XXIII

[695] Haag


Wir verließen Antwerpen, wie wir hineingekommen waren, ohne daß man uns die gewöhnlichen Fragen im Thore vorgelegt hätte; auch hatte man uns auf der ganzen Reise durch Brabant, Hennegau und Flandern nur Einmal nach unseren Pässen gefragt. Ich will glauben, daß diese Sorglosigkeit unserm unverdächtigen Aufzug Ehre macht; denn man hat Beispiele genug, daß die neuen Souveraine von Belgien gegen den Charakter der durchreisenden Fremden nicht gleichgültig geblieben sind.

Kaum waren wir eine Strecke gefahren, so befanden wir uns schon auf einer traurigen, weit ausgebreiteten Heide, wo das Auge nur am Horizont und in sehr großen Entfernungen von einander etliche Kirchthürme entdeckte. Harte, dürre Gräser, Heidekraut, einzelne zerstreute Birken und kleine Gruppen von jungen Fichten waren die einzigen Pflanzenarten dieser öden, sumpfigen, versandeten Ebene, die uns lebhaft an gewisse Gegenden des nördlichen Deutschlands und Preußens erinnerte. In Zeit von sieben Stunden befanden wir uns auf Holländischem Gebiet. Die Einwohner eines Dörfchens, wo man unsere Pferde füttern ließ, hatten häßliche, scharfgeschnittene Physiognomien, die aber viel Munterkeit und Thätigkeit verriethen; insbesondere bemerkten wir einige flinke, rasche Dirnen, die sich des Kutschers und der Pferde mit gleichem Eifer annahmen und mit der Brabantischen Schlaffheit sehr zu ihrem Vortheile kontrastirten.[695]

Der sandige Weg ging auf dem Rücken eines hohen Dammes bis nach dem kleinen Städtchen Zevenbergen, welches unweit des Busens liegt, der hier den Namen Hollands Diep erhält. Nach allen Seiten hin öffnete sich uns jetzt eine freundliche Aussicht: an einer Stelle war der Horizont seewärts unbegränzt; die Menge der hin und her segelnden kleineren und größeren Fahrzeuge, die Fischerleute in ihren Kähnen, die Seevögel, die in großen Zügen über der Fläche des Wassers kreuzten, die langen Weidenalleen, die darüber hinaus ragenden Kirchthurmspitzen und rothen Dächer in der Ferne, machten zusammen einen angenehmen Effekt. Zu Moerdyk, das nur aus wenigen Häusern besteht, fuhren wir über den Hollands Diep und erinnerten uns an die furchtbare Überschwemmung im funfzehnten Jahrhundert, (1421) die hier einen Bezirk von zwei und siebenzig Dörfern verschlang, ein Meer an ihrer Stelle zurück ließ und Dordrecht vom festen Lande trennte. Auch an den jungen Prinzen von Oranien, Johann Wilhelm Friso, erinnerten wir uns, der (1711) im vier und zwanzigsten Lebensjahr auf eben der Fahrt, die wir jetzt glücklich zurücklegten, ertrunken ist.

Jenseits des Busens zerstreute der Anblick des ersten saubern Holländischen Dorfes diese trüben Erinnerungen. Reinliche, nette Häuserchen, Straßen mit Kanälen durchschnitten, an den Seiten mit Linden bepflanzt und überall mit Klinkern oder kleinen Backsteinen gleichförmig und niedlich, wie bei uns zuweilen der Boden des Vorsaals, gepflastert, und was diesem Äußern entsprach, gesunde, gut gekleidete, wohlhabende Einwohner, gaben uns in Stryen das Zeugniß, daß wir auf dem Boden der wahren, nicht der eingebildeten Freiheit, und im Lande des Fleißes angekommen wären. Drei starke, wohlgenährte Pferde waren nöthig, uns auf dem schweren Wege fortzubringen, der an manchen Stellen so tiefe Geleise hatte, daß wir dem Umwerfen nahe waren. Als wir aber hernach durch das Dorf Haaringsdyk fuhren, das wenigstens eine halbe Stunde lang und wie eine Tenne mit Klinkern gepflastert ist, freueten wir uns wieder des reizenden Wohlstandes, der uns auf allen Seiten anlachte, und des Landes, wo der Mensch seine Bestimmung, des Lebens froh zu werden, erreicht, wo der gemeinste Bauer die Vortheile[696] einer gesunden und bequemen Wohnung genießt, wo er auf dem beneidenswerthen Mittelpunkte zwischen Noth und Überfluß steht. Kann man diese Menschen sehen und fragen, ob es besser sei, daß mit dem Blut und Schweiße des Landmannes, der in elenden Hütten sein kümmerliches Leben hinbringt, die stolzen Palläste der Tyrannen zusammengekittet werden?

Nachdem wir über die so genannte alte Maas, vermuthlich ihr ehemaliges einziges, jetzt aber zu einem schmalen Arm geschwundenes Bett, gekommen waren, befanden wir uns gegen zehn Uhr Abends an dem Ufer der eigentlichen Maas, zu Kattendrecht, wo wir die Stätte von Rotterdam durch eine unendliche Reihe von Laternen längs dem jenseitigen Ufer bezeichnet sahen. Die späte Stunde bewog uns indeß, diesseits in einem kleinen, ländlichen Gasthofe zu bleiben, wo die einfache aber gesunde Bewirthung unserm müden, hungrigen und vom Nordostwinde beinahe vor Kälte starrenden Körper wohl zu Statten kam. Hier setzten wir uns um den gemeinschaftlichen Feuerherd, und freueten uns der altmodigen Simplicität des Hausherrn und seiner Tischgenossen. Man bewillkommte uns mit Herzlichkeit, zog uns die Stiefeln ab und präsentirte jedem ein Paar Pantoffeln, die wenigstens dreimal schwerer als die Stiefeln waren. Die treuherzige Güte des Wirtes bewog ihn, mir die besondere Gefälligkeit zu erweisen, seine Pantoffeln, weil sie schon ausgewärmt wären, von den Füßen zu ziehen, um sie meinem Gebrauch zu überlassen. Das geringste, was ich thun konnte, war wohl, mich zu hüten, daß ich ihn nicht merken ließe, seine gut gemeinte Höflichkeit könne nach den Satzungen der feinen Welt ihm vielleicht gar zum Verstoß ausgelegt werden. Was hatte ich auch zu befürchten in diesem Wohnort der Gesundheit und Reinlichkeit? Unsere eklen Sitten zeugen oft nur von ihrem gränzenlosen Verderben. Die für lecker gehaltenen Kibitzeier, nebst Seefischen und Kartoffeln, machten unsere Abendmahlzeit aus, wozu wir den Wirth seine Flasche Wein, die übrige Familie aber gutes Bier trinken sahen. Das Schlafzimmer, welches man uns einräumte, war zugleich das Prunkzimmer dieser Leute. Auf allen Seiten und insbesondere über dem Kamin, waren eine Menge zierlich[697] geschnitzter und bemalter Brettchen über einander befestigt, worauf die irdene Waare von Delft, sauber und zierlich in Reihen geordnet, die Stelle der schlechten Kupferstiche vertrat, womit man bei uns die Wirthsstuben zu verzieren pflegt.

Daß ich den ersten schönen, warmen Frühlingsmorgen nicht vergesse, den wir auf unserer Reise noch genossen haben, bedarf keiner Entschuldigung bei den Vertrauten der heiligen Frühe. Könnte ich nur auch den Reichthum der Aussicht beschreiben, die wir, von der Morgensonne beleuchtet, aus unserm Fenster, über das kleine Gärtchen des Wirthes hinaus, erblickten. Der lebendige Strom, fast eine Englische Meile breit, floß sanft vorbei in leichten, versilberten Wellen, und trug auf seiner Azurfläche das hundertfältige Leben der Schiffe, der Brigantinen, der Schnauen, der kleineren Fahrzeuge von aller Art, die hinauf- und hinabwärts, oder hinüber und herüber segelten und ruderten, mit mannichfaltiger Richtung, Schnitt und Anzahl ihrer Segel, langsam gegen die Fluth an, oder pfeilschnell mit Wind und Strom und Fluth zugleich sich bewegten, oder auch mit eingezogenen Segeln und schwanken Masten, malerisch gebrochen durch die Horizontallinie der Raaen und den Wald von Tauwerk, in des Flusses Mitte vor Anker lagen. Jenseits, im Sonnenglanze, hoben sich nah und deutlich die Gebäude von Rotterdam über dem Wasser; der große, viereckige Pfarrthurm, die weitläuftigen Admiralitätsgebäude, der herrliche, mit hohen Linden auf eine Stunde Weges besetzte Damm, der das Ufer begränzt, die Menge zwischen den Häusern hervor ragender Schiffsmasten, die unzähligen Windmühlen in und neben und jenseits der Stadt, zum Theil auf hohen thurmähnlichen Untersätzen errichtet, um den Wind besser zu fangen; endlich, die Vorstädte von Landhäusern und Gärten, die links und rechts in langer Reihe längs dem Strome sich erstrecken!

Wir eilten, uns über den Fluß setzen zu lassen, und brachten den Tag damit zu, die Stadt kennen zu lernen und sie ganz zu umgehen, welches einer der angenehmsten Spaziergänge ist, die man sich denken kann. Der Umfang von Rotterdam ist mittelmäßig, und seiner reinlichen Schönheit und Niedlichkeit haben die Reisenden nur Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wenn man sich seinen Wohnort wählen könnte, so käme[698] die Straße am Hafen und längs der Maas, die so breit und mit majestätischen Ulmen und Linden so köstlich beschattet ist, gewiß unter die Zahl der Competenten, die mir die Wahl erschweren würden. Die Aussicht auf den Fluß ist wirklich so anlockend, daß man sich kaum daran satt sehen kann. Nach der Landseite hin bemerkten wir eine Menge Leinwandbleichen, eine größer und schöner als die andere, und in der Stadt selbst freute uns das Gewühl am Hafen, auf den Straßen und in den Kanälen; abgehende, ankommende Schiffe, Hunderte von befrachteten Kähnen, große so genannte Prahmen, reihenweis gestellt, um den Schlamm der Kanäle aufzunehmen und sie schiffbar zu erhalten; Karren, Schleifen, Schiebkarren, Träger, rollende Fässer, Ballen von Waaren, das Zeichen des Betriebes und der Handelsgeschäftigkeit; dann auf der kleinen, netten Börse und in den Kaffeehäusern umher, die ein- und ausströmenden Schaaren von Kaufleuten, Mäklern, Schiffskapitainen und Fremdlingen aus allen Welttheilen, ein Bild der friedlichen Vereinigung des Menschengeschlechtes zu gemeinsamen Zwecken des frohen, thätigen Lebensgenusses!

Hier war es nicht leicht möglich, an äußeren Merkmalen den tiefen, unheilbaren Verfall des Holländischen Handels zu erkennen, der gleichwohl seit dem Jahre 1779 durch eine in ihrer Art einzige Reihe von Unglücksfällen beschleunigt worden ist. In den hundert Jahren, die seit der Ermordung der beiden großen de Wits (1672) verflossen sind, hatten die wiederholten Kriege mit Ludwig dem Vierzehnten, und die unter Wilhelm dem Dritten und seinen Nachfolgern so schnell empor wachsende Handelsgröße von England, die Einschränkung des Holländischen Handels allmälich bewirkt und seinen jetzigen Verfall unmerklich vorbereitet. Die Neutralität der Niederlande während des siebenjährigen Krieges eröffnete ihnen eine Zeitlang vortheilhaftere Aussichten, die sich mit noch größeren Hoffnungen beim Ausbruch der Streitigkeiten zwischen England und seinen Kolonien erneuerten. Als Frankreich und Spanien sich für die Unabhängigkeit von Nordamerika erklärten und Rußland seine bewaffnete Neutralität ersann, der die Mächte des Europäischen Nordens so folgsam beitraten, stieg der Handelsflor der vereinigten Provinzen[699] plötzlich auf eine Höhe, wo sie das Maaß ihrer politischen Kräfte verkennen lernten. Die unvorsichtigen Verbindungen mit Frankreich reizten die Englische Nation zu einem Kriege, wobei für sie augenscheinlich mehr zu gewinnen als zu verlieren war. Der Erfolg rechtfertigte die politische Nothwendigkeit dieser Maaßregeln. Funfzig Millionen Gulden an Werth, das Eigenthum der Republik, waren in unbewaffneten Kauffahrern auf dem Meere, und die größere Hälfte dieser reichen Beute ward den Englischen Kapern und Kriegesschiffen zu Theil. St. Eustathius, Essequebo und Demerary fielen in Amerika, so wie Negapatnam in Ostindien, den Engländern in die Hände, und das Brittische Kabinet hatte noch überdies einen so entschiedenen Einfluß in die Administration der Niederländischen Affairen, daß die nach Brest bestimmte Holländische Hülfsflotte zum offenbaren Nachtheil des Staates nicht auslaufen durfte. Kaum war der demüthigende Friede mit England wieder hergestellt, so mußte man dem Kaiser noch größere Opfer bringen, um ihm das reklamirte Recht der freien Scheldefahrt von neuem abzukaufen. Die Millionen, womit man ihn für seine Forderung entschädigte; die Millionen, welche die Zurüstung zu einem Landkriege verschlungen hatte; die lange Gewohnheit der reichen Kapitalisten, ihr baares Geld außer Landes zu verleihen, anstatt es im vaterländischen Kommerz in Umlauf zu bringen; und mehr als alles noch, der verderbliche Nothbehelf während des Krieges mit England, unter fremder Flagge zu fahren, wodurch ein großer Theil des Zwischenhandels in andere Kanäle kam und auf immer für Holland verloren ging: alles vereinigte sich, um nicht nur in den Schatzkammern des Staates eine gänzliche Erschöpfung zu verursachen, sondern auch den Stillstand der Geschäfte zu bewirken, und in der allgemeinen Trauer, in der erzwungenen Ruhe, die Erbitterung der Parteien, die einander die Schuld beimaßen, aufs Höchste zu spannen. Auf der einen Seite die hartnäckige Verblendung der Handelsstädte, womit sie auf ihrem Bündniß mit Frankreich bestanden, ohne dessen nahen Sturz, durch die gänzliche Zerrüttung seiner Finanzen, vorher zu sehen; auf der andern die strafbare Anmaßung gewisser Staatsbeamten, die Allianz, die sie nicht mehr verhindern[700] konnten, durch Ungehorsam gegen ihren Souverain, Verrath des nun einmal zum Staatsinteresse angenommenen Systems und widerrechtliche Versuche gegen die Freiheit der Verfassung selbst, allmälich zu untergraben: dies waren die Extreme, deren Wiedervereinigung sich ohne Blutvergießen nicht länger vermitteln ließ. Der Ausbruch des Bürgerkrieges und die bewaffnete Dazwischenkunft des Königes von Preußen füllten das Maaß der Leiden, welche über die Republik verhängt zu seyn schienen, und raubten ihr, was die Versehen einer kurzsichtigen Staatskunst noch verschont hatten: den häuslichen Wohlstand und den innern Frieden der Familien. Selbst nach dem Abzuge der Preußen verschlang die Überschwemmung vom Jahre 1788, wel che von den im vorigen Jahre durchstochenen Dämmen nicht länger abgewehrt werden konnte, in vielen Gegenden von Holland die aus den Verwüstungen eines feindlichen Überzuges mit Noth gerettete Habe; zwei andere Überschwemmungen, die auf jene noch im Jahre 1789 folgten, verursachten bei Gorkum und an anderen Orten einen Schaden von einer halben Million; und endlich forderte die Zerrüttung der öffentlichen Finanzen eine außerordentliche Hülfe, welche durch die auferlegte Schatzung des fünf und zwanzigsten Pfennigs erzwungen ward und wovon ein nicht geringer Theil in die Privatkassen der Partei geflossen ist, welche in diesem für Hollands Flor so unglücklichen Kampfe die Oberhand behalten hat. Die unweise Rache einer unvollkommenen Amnestie und die darauf erfolgten häufigen Auswanderungen vieler begüterten Familien vollenden dieses Gemälde der Zerstörung, dessen Folgen schon im nahen Untergange der Westindischen und dem fast eben so hülflosen Zustande der Ostindischen Kompagnie am Tage liegen.9 Aber dem geduldigen, beharrlichen Fleiße voriger Generationen, ihrer Mäßigkeit und Sparsamkeit, ihrem freien Sinne, ihrem tapfern Muthe, ihren kühnen Unternehmungen und ihrer rastlosen Thätigkeit ist es gelungen, eine solche Masse von Reichthümern in ihrem selbst[701] geschaffenen Vaterlande zu häufen und unsern Welttheil so sehr an ihren Waarentausch zu gewöhnen, daß noch jetzt, nachdem man überall mit dem in Holland erborgten Gelde einen eigenen Aktivhandel zu begründen versucht hat, jenes bewundernswürdige Phänomen der Handelsindustrie nicht aus den größeren Städten gewichen ist. Noch sind die Holländer, wenn gleich in geringerem Maaße als sonst, die Mäkler von ganz Europa, und bestimmen die Gesetze des Geldhandels; noch schreibt Amsterdam den handeltreibenden Nationen den Wechselkurs vor!

Wir verließen Rotterdam den folgenden Morgen, nachdem wir der Bildsäule des vortreflichen Erasmus unsere Andacht gezollt hatten. Wenn sie gleich auf künstlerisches Verdienst keinen Anspruch machen kann, so freute sie uns doch als ein Beweis der Dankbarkeit, womit Rotterdam die Größe seines gelehrten Mitbürgers erkannte und ehrte. Wir fuhren auf dem Kanal nach Delft, und sahen an demselben eine Boltonische Feuermaschine erbaut, um das Wasser aus den niedrigen Wiesen in den Kanal zu heben. Es sollten zwei solche Maschinen hier errichtet werden; aber nur Eine ist zu Stande gekommen, und hat ungefähr hunderttausend Gulden gekostet. Linker Hand ließen wir das Städtchen Schiedam mit seinen zahlreichen Geneuwer- (oder Wachholderbranntwein–) Brennereien liegen. Man wollte uns versichern, daß gegen zweihundert Brennereien dort eingerichtet wären, wel che täglich fünfhundert Oxhoft dieses Getränkes versendeten. So übertrieben diese Angabe scheint, so gewiß ist es doch, daß die Fabrikation und Consumption dieses Artikels sehr beträchtlich bleibt, und den Reichthum von Schiedam, als des einzigen ächten Brauorts, ausmacht. Das Verhältniß der Wachholderbeeren zur übrigen Gahre ist nicht bekannt; sie geben aber unstreitig dem Fruchtbranntwein beides, Geschmack und Geist. Der Genuß dieses Branntweins, wovon der gemeine Mann in Holland so große Quantitäten verbraucht, muß auf die Leibeskonstitution zurückwirken; wie er aber wirke, können nur einheimische Ärzte nach einer durch viele Jahre fortgesetzten Beobachtung entscheiden.

In dem netten, freilich aber etwas stillen und erstorbenen Delft besuchten wir eine Fayencefabrik, deren die Stadt gegenwärtig[702] nur acht besitzt, indem das Englische gelbe Steingut dem schon längst verminderten Absatz dieser Waare den letzten Stoß gegeben hat. Der Thon, sagte man uns, käme aus Brabant über Brüssel, ob man gleich den Ort nicht bestimmt anzugeben wußte. Der Ofen, als das Wichtigste, weil er dem Porzellanofen vollkommen ähnlich seyn soll, besteht aus drei Kammern über einander. In die mittlere wird das Geschirr in Muffeln eingesetzt, und in der untersten das Feuer angemacht. Die Flamme schlägt durch Löcher zwischen den Muffeln durch, und die oberste Kammer bleibt für den Rauch. So geschmacklos die Mahlerei und selbst die Form an dieser Fayence ist, verdient sie doch manchen so genannten Porzellanfabriken in Deutschland vorgezogen zu werden, die oft die elendeste Waare um theuren Preis verkaufen und gewöhnlich zum Nachtheil der herrschaftlichen Kammern bestehen.

Es blieb uns noch so viel Zeit übrig, daß wir die beiden Kirchen besehen konnten. In der einen dienen die Grabmäler der Admirale Tromp und Pieter Hein zur Erinnerung an die Heldentugenden dieser wackern Republikaner. Des Naturforschers Leuwenhoeks Porträt in einem schönen einfachen Basrelief von Marmor, ihm zum Andenken von seiner Tochter gesetzt, gefiel mir in Absicht auf die Kunst ungleich besser. In der andern Kirche prunkt das kostbare, aber geschmacklose Monument des Prinzen Wilhelm des Ersten von Nassau, unter welchem zugleich die Gruft der Erbstatthalter befindlich ist. Schön ist jedoch eine Viktorie von Erz, die auf einer Fußspitze schwebt. Vor wenigen Jahren hat man auch dem edlen Hugo de Groot (oder Grotius) hier ein Denkmal errichtet.

Wir kamen zur Mittagszeit im Haag an, und benutzten das Inkognito, wozu das Ausbleiben unseres Gepäckes uns nöthigte, um das am Meere gelegene Dorf Scheveningen nach Tische zu besuchen. Sobald man zum Thore hinaus ist, – denn der Haag ist eine Stadt, und hat seine Barrieren, so wie seine Municipalität, wenn gleich die Reisenden einander beständig nachbeten, es sei das schönste Dorf in Europa, – also, wenn man zum Thor hinaus ist, befindet man sich in einer schönen, schnurgeraden Allee von großen schattigen Linden und Eichen, die durch ein Wäldchen bis nach Scheveningen geht,[703] und wo die Kühlung im Sommer köstlich seyn muß. Der Anblick des Meeres war diesmal sehr schön; so still, und unermeßlich zugleich! Am Strande suchten wir jedoch vergebens nach naturhistorischen Seltenheiten; die Sandhügel waren leer und öde. Wir konnten uns nicht einmal von der Behauptung einiger Geologen vergewissern, der zufolge ein Thonlager unter dem Sande liegen soll. Das Meer, welches in Holland überhaupt nichts mehr ansetzt, hat im Gegentheil hier einen Theil vom Strande weggenommen, und die Kirche, die sonst mitten im Dorfe lag, liegt itzt außerhalb desselben unweit des Meeres. Die vier Reihen von Dünen, etwa eine halbe Viertelmeile weit hinter einander, die man hier deutlich bemerkt, unterscheiden sich durch verschiedene Grade der Vegetation, welche sich in dem Maaße ihrer Entfernung vom Meere und des verringerten Einflusses der Seeluft vermehrt. Auf den vordersten Dünen wächst fast nichts als Schilf und Rietgras, nebst einigen Moosen und der gemeinen Stechpalme; da hingegen die entfernteren schon Birken, Pfriemen, den Sanddorn (Hippophaë) und mehrere andere, freilich aus Mangel der Nahrung immer noch zwergartige Pflanzen hervorbringen. Der Nähe der Seeluft glaube ich es auch zuschreiben zu müssen, daß hier (im Haag) noch alle Bäume mit völlig verschlossenen Knospen nackt da standen, indeß wir sie in Flandern und selbst in Rotterdam schon im Ausschlagen begriffen gefunden hatten. Die Argumente also, welche man von den verschiedenen Stufen des Pflanzenwachsthumes zu entlehnen pflegt, um die Entstehung der Dünen aus dem Meere selbst, das ihnen jetzt zu drohen scheint, darzuthun, fanden diesmal bei uns wenig Eingang, und wir fühlten uns geneigt, die Bildung dieser Sandhaufen so unentschieden zu lassen, wie die Frage, ob ihr Sand bei Kattwyk, wo sich der Rhein verliert, so viel Gold enthalte, um die Kosten einer Wäsche für Rechnung des Staates, wie man behauptet hat, mit einigem Gewinn zu vergüten? Unter diesen und ähnlichen Betrachtungen wanderten wir zur Stadt zurück, ohne ein anderes Abentheuer, als den Anblick der heimkehrenden Fischweiber, die uns begegneten und die unmöglich irgendwo verwünschter oder hexenmäßig häßlicher und unfläthiger aussehen können.[704]

9

Hierzu kam noch seit 1790 die Überschwemmung bei Rotterdam, und der Brand der Admiralitätsmagazine zu Amsterdam, imgleichen die Gefahr der Ostindischen Kompagnie und die Ernennung zweier fürstlichen Kommissarien nach Batavia.

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 2, Leipzig [1971], S. 695-705.
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