XXII

[689] Antwerpen


Wie froh ich bin, daß unsere Pferde nach Rotterdam nun endlich auf morgen früh bestellt sind! Ein längerer Aufenthalt unter diesen Andächtlern könnte wirklich die heiterste Laune vergiften. Noch nie habe ich die Armuth unserer Sprachen so tief empfunden, als seitdem ich hier von den Menschen um mich her mit den bekanntesten Wörtern eine mir ganz fremde Bedeutung verbinden höre. Man liefe Gefahr gesteinigt zu werden, wenn man sich merken ließe, daß die Freiheit noch in etwas anderem bestehen müsse, als van der Noots Bildniß im Knopfloche zu tragen, daß Religion etwas mehr sey, als das gedankenlose Gemurmel der Rosenkranzbeter. Die traurigste Abstumpfung, die je ein Volk erleiden konnte, ist hier die Folge des verlornen Handels. Selbst im Äußern zeigt die hiesige Race nichts Empfehlendes mehr. Am Sonntage sah ich in den verschiedenen Kirchen über die Hälfte der Einwohner versammelt, ohne nur ein Gesicht zu finden, auf dem das Auge mit Wohlgefallen geruhet hätte. Leere und Charakterlosigkeit, die in Brabant überhaupt so durchgehends herrschen, äußern sich hier in einer noch unschmackhafteren Gestalt als anderwärts, und nicht einmal eine Varietät in der Kleidertracht zieht die Aufmerksamkeit von dieser Ausartung der menschlichen Natur hinweg. Mit dem gehemmten Geldumlauf mußte die Industrie zugleich ins Stocken gerathen, und außer einigen Salz- und Zuckerraffinerien, einer Sammetfabrik und ein paar Baumwollenmanufakturen, enthält diese große Stadt keine hinreichende Anstalt, um die Hände der geringen Volksklasse zu beschäftigen. Die schönen breiten Straßen sind leer und öde, wie die zum Theil sehr prächtigen, massiven Gebäude; nur an Sonn- und Festtagen[689] kriecht die träge Menge aus ihren Schlupfwinkeln hervor, um an den zahlreichen Altären die Sünde des Müßigganges durch einen neuen abzubüßen. Die Klerisei beherrscht dieses erschlaffte Volk mit ihren einschläfernden Zauberformeln; denn nur die Andacht füllt die vielen müßigen Stunden aus, die nach dem Verlust des Handels ihm übrig blieben. Die Wissenschaften, die einst in Antwerpen blühten, sind bis auf die letzte Spur verschwunden. Die Niederländischen Künste, deren goldenes Zeitalter in die Periode der gehemmten merkantilischen Thätigkeit fiel, wurden nur auf kurze Zeit von dem brachliegenden Reichthum zu ihrer größten Anstrengung gereizt; es währte nicht lange, so fand der Kapitalist, der seine Gelder nicht an auswärtige Spekulationen wagte, die Fortsetzung eines Aufwandes mißlich, der zwar, gegen seine Millionen gerechnet, mäßig scheinen konnte, aber gleichwohl ein todtes Kapital allmälig aufzehrte. Antwerpen also ist nicht bloß erstorben in Absicht des Handels, sondern auch der ungeheure Reichthum, den einzelne Familien noch daselbst besitzen, verursacht nicht einmal die kleine Cirkulation des Luxus. Der reichste Mann bringt seine Nachmittage, von Mönchen und Pfaffen umgeben, bei einer Flasche von Löwenschem Biere zu, und bleibt jedem andern Zuge der Geselligkeit verschlossen. Die Privatsammlungen von Gemälden schmelzen je länger je mehr zusammen, indem viele der vorzüglichsten Meisterwerke an auswärtige Besitzer gekommen sind, und selbst der Überfluß an Diamanten und anderen Juweelen, weswegen Antwerpen so berühmt ist, wird in Kurzem nicht mehr bedeutend seyn; denn man fängt an, auch diese Kostbarkeiten zu Gelde zu machen.

Was der Eigennutz nicht mehr vermochte, das hat die Geistlichkeit noch bewirken können; sie hat diesen Klötzen Leben und Bewegung eingehaucht und sie bis zur Wuth und Tollkühnheit für das Hirngespinst ihrer Freiheit begeistert. Ein Hirngespinst nenn' ich es; nicht, daß ich vergessen könnte, im Empörer das Gefühl der beleidigten Menschheit zu ehren, sondern weil Josephs Alleinherrschaft menschlicher noch war, als die Oligarchie der Stände, und weil seit der Revolution die Befreiung des Volkes unmöglicher als zuvor geworden ist. Wer die Räthsel des Schicksals lösen mag, der sage mir nun,[690] warum dieser furchtbare Gährungsstoff von unübertreflicher Wirksamkeit, warum die Religion, in den Händen der hiesigen Priester das Wohl und die Bestimmung ihrer Brüder immer nur hat vereiteln sollen? Welch eine wohlthätige Flamme hätte man nicht durch dieses Zaubermittel anzünden und nähren können im Busen empfänglicher, lehrbegieriger, folgsamer Menschen! Wie reizend wäre das Schauspiel geworden, wo Beispiel und Lehre zugleich gewirkt und in reiner Herzenseinfalt die zarten Keime des Glaubens gereift hätten zu vollendeten Früchten menschlicher Sittlichkeit! Daß der Mißbrauch jener an Stärke alles übertreffenden Triebfeder, indem er endlich der Humanität mit gänzlicher Vernichtung droht, die hartnäckigste Gegenwehr veranlassen, daß in diesem Kampfe die kalte, unbestechliche Vernunft sich aus ihren Banden freiwickeln, und den menschlichen Geist auf ihrer Kometenbahn mit sich fortreißen muß, wo er nach langem Umherkreisen zuletzt im Bewußtseyn seiner Beschränktheit, durch neue Resignation sich seinem Ziele wieder zu nähern strebt – das rechne man den Priestern nirgends zum Verdienst. Das Gute, was ihren Handlungen folgte, das wirkten sie von jeher als blinde Werkzeuge einer höheren Ordnung der Dinge; ihre eigenen Absichten, ihre Plane, alle Äußerungen ihres freien Willens waren immer gegen die moralische Veredlung und Vervollkommnung ihrer Brüder gerichtet. Hier, wo ihr Werk ihnen über Erwartung gelungen ist, wo der Aberglaube in dem zähen, trägen Belgischen Temperament so tiefe Wurzel geschlagen und jedem Reis der sittlichen Bildung den Nahrungssaft ausgesogen hat, hier wird man einst desto kräftiger dem hierarchischen Geiste fluchen. Je länger sich die Erschütterung verspätet, um so viel zerrüttender dürfte sie werden, sobald die Sonne der Wahrheit auch über Brabant aufgeht. Die Hartnäckigkeit der Phlegmatiker bezwingt nur ein gewaltsamer Schlag, wo die Beweglichkeit eines leichter gemischten Blutes gelinderen Berührungen schon gehorcht.

Mit geweiheten Hostien, mit Sündenerlassungen und Verheißungen jenseits des Grabes, mit der ganzen Übermacht ihres Einflusses auf die Gewissen, und, um ihrer Sache sicher zu seyn, auch mit jenem vor Oczakow erprobten Begeisterungsmittel,[691] mit reichlich gespendetem Branntwein, haben die Mönche von Antwerpen ihre Beichtkinder zur Freiheitswuth berauscht. Der Ausschuß von Breda ward von hier aus mit großen Geldsummen unterstützt, wozu theils die Kapitalisten und Kaufleute, theils die reichen Prälaten selbst das Ihrige beitrugen. Schon dieser Eifer giebt den Maaßstab für die Größe des Gegenstandes, den sie sich erkämpfen wollten; einen noch bestimmteren haben wir an der Summe, die sonst jeder neu er nannte Prälat bei seinem Antritt dem Kaiser erlegen mußte: der Abt zu St. Michael, hier in der Stadt, opferte achtzigtausend, der zu Tongerloo hundert und dreißigtausend, und der zu Everbude hundert und funfzigtausend Gulden. Diesen Tribut hat die neue Regierung der Stände abgeschafft; dem so eben erwähnten Abt zu St. Michael ist bereits dieses Ersparniß zu Gute gekommen, und wie er es anzuwenden wisse, beweiset die prachtvolle, wollüstige Meublirung seiner Apartements. Der königliche Schatz, den man in Brüssel bei Trautmannsdorfs Flucht erbeutete, und die Abgaben des Volkes, die seit der Revolution um nichts erleichtert worden sind, haben den Prälaten ihre Vorschüsse mit Wucher ersetzt. Wenn also das Land von der neuen Staatsveränderung einigen Vortheil genießt, so kann er nur darin bestehen, daß die sieben, oder, nach anderen Nachrichten, gar zwölf Millionen Gulden, die sonst jährlich nach Wien geschleppt wurden, nun hier bleiben und wegen der Kriegsrüstungen in Umlauf kommen müssen. Wie viel indeß von diesem Gelde auch noch jetzt auf Schleifwegen ins Ausland geht, wo diejenigen, die es sich zuzueignen wissen, ihrem Patriotismus unbeschadet, es sicherer als in Brabant glauben, wage ich nicht so nachzusprechen, wie ich es hier erzählen hörte. Schon allein die Einnahme der Citadelle von Antwerpen soll ungeheure Summen gekostet haben, die in Gestalt eines goldenen Regens den Belagerten zu Theil geworden sind.

Der Macht der Belgischen Klerisei hat diese Eroberung die Krone aufgesetzt. Die Festung war mit allen Kriegsbedürfnissen und mit Lebensmitteln auf Jahre lang reichlich versehen, und was ihre Mauern nicht in sich faßten, hätte sie zu allen Zeiten durch angedrohte Einäscherung der Stadt erhalten[692] können; denn ihre Batterien bestrichen alle Quartiere, und sachkundige Männer von beiden Parteien kommen darin überein, daß sie nicht anders als durch eine regelmäßige Belagerung bezwungen werden konnte. Bei der allgemeinen Überzeugung von ihrer Unbezwingbarkeit war die Übergabe ein Wunder in den Augen des Volkes; Vornehme sowohl als Geringe glaubten hier deutlich Gottes Finger und seine Begünstigung der Revolution zu sehen. Ihre Priester hatten sie zu diesem Glauben vorbereitet und gestimmt; sie bestärkten ihn jetzt und fachten ihn an zur lodernden Flamme. Vom Tage der Capitulation an, bemächtigte sich ein Schwindel, der zum Theil noch fortdauert, aller Köpfe, und am Tage der Übergabe liefen aus den umliegenden Dörfern mehr als zehntausend bewaffnete Bauern zusammen, um Augenzeugen des neuen Wunders zu seyn. Noch jetzt sehen wir auf allen Straßen von Antwerpen hohe Mastbäume stehen, mit den drei Farben der Unabhängigkeit, roth, gelb und schwarz angestrichen; von ihrer Spitze wehen Wimpel und Flaggen mit allerlei geistlichen Devisen und biblischen Sprüchen, und ganz zu oberst hängt der große, schirmende Freiheitshut. Im Taumel der Freude über den glücklichen Erfolg der Belgischen Waffen hatten die Antwerper diese Siegeszeichen errichtet und ausgelassen um sie herumgetanzt; allein, was halfen ihnen ihr Wunderglaube und ihr sinnbildernder Rausch? Statt des edlen Selbstgefühls, statt des Bewußtseyns angeborner Rechte, womit die Herzen freier Menschen hoch emporschlagen müssen, regte sich in ihnen nur blinde Vergötterung ihrer neuen Regenten; wo andere Völker aus eigenem innerem Triebe, kühn, stolz und freudig riefen: »es lebe die Nation!« da lernten sie erst von Mönchen ihre Losung: »es lebe van der Noot!«

Unsern Wunsch, die Citadelle selbst in Augenschein zu nehmen, konnte man für diesesmal nicht befriedigen; ein Verbot der Stände macht sie jetzt, wegen des dahin geführten Staatsgefangenen, van der Mersch, allen Fremden unzugänglich. Zwar versprach uns ein hiesiger Kaufmann, der zugleich eine wichtige Demagogenrolle spielte, uns den Eingang zu gestatten, wenn wir noch einige Tage länger bleiben wollten, bis er nämlich die Wache dort hätte; allein die Befriedigung der[693] bloßen Neugier war ein so großes Opfer nicht werth. Uns hatte vielmehr alles, was wir bisher in den Niederlanden gesehn und gehört und die Hunderte von politischen Zeitschriften, die wir hier gelesen hatten, bereits die feste Überzeugung eingeflößt, daß in dieser gährenden Masse, statt aller Belehrung für den Menschenforscher, nur Ekel und Unmuth zu gewinnen sei, und wir beneideten diejenigen nicht, die, um den Kreis ihres Wissens zu erweitern, (mit einem apokalyptischen Ausdruck) des Satans Tiefen ergründen mögen. Wenn in irgend einem Lande der Geist der Zwietracht ausgebrochen ist, dann richtet die Vernunft, ohne alles Ansehen der Person, nach ihren ewig unumstößlichen Gesetzen, auf wessen Seite Recht, und was die gute Sache sei; es darf sie dann nicht irre machen, daß die erhitzten Parteien gemeiniglich ein verzerrtes Bild des moralischen Charakters ihrer Gegner mit ihren Gründen zugleich in ihre Schale werfen. Auf einem weit größeren Schauplatz, im aufgeklärten Frankreich selbst, ist dieser schlaue Unterschleif nicht immer vermeidlich, obwohl auch dort die scheinheilige Verläumdung, der Meuchelmord des guten Namens, die allgemeine, schwankende Beschuldigung der Unsittlichkeit und des Unglaubens, die leidenschaftliche Wehklage über Entweihung der Heiligthümer, Zernichtung der Vorrechte, Raub des Eigenthums, nur von der Einen Seite kommen, die jederzeit den strengen, kaltblütigen Erörterungen der Vernunft durch diese Wendung ausgewichen ist. Allein unter den Vorwürfen und Rekriminationen der Belgischen Parteien verschwindet sogar die Frage von Recht. Die augenscheinliche Unfähigkeit sowohl der Kaiserlich als der Ständisch Gesinnten, mit ruhiger Darlegung der Gründe ihre Sache zu führen, erhellt aus ihren gegenseitigen, größtentheils bis zur Evidenz dokumentirten, persönlichen Invektiven, und zeugt von jenem allgemeinen Gräuel der Pfaffenerziehung, die hier alle Gemüther tief hinunter in den Pfuhl der Unwissenheit stürzte und in ihnen durch Sündentaxen alles moralische Gefühl erstickte. Wo Verbrechen und Laster nur so lange das Gewissen drücken, bis eine mechanische Büßung und das absolvo te es rein gewaschen haben, da scheinen sie nur schwarz, wenn man sie an der Seele des Nächsten kleben sieht; wo man durch jene, allen[694] feil gebotene Mittel die Gottheit leicht versöhnen kann, da nimmt man auf die beleidigte Menschheit beim Sündigen keine Rücksicht; Ehre folglich und Schande hören dort auf, die Triebfedern des Handelns zu seyn, und bald verliert sich sogar jede richtige Bestimmung dieser Begriffe. Was diese Menschen einander seyn können, lasse ich dahingestellt; aber ohne Geisteskräfte, die man bewundern, ohne Ausbildung, die man schätzen, ohne Herzen, die man lieben darf, sind sie dem Wanderer todt, der traurend eilt aus ihren Gränzen zu treten.

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 2, Leipzig [1971], S. 689-695.
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