.«

Beide Damen sprachen dann noch über vieles, was zu regeln und anzuordnen sei, zuletzt aber sagte Judith: »Ich stimme dem zu, meine liebe Franziska, daß du dich zurückziehen und der Betrachtung und den guten Werken leben willst. Aber du bist noch jung, und der Zug in die Welt hinein ist mächtig. Und so denk ich denn, wir rechnen vorläufig noch mit der Welt, die so vielen Zauber hat. Ich habe dein Vertrauen gewonnen, fast deine Beichte; jede Scheidewand zwischen uns ist gefallen, und unser Fühlen und Denken gehört einander. Ist es nicht so? Nun denn, so gestatte mir schon heute die Frage: Wirst du Egon deine Hand reichen?«

»Ich wünsche, daß er sie nicht fordert, aber wenn er sie fordert: nein.«

»Es klingt etwas Herbes in deiner Antwort. Verdient er es?«

»Nein. Aber wir sind allemal hart gegen die, die schuld sind an unserer Schuld. Und um so härter, je schuldiger wir uns selber fühlen.«

»Und wer soll dich schützen?«

»Ich denke, sie, die schon so viele Gräfinnen Petöfy beschützt hat.«

Und sie wies auf die Nische, daraus das Bild der Maria niederblickte.

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 4, Berlin und Weimar 21973, S. 194-199.
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