Neuntes Kapitel
Untreuer Liebling

[202] Der andere Morgen sah die beiden Geschwisterpaare, Lewin und Renate und Tubal und Kathinka, beim Frühstück versammelt. Nach herzlicher Begrüßung und sich überstürzenden Fragen, die teils der Christbescherung im Ladalinskischen Hause, teils der gestrigen Reunion in Schloß Guse galten, wurden die Dispositionen für den Tag getroffen. Kathinka und Renate wollten auf der Pfarre vorsprechen, dann Marie zu einer Plauderstunde abholen, während die beiden jungen Männer einen Besuch in dem benachbarten Städtchen Kirch-Göritz verabredeten. Die Anregung dazu ging von Tubal aus, der in der Jenaer Literaturzeitung einen mit dem vollen Namen Doktor Faulstichs unterzeichneten Aufsatz »Arten und Unarten der Romantik« gelesen und sofort den Entschluß gefaßt hatte, bei seiner nächsten Anwesenheit in Hohen-Vietz den Doktor aufzusuchen.

Erst nach Regelung aller dieser Dinge kam das bis dahin hastig und sprungweise geführte Gespräch in einen ruhigeren Gang, und die Hohen-Vietzer Geschwister drangen jetzt in Tubal, ihnen von der durch Jürgaß improvisierten Weihnachtssitzung, besonders aber von Hansen-Grell, dieser jüngsten[202] Akquisition der »Kastalia«, zu erzählen. Auch Kathinka wollte von ihm hören.

»Ich werde schlecht vor eurer Neugier bestehen«, begann Tubal. »Es geht mein Wissen, trotzdem ich Jürgaß am ersten Feiertage gesprochen, nicht wesentlich über das hinaus, was ich in meinem langen Weihnachtsbriefe bereits geschrieben habe. Er ist unschön, von schlechtem Teint und hat wenig Grazie. Aber dieser Eindruck verliert sich, wenn er spricht. Manches an ihm erklärt sich aus seinem Namen, der als ein Abriß seiner Lebensgeschichte gelten kann. Sein Vater, ein einfacher Grell, in Gantzer gebürtig und ursprünglich Soldat, wurde, wer weiß wie, nach Dänemark verschlagen. Er heiratete daselbst, und zwar im Schleswigschen, eines wohlhabenden Handwerkers Tochter. In jenen Gegenden heißt alles Hansen; zugleich ist dort die Sitte verbreitet, den Kindern einen aus dem Familiennamen des Vaters und der Mutter gebildeten Doppelnamen mit auf den Lebensweg zu geben. So entstanden die Hansen-Grells. Einige Jahre später zog es den Vater, der inzwischen geschulmeistert, sich als Turmuhrmacher und Orgelspieler versucht hatte, wieder in sein märkisches Dorf zurück, und er schrieb an die Gutsherrschaft in Gantzer, in einem langen Briefe schildernd, wie groß sein Heimweh sei. Der alte Jürgaß, als er das las, war an seiner schwachen Stelle getroffen, und vier Wochen später trafen Grell und Frau nebst einer ganzen Kolonie von Hansen-Grells in Gantzer ein.«

»Und der alte Jürgaß schaffte Rat; dessen bin ich sicher«, warf Lewin dazwischen. »Es ist eine Familie, wie wir keine bessere haben. Ohne Lug und Trug. Sie sind mit den Zietens verschwägert und mit den Rohrs; von den einen haben sie die Hand, von den anderen das Herz.«

»Es ist, wie du sagst«, fuhr Tubal fort. »Es fand sich ein Haus, ein Amt, ein Streifen Land, und unser Hansen-Grell kam auf die Havelberger Schule. Als er aber halbwachsen war, wurde seiner Mutter Blut und Namen in ihm lebendig, und er erschien eines Tages bei den Großeltern in Schleswig. Er hatte die ganzen fünfzig Meilen zu Fuß gemacht. Es war[203] ein gewagtes Ding, aber es schlug ihm zum Guten aus, selbst in Gantzer, wo der alte Jürgaß dem alten Grell auseinandersetzte, daß jeder Mensch, aus dem etwas geworden sei, der eine früher, der andere später, eine Desertion begangen habe. Selbst Kronprinz Friedrich. In der Großeltern Haus wuchs inzwischen unser Hansen-Grell heran und ging nach Kopenhagen; es war dasselbe Jahr, in dem die Engländer die Stadt bombardierten. Einzelne Vorgänge, die seiner Umsicht wie seinem Mut ein gleich glänzendes Zeugnis ausstellten, führten ihn als Erzieher in das Haus eines Grafen Moltke, in dem er glückliche Jahre verlebte. Seine skandinavischen Studien fallen in diese Zeit. Als aber Schill, dessen Auftreten er mit glühendem Patriotismus verfolgt hatte, von dänischen Truppen umstellt und dann in den Straßen Stralsunds zusammengehauen wurde, kam der Grell in ihm so nachdrücklich heraus, daß er, übrigens unter Fortdauer guter Beziehungen zu dem Moltkeschen Hause, seine Kopenhagener Stellung aufgab und ins Brandenburgische zurückkehrte.«

»Es überrascht mich«, bemerkte Lewin, »nie früher von ihm gehört zu haben. Wo war er all die Zeit über? Unser Jürgaß zählt sonst nicht zu den Schweigsamen.«

»Ich möchte vermuten, daß er seine Zeit zwischen literarischen Beschäftigungen in Berlin und Aushilfestellungen auf dem Lande teilte. Dann und wann war er in Gantzer. In Stechow, wenn ich recht verstanden habe, hat er gepredigt. Im übrigen wird er vor Ablauf einer Woche meine Mitteilungen vervollständigen können. Und wenn nicht er, so doch jedenfalls Jürgaß, der, während er ihn ironisch zu behandeln scheint, eine fast respektvolle Vorliebe für ihn hat. Er rühmt vor allem sein Erzählertalent, wenn es sich um skandinavische Naturbilder oder um die Schilderung persönlicher Erlebnisse handelt. Schon in dem ›Hakon Borkenbart‹, den er uns vorlas, trat dies hervor. Es war mir interessant, mit welcher Aufmerksamkeit Bninski folgte, erst dem Gedichte, dann dem Dichter, vielleicht noch mehr dem Menschen. Aber ich entsinne mich, ich schrieb schon davon.«[204]

»Es will mir scheinen, Tubal«, nahm hier Kathinka das Wort, »daß du dem Grafen deine persönlichen Empfindungen unterschiebst. Er verlangt Schönheit, Form, Esprit, alles das, was dieser nordische Wundervogel, in dem ich schließlich eine Eidergans vermute, nicht zu haben scheint. Bninski ist durchaus für südliches Gefieder. Er hat gar kein Verständnis für preußische Kandidaten- und Konrektoralnaturen, die nie prosaischer sind, als wo sie poetisch oder gar enthusiastisch werden.«

»Da verkennst du den Grafen doch«, erwiderte Tubal, und Lewin setzte mit einer Verbeugung gegen die schöne Cousine hinzu: »Ich muß auch widersprechen, Kathinka; Bninskis Neigungen gehen den Weg, den du beschrieben hast, aber er ist zugleich eine tiefer angelegte Natur, und es dämmert in ihm die Vorstellung, daß es gerade die Hansen-Grells sind, die wir vor den slawischen Gesellschaftsvirtuosen, vor den Männern des Salonfirlefanzes und der endlosen Liebesintrige voraushaben. Übrigens ist es Zeit, unser Thema abzubrechen. Kirch-Göritz ist eine Stunde, und die Tage sind kurz. Wir nehmen doch die Jagdflinten? Möglich, daß uns ein Hase über den Weg läuft.«

Tubal stimmte zu. Ihr Adieu für den Moment ihres Aufbruchs sich vorbehaltend, verließen beide Freunde das Zimmer, um sich für ihre Jagd- und Gesellschaftsexpedition zu rüsten.

Auch die jungen Damen standen auf, und Renate begann die Brotreste zu verkrumeln, mit denen sie jeden Morgen ihre Tauben zu füttern pflegte.

Kathinka, in einem enganschließenden polnischen Überrock von dunkelgrüner Farbe, der erst jetzt, wo sie sich erhoben hatte, die volle Schönheit ihrer Figur zeigte, war ihr dabei behilflich. Alles, was Lewin für sie empfand, war nur zu begreiflich. Ein Anflug von Koketterie, gepaart mit jener leichten Sicherheit der Bewegung, wie sie das Bewußtsein der Überlegenheit gibt, machten sie für jeden gefährlich, doppelt für den, der noch in Jugend und Unerfahrenheit stand. Sie war um einen[205] halben Kopf größer als Renate; ihre besondere Schönheit aber, ein Erbteil von der Mutter her, bildete das kastanienbraune Haar, das sie, der jeweiligen Mode Trotz bietend, in der Regel leicht aufgenommen in einem Goldnetz trug. Ihrem Haar entsprach der Teint und beiden das Auge, das, hellblau, wie es war, doch zugleich wie Feuer leuchtete.

»Sieh«, sagte Renate, während sie mit einer Schale voll Krumen auf das Fenster zuschritt, »sie melden sich schon.« Und in der Tat hatte sich draußen auf das verschneite Fensterbrett eine atlasgraue Taube niedergelassen und pickte an die Scheiben. »Das ist mein Verzug«, setzte sie hinzu und drehte die Riegel, um die Krumen hinauszustreuen. Kathinka war ihr gefolgt. In dem Augenblick, wo das Fenster sich öffnete, huschte die schöne Taube herein, setzte sich aber nicht auf Renatens, sondern auf Kathinkas Schulter und begann unter Gurren und zierlichem Sich drehen ihren Kopf an Kathinkas Wange zu legen.

»Untreuer Liebling!« rief Renate, und in ihren Worten klang etwas wie wirkliche Verstimmung.

»Laß«, sagte Kathinka. »Das ist die Welt. Untreue überall; auch bei den Tauben.«

In diesem Momente traten die beiden Freunde wieder ein, um sich, wie angekündigt, bei den jungen Damen bis auf Spätnachmittag zu empfehlen. Sie trugen Jagdröcke, Pelzkappen, hohe Stiefel, dazu die Flinten über die Schulter gehängt. »Nehmen wir einen Hund mit?« fragte Tubal.

»Nein. Tiras lahmt, und Hektor scheucht alles auf und bringt nichts zu Schuß. Das beste Tier und der schlechteste Hund.« So brachen sie auf.

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21973, S. 202-206.
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