Zweites Buch

Der Wagen hielt vor der Thür, alles war bereit, Luise warf noch einen wehmüthigen Blick hinter sich und stieg an Julius Hand hinein. Als Georg den Schlag zumachte, war ihr, als sei sie nun auf ewig von allen lieben Erinnerungen der Vergangenheit geschieden. Der enge Raum, der sie umfing, ängstete sie. Sie lehnte sich weit heraus, und grüßte im Vorübereilen, mit doppelter Herzlichkeit, alle Bekannte des Dorfes, die vor den Thüren standen und ihr laut Heil und Glück wünschten. Auch der Geistliche bog sein weißes Haupt zwischen grünen Weinranken hervor und blickte segnend auf das junge Paar, das bis jetzt nur Dornen auf dem neuen Lebenswege fand.

Bei einer Beugung der Straße wurden Mathildens Fenster noch einmal sichtbar. Sie glänzten hell in der aufgehenden Sonne und ließen die herabgelassenen Vorhänge sehen, die sich dicht an das Glas anschmiegten. O Gott! O Gott! rief Luise, seit vier Wochen sind sie geschlossen und[41] ihre Hand wird sie nie mehr öffnen! Sie drückte sich fest in die Ecke des Wagens und weinte, von erwachenden Schmerzen ergriffen. Julius bemühete sich, ihr etwas Tröstliches zu sagen; allein er fürchtete jetzt, wie so oft, das Rechte zu verfehlen und ihr Gefühl durch irgend ein gewagtes Wort zu verletzen, daher schwieg er ganz und überließ sie ihren eignen Vorstellungen.

Sie fuhren lange Zeit über weiten Ebnen zwischen vollen Kornfeldern hin, die, außer dem behaglichen Gefuhl des reichen Gewinnes, die Sinne unbeschäftigt lassen. Da trabte ein junger, blonder Mann auf einem schönen Pferde vorbei; ihm folgte in einiger Entfernung ein Knabe in grüner Livree, der einen kleinen türkischen Schimmel ritt. Luise blickte unwillkürlich auf; das feine kindliche Figürchen auf dem weißen Pferde sah fast weiblich aus und erweckte in ihr die Lust zu reiten, die sie schon längst hegte, ohne sie in ihrer abgeschloßnen Lage befriedigen zu können. Julius bemerkte nicht so bald das flüchtige Wohlgefallen auf ihrem Gesicht, als er, die Veranlassung errathend, sogleich ein erheiterndes Gespräch anstimmte, und ihr selbst Gelegenheit gab, ihre kleinen Wünsche laut werden zu lassen. Der Knabe, sagte er, erinnert mich, im Vorübereilen, an eine junge Italienerin, die ihren Geliebten, in ähnlicher Tracht,[42] auf seinen Streifereien begleitete, und mit vieler Gewandheit ein kleines Pferdchen nach den wilden Launen ihres Freundes lenkte. Luise fand das sehr reizend, es paßte in ihre phantastische Welt und schmeichelte dem ihr eignen Wohlgefallen an jeder ungewöhnlichen Erscheinung. Sie hörte daher aufmerksam zu, als Julius fortfuhr. Ich lernte Beide in Rom kennen, wo wir in einem Hause wohnten, ohne einander zu Anfang eine große Aufmerksamkeit zu schenken. Der junge Mann schloß sich indeß aus angebornem Widerspruch des Gemüthes an mich an und sagte oft lachend, er liebe mich der Natur zum Trotz, die uns in allen Richtungen unsres Innern von einander geschieden habe. Wirklich war nichts Unähnlicheres zu finden und dennoch widerstand ich seiner Liebenswürdigkeit nicht, die im steten Wechsel immer einen originellen Charakter behielt. Ich habe es oft versucht, ein festes Bild in der Erinnerung von ihm aufzufassen; allein das ist durchaus unmöglich, da in diesem Augenblick die sittigste Gewandheit, schmeichelnde Worte und Mienen, ja inniges Gefühl, von den allerwildesten Ausbrüchen toller Laune verdrängt werden und, mitten aus diesem Tumult, der Verstand wieder klar und besonnen hervortritt und über die wechselnden Eindrücke lächelt, die solch täuschendes Spiel erzeugt. Ich weiß nicht, ob ihn[43] diese Besonnenheit immer leitet, ob er stets absichtlich handelt, oder ob seine brennende Phantasie ihn fortreißt, die er aus eigner Kraft dann selbst wieder zügelt und vielleicht sich wie die Welt glauben läßt, ruhige Ueberlegung leite seine Schritte. Ich mag bei dem Letztern gern stehen bleiben, weil ich einmal ein bestechliches Wohlwollen für ihn empfinde, und auch nicht denken kann, daß der Mensch, bei so großen Anlagen, ein bloß mechanisches Kunststück aus sich machen werde. Allein, er hat mir öfter gesagt: es sei die Schuld aller nicht Blindgebornen, wenn sie schwarz für weiß ansehen. Die Phantasie der Meisten sei so arm, ihr Gefühl so nüchtern, daß sie es immer dankbar annehmen, wenn man ihnen von außen etwas aufdringe, was sie beschäftigen könne. Es sei eine Lust, wie sie sich hin und her werfen ließen, ohne nur einmal den Wunsch in sich aufkommen zu lassen, durch innre Haltung solchem Spiel zu widerstehen. Dieser Zustand halben Denkens, diese augenblickliche Anregung des Verstandes, der sich sogleich voll Eitelkeit über sich selbst erhebe und der Sache auf den Grund zu schauen meine, dies vornehme Verachten jeder ungewöhnlichen Handlung, alles dies thue den Menschen so wohl, daß sie zu Dutzenden in sein Netz liefen und, selbst nach erkannter Täuschung, willig bei ihm aushielten.[44]

Luise faßte einen lebhaften Widerwillen gegen solch Gemüth und erklärte es geradezu für boshaft. Julius bestritt das und versicherte, daß es ihm mit der Verachtung der Menschen sicher nicht Ernst sei, da er ihn nicht selten mit gänzlicher Selbstverläugnung für Andre thätig gesehen und, ohnerachtet eigner Zügellosigkeit, dennoch eine richtige Würdigung des Guten in ihm gefunden habe. Die Frauen, setzte er lächelnd hinzu, haben freilich Fernando nicht zu loben, denn ob er gleich ihren Reizen huldigt, so sieht er dennoch in ihnen nur ein liebliches Spielwerk, das man ohne sonderliche Reue zerbrechen und nach Gefallen wegwerfen kann. Die kleine Francesca mußte das erfahren; – ob sie ihn gleich mit einer Ergebenheit liebte, die sie oft zur Vertrauten, ja Helferin, neuer Abentheuer machte, so verließ er sie dennoch, um mich nach Paris zu begleiten, wo er einen Theil seines Lebens zubrachte und alte Verbindungen wieder anknüpfen wollte. Sie gerieth ganz außer sich, als er sie am Abend vor unsrer Abreise auf die ruhigsie Weise mit seinen Plänen bekannt machte. Sie überhäufte ihn mit Schmähungen und zerschlug sich mit den kleinen Händen die Brust, um sein trügerisches Bild darin zu vernichten. Er begegnete allen ihren Ausfällen sehr sanft, lachte aber überlaut, als sie ihm auch Vorstellungen[45] über seinen Wankelmuth machte. Du Neuling in der Welt! rief er, solche Thränen sind morgen getrocknet. Du bist unwiederbringlich verloren, wenn Du Dich von Ihnen berücken läßst. Sage mir, was sollte aus uns werden, wenn dies verführerische Geschlecht alle Macht über uns ausübte, die es gern über den ganzen Erdkreis verbreiten möchte! Sei kein Kind, Francesca, sagte er, die Kleine küssend, Du weißt wohl, wie kalt mich Auftritte dieser Art lassen und wie sie immer ihren Zweck verfehlen. Verweine Deine schönen Augen nicht, Du kannst sie besser gebrauchen. Ich war ganz empört über diesen Nachsatz; allein Francesca lachte mitten unter ihren Thränen, und sagte: geh nur! Du kommst doch wieder zu mir zurück, denn Dich versteht Niemand so gut als ich, und Du bist nirgend so recht eigentlich zu Hause, als in dem Umgang mit mir. Fernando gab ihr gern Recht, und wir brachten den Abend sehr vergnügt zu.

Sie waren während dieser Unterredung, die Luisen einigermaßen von sich selbst abzog, nach Quedlinburg gekommen, wo sie die Mittagstunden zubringen wollten. Die kleine schmutzige Stadt, das ungleiche Steinpflaster, das den Wagen hin und her warf und sie zwang, langsam an den niedren Fenstern der Einwohner vorüber zu fahren, wobei sie unwillkürlich einen Blick in das Innre[46] bedürftiger Haushaltungen warfen, alle diese unerfreulichen Eindrücke wurden bei dem Anblick des kleinen, grünen Jokeis, den Luise aus der Ferne vor der Thür des Gasthofes wahrnahm, vergessen. Allein bei näherer Betrachtung zeigte sich's, daß das türkische Pferdchen und das zierliche Kasket, welches jetzt auf einem Pfeiler der Treppe hing, dem armen Knaben allen Zauber und jede Aehnlichkeit mit Francesca nahmen. Ein frisches, halberstädtisches Gesicht sah ihnen aus dünn verschnittnem Haar entgegen, und verwischte alle Erinnerungen aus der italienischen Welt. Julius lächelte im Vorbeigehn über sich und die Bestechlichkeit der Sinne, als ihnen der Wirth entgegentrat und sie höflichst befragte, ob sie nichts dawider hätten, mit einem anständigen Herrn hier im nächsten Zimmer zu speisen. Sie nahmen es an und traten hinein. In's Fenster gelehnt stand ihr blonder Reisegefährte, der sie, aus einem flüchtigen Blick im Vorbeireiten, erkannte und höflichst begrüßte. Das Gespräch ward bald, wie gewöhnlich im Leben, an unbedeutende Gemeinplätze angeknüpft, die es denn endlich ganz natürlich herbeiführten, daß der junge Mann, Jagdjunker eines benachbarten Fürsten, auf dem Wege zu dessen Residenz begriffen sei. Er hatte eine etwas raube Stimme; sonst viel gutmüthige Herzlichkeit, die[47] leicht Eingang fand; vorzüglich war er aufmerksam um Luisen bemüht und liebkoste tändelnd Mathildens Hund, der sie nach dem Falkenstein begleitete. Julius sagte ihm: daß ihnen dies kleine Thier als ein liebes Andenken einer kürzlich verstorbnen Mutter sehr werth sei, wobei Luise ihre feuchten Augen senkte und die Rührung des Fremden nicht wahrnahm, der fast kindlich ausrief: ach Gott! ich habe meine Mutter niemals gesehn und habe auch kein Andenken von ihr! Sein Gesicht drückte dabei so wahr die Sehnsucht nach dem ungekannten Glücke aus, daß Julius voll Theilnahme seine Hand faßte und alle Drei recht von Herzen zu reden begonnen. Es zeigte sich nun bald, im Laufe der Unterhaltung, daß der junge Mann ein Neffe des Baron Veltheim und Julius, aus seiner Kindheit, unter dem Nahmen Carl bekannt war. Sie hatten nicht sobald diesen gemeinschaftlichen Berührungspunkt gefunden, als die Familie des Barons Luisen aus manchen treffenden Zügen bekannt gemacht, und der Wunsch, sie kennen zu lernen, in ihr erregt wurde, wobei Carl lustig hinzusetzte, er käme sich dort wie ein Ostrogothe vor, da ihn die Tante jeden Augenblick versichre: er habe nicht die geringste Leichtigkeit im Umgang mit Frauen, keine Gewandheit in der Unterhaltung; eine Reise nach Paris könne ihm beides allein geben,[48] und, statt einen so untergeordneten Posten an einem kleinen Hofe anzunehmen, hätte er suchen sollen, in Verbindung mit einem weltklugen Freunde, die Reise zu unternehmen. Der Onkel hingegen lebe in der alten und neuen Literatur, rufe einen Kreis von Gelehrten um sich her, in welchem er ihn gänzlich übersehe. Selbst in der Gefälligkeit der kleinen Cousine liege eine Art von Spott, denn sie rede von nichts als Hunden, Jagd und Pferden mit ihm, und zeige wohl, daß sie sich gütig bemühe, zu ihm herunter zu steigen. Julius entschuldigte das mit der Unkunde der meisten Menschen, eine allgemeine Unterhaltung herbei führen zu können, wodurch allein die gesellige Mittheilung frei bleibe und jeder in den Stand gesetzt werde, das Seinige dazu beizutragen, ohne ihn auf eine angreifende Weise in den abgeschlossenen Kreis seines täglichen Thuns und Treibens zurückzudrängen. Ja, sagte Carl, und das Zurückdrängen hat denn noch den Fehler, daß man es dem Andren gleich ansieht, er ritte lieber seinen eignen Gaul, da er auf dem fremden mein Leben nicht recht im Sattel ist. Die Leichtigkeit, fuhr Julius fort, in die abgeschloßnen Verhältnisse jedes Menschen einzugehen, wird größtentheils als der Gipfel der feinern Bildung angesehen, aber es muß wie von selbst aus dem Vorhergehenden entspringen[49] und sich leicht und gefällig der allgemeinen Unterhaltung anschließen, sonst hat es etwas Demüthigendes für den, der einmal aus dem alten Geleise heraustreten wollte und dem man dadurch freundschaftlichst winkt, stehen zu bleiben. Das ist wahr! rief Carl ganz entzückt, das ist wahrhaftig wahr. Das werde ich Emilien nächstens sagen, wenn sie mich wieder in meine Wälder schickt, aus denen ich eben komme, um mit ihr ganz andre Dinge zu reden.

Der Wagen war indeß vorgefahren. Julius wünschte Luisen bald in ihr neues Reich einzuführen und eilte daher, den Rest der kleinen Reise bald zurückzulegen. Carl trennte sich wie ein alter Freund von ihnen, der sich in ihrer Nähe leicht und wohl fühlend, ehestens zu ihnen zurückzukehren versprach. –

Ich erinnere mich, sagte Julius, als sie allein waren, daß mein Vater fast auf ähnliche Weise wie die Baronin über Carl urtheilte, und es hat sich dennoch ein recht frischer, gesunder Sinn und zuverlässig ein treu es Herz in ihm entwickelt. Luise hatte in der Einsamkeit eine sehr gebildete Erziehung genossen; sie besaß viel Kenntnisse und war durch Mathilden an eine unterrichtende, fast gewählte, Unterhaltung gewöhnt. Sie hegte daher eine Art von Verachtung gegen alle Unwissenheit[50] und übersah Menschen ohne hervorstechende Gaben fast gänzlich. Carls Gutmüthigkeit hatte sie bewegt, indeß glaubte sie, mitleidiges Wohlwollen sei nicht das Rechte, was Einer für den Andern empfinden solle. Julius versicherte sie, oft bei dem reichsten Schatz von Kenntnissen, mehr Einseitigkeit und ermüdendes Einerlei, als bei diesem offnen, freien Gemüthe gefunden zu haben. Frei? – wiederholte Luise, das bestreite ich, er fühlt sich alle Augenblicke einmal beschränkt und hat weder die Mittel, noch sucht er die Wege, sich los zu machen. Liebe Luise, erwiederte Julius, verdamme die Unbeholfnen nicht so gradehin, ein jeder hat seinen Kreis, in welchem er sich frei bewegt; führe ihn da heraus, so steht er wie Carl da, der wenigstens gescheut einlenkt und seine Freiheit dadurch behauptet, daß er nicht mehr will als er kann. Ich weiß wohl, fuhr er fort, daß der Kreis des Einen größer ist als des Andern; allein ein jeder zieht ihn sich am Ende selbst und kann nicht über seine Kräfte hinaus. Manche, die weit ausholten, wurden am Ende auf den Ausgangspunkt zurückgedrängt. Luise hätte dagegen noch Manches einzuwenden gehabt und meinte im Innern, dies sei aller Dumpfheit das Wort geredet; allein sie war wenig zum Streiten aufgelegt, und kämpfte genugsam gegen manche peinliche Vorstellungen, die sie[51] bei der Annäherung an den Falkenstein befielen. Der Weg dahin ward immer verschlungener, das Gebüsch dichter, und ein schwerer, glühender Himmel machte die eingeschloßne Gebirgsluft unerträglich; dazu kam, daß ein starker Gewitterregen Quellen und Bäche angeschwellt und die Wege überschwemmt hatte; sie konnten daher nur langsam auf dem schlüpfrigen Boden fahren. Luise war bemüht, die trüben Bilder, die auf sie zu traten, durch eine Menge unzusammenhängender Fragen zu verdrängen; allein ihre Unruhe wuchs so sehr, daß sie endlich Julius bat, mit ihr den Berg hinan auf einem festen ebnen Fußpfad zu steigen. Er willigte gern ein, und Beide hatten Ursach, sich über diesen Entschluß Glück zu wünschen; denn nicht lange darauf schlug der Wagen mit solcher Gewalt gegen einen Stein, den das übergetretne Wasser verbarg, daß das Rad absprang und der Wagen auf die Seite fiel. Luise that einen lauten Schrei, da sie dies von fern sahe, und Julius gerieth in solche Wuth auf seine Leute, als sei Luise wirklich beschädigt. Sie sah ihn zum erstenmal, durch die losbrechende Heftigkeit seines Gemüthes hingerissen, ohne Besonnenheit handeln. Die Verlegenheit, in der sie sich befanden, zwang ihn indeß, in sich selbst zurückzugehn. Sie waren schon zu weit von der Stadt, um dort Hülfe[52] zu suchen, und eben so wenig wollten sie um solche Veranlassung jetzt nach dem Falkenstein schicken, wo man sie in Lust und Freude erwartete. Julius erinnerte sich, daß hier in der Nähe die Wohnung eines Heideläufers sein müsse, zu der jener Fußsteig, in gleicher Richtung der großen Straße, vorbei führe. Er entschloß sich, Luisen hinzuführen, und dort ein Mittel, wie ihnen schnell geholfen werden könne, zu erfahren. Sie waren bald bei dem kleinen Häuschen, das, wenige Schritte davon, im Gebüsch versteckt lag. Lieber Gott, sagte eine Stimme von innen, schlage doch nur noch einmal, nur ein einzigesmal, die Augen auf! Julius zog die Hand zurück, die schon die Thür gefaßt hatte; er besann sich einen Augenblick und pochte dann leise an. Sogleich trat eine junge Frau heraus, wischte die hellen Thränen aus den Augen und erwiederte auf die Frage nach ihrem Manne, mit angenehmer Stimme, daß er dort im Hofe arbeite. Dieser trat jetzt zur Hinterthür herein und stellte, die Fremden im Vorbeigehn grüßend, einige glatt gehobelte Bretter in die Luft. Es wird wohl Noth haben, sagte die Frau, auf die Bretter sehend, es ist bald vorbei! – Ein Sarg! dachte Luise, und schauderte zusammen. Danke Gott, erwiederte der Mann, das Wurm hat viel gelitten! Julius hatte nicht das Herz, sein Gesuch vorzutragen; allein der[53] Mann fragte ihn gleich darauf ganz ruhig, was zu seinem Befehle stände, und meinte nach erhaltner Auskunft, wenn es nichts als ein abgesprungenes und etwas beschädigtes Rad sei, so könne er wohl allein helfen, ohne deshalb noch weiter zu gehn. Er versah sich mit dem Nöthigsten und machte sich sogleich mit Julius auf den Weg.

Wollen Sie nicht hinein treten? sagte die Frau zu Luisen, ansteckend ist die Krankheit nicht. Luise zögerte noch einen Augenblick und fragte, was es für ein Uebel sei. Das weiß der Himmel, antwortete die Frau; seit dreizehn Wochen leidet das Kind. Wir haben wohl einen Chirurgus befragt, aber das hat bei armen Leuten keine Art. Man kann auch nicht alles so haben, – (sie waren während dem in ein niedriges, enges Stübchen an das Bett der Kleinen getreten) und heute, fuhr die Frau fort – sie konnte nichts weiter sagen, bückte sich zu dem Kinde und drückte seine welke Händchen an ihre Lippen. – Luise sah überall Spuren der allerhöchsten Dürftigkeit; sie glaubte fast, daß Mangel an kräftiger Nahrung das Kind, nach früher überstandner Krankheit, allein tödte, und dachte mit Wehmuth, daß so mancher unbeachtet hinstirbt, den oft eine Kleinigkeit retten könne. Ein kristallnes Büchschen öffnend, ließ sie einen Tropfen starken Balsams unter die Zunge der Kranken fallen, die[54] sogleich stark nieste und die großen Augen verwundert aufschlug. Mariechen, liebes Mariechen! rief die Mutter, kennst Du mich? Das Kind schloß aufs neue die Augen und wandte sich auf die Seite. – Luise schickte die Frau nach dem Wagen, indem sie ihr auftrug, sich dort den mitgebrachten Wein und Zwieback geben zu lassen, und fuhr fort, der Kleinen die Schläfe mit dem Balsam zu reiben. In Kurzem kam die Mutter zurück. Luise nahm das Kind in den Arm und flößte etwas Wein in den halbgeöffneten Mund. – Nach einer Viertelstunde ermunterte sich Marie, sah umher, und spielte mit Luisens Fingern, an welchen mehrere Ringe glänzten. Liebe Frau, sagte diese, unter den freudigsten Thränen die sie jemals vergoß, das Kind wird gewiß besser, wenn es alle Stunden, von jetzt an bis morgen Mittag, einen Löffel von dem Weine bekömmt. Dann werde ich wieder herschicken und für weitre Hülfe sorgen. Die Frau faßte Luisens Hände, streichelte ihr die schönen frischen Wangen, bog sich dann wieder zu der Kleinen, küßte und drückte sie, ohne ein Wort hervorbringen zu können. Nachdem ihr Luise noch manches über die Behandlung der Kranken gesagt hatte, fragte sie nach den nähern Umständen der kleinen Haushaltung. Ach Gott, sagte die Frau, ich bin von je her an Kummer und Trübsal gewöhnt, und habe auf Erden[55] nichts, als den festen Glauben an die große Güte des Himmels, die niemand verderben läßt. Mein Vater, der ein armer Nadler in Goslar war, lebte und starb in dieser Ueberzeugung, und ließ mich, voll Vertrauen, im vierzehnten Jahre, ohne Beistand auf der Welt zurück. Unsre Nachbarn nahmen sich meiner an, trugen mir allerhand kleine häusliche Verrichtungen auf und gebrauchten mich zu Aufträgen in der Stadt, wobei ich indeß nur kärglich mein Brod hatte, und, an ein beständiges Herumlaufen gewöhnt, zu aller sitzenden Arbeit verdorben wurde, daher es auch niemand einfiel, mich als Magd in den Dienst zu nehmen. Ich hatte mehrere Jahre so verlebt, als es mir einmal schwer aufs Herz fiel, daß ich doch nirgend zu Hause sei, keinen Anhang habe, von niemand geliebt, höchstens aus Mitleid geduldet werde. Ich weiß es noch, es war an einem Sonntag, die Mädchen aus der Stadt gingen geputzt nach der Kirche, ich hatte nichts in meinem Vermögen, als einen schlechten Rock und eine zerrissene Schürze; ich sah betrübt auf die Letztre und trocknete mir die nassen Augen damit. Ein hübscher Knabe ging, mit dem Gesangbuch unter dem Arm, recht sittsam vorbei, und sagte sein: Gott grüß, Jungfer! so gutmüthig, daß ich ihm zurief: beten Sie für mich, liebes Kind, ich darf doch nicht in die Kirche hinein.[56] Warum nicht? fragte eine etwas rauhe Stimme. Es war Anton, den ich zum erstenmal in meinem Leben sah. Ich schämte mich, vor einem fremden Menschen zu klagen, und schwieg. Er mochte wohl was Arges denken, denn er wandte sich ab, als wolle er gehn, da sagte ich ihm, daß ich zu arm sei, um mir anständige Kleider zu kaufen, und so abgerissen nicht neben Andren sitzen wolle. Er schüttelte den Kopf, drückte mir aber doch ein blankes Stück Geld in die Hand und ging, ohne ein Wort zu sagen. Ich begegnete ihm nach der Zeit oft. Er grüßte jedesmal und sah mir lange nach, wenn ich die Straßen entlang schwere Lasten für geringen Lohn tragen mußte. Einmal bot er mir die Hand, erzählte mir, daß er einen kleinen Posten, ein Häuschen unb eine Strecke Landes zu einem Garten bekommen habe, hier draußen ganz allein wohne, und mich, da er höre, daß ich fromm und ehrlich sei, frage, ob ich mit ihm hinausziehn und als seine Frau bei ihm leben wolle? Ich fiel wie aus den Wolken, besah mich selbst verwundert, und wußte nicht, was ich denken sollte. Er merkte wohl, daß ich nicht nein sagen würde, und redete nun weitläuftiger über alles. Wir wurden bald einig; ich hatte von da an keinen Willen als den seinen, und hörte und sah auch überdem nichts, da mir das Häuschen und der Garten immer vor Augen[57] schwebten. Ich dachte wohl an meinen Vater und dankte Gott recht aus zufriednem Herzen. Meine ehemaligen Wohlthäter schenkten uns allerlei zur Einrichtung und wir zogen nach kurzer Zeit hierher. – Der arme Anton sah bald so gut wie ich, daß es mit der Herrlichkeit nicht weit her und das Brod für zwei knapp zugeschnitten sei. Er ist heftigen Gemüths und erbittert sich selbst, wenn es nicht so geht wie er denkt; darum verzweifelt er gar zu bald und hat keinen rechten Glauben. Es ging denn auch freilich schlecht, ein schweres Wochenbett machte mich zu harter Arbeit untüchtig, und nun kam das lange Leiden mit dem Kinde; es ging alles zurück, wir machten Schulden und geriethen in große Noth. Bis heute blieb ich indeß voll Zuversicht; wenn ich so recht aus Herzensgrund geweint hatte, dann fiel mir mein Vater ein, und der liebe Gott, der alles wohl macht, und ich hoffte gleich aufs neue wieder. Aber vor ein paar Stunden, da brach mit Mariechens Augen mein Herz und aller Muth zusammen. Ich wünschte mir recht sündlich den Tod – und nun – ach du Herzenskind, sagte sie, und betrachtete es mit Blicken, die Luisen in den Himmel erhoben. Julius und Anton kamen jetzt zurück. Sieh doch, sieh! rief die Frau Letzterm entgegen, und zeigte auf die Kleine, welche mit sichtlicher Lust von einem Zwieback[58] aß. Dahin hat es die liebe, schöne Dame in so kurzer Zeit gebracht. Julius betrachtete Luisen, die, mit dem Kinde im Arme, wie ein Engel da saß und ihr verklärtes Auge freudig auf ihn richtete. Anton hingegen lächelte ungläubig und sagte, das wird nicht lange währen, Angst und Noth sind nun einmal bei uns eingekehrt und kommen immer wieder. Schäme Dich, lispelte die Frau leise, vertraust Du nicht mehr auf Gott? – Luise sah ungern ihr Gefühl gestört, drückte dem zagenden Mann ein paar Goldstücke in die Hand und eilte mit Julius zu dem Wagen, der sie unten erwartete. Ihr war unbeschreiblich leicht und wohl ums Herz. Sie umfaßte noch einmal die langen Leiden der armen Frau, die gleichwohl ihre Gefühle nicht einengen und die Gemeinschaft mit Gott nicht aufheben konnten, und drückte dann voll Dankbarkeit Julius Hand, der sie einer sorgenfreien, heitern, Zukunft entgegenführte. Ihr war, als sähe ihre Mutter auf sie herunter und wiederhole jene Worte: Wie sollte ich an Deinem Glücke zweifeln, wie solltest Du je etwas Wünschenswertheres begehren können!

So mit sich und ihrem Loose zufrieden, setzte Luise ihre Reise fort, während sie mit Julius jede Möglichkeit erwog, wie den armen Leuten dauernd zu helfen sei, und den kleinen Unfall segnete, der so viel Glück herbeigeführt hatte. Julius schämte[59] sich seiner vorigen Heftigkeit, daher ging er um so eher in Luisens Pläne ein, das kleine Unrecht auf diese Weise vor sich selbst wieder gut zu machen.

Es war indeß spät geworden. Der Mond stand hoch am Himmel, von den Wiesen stieg ein frischer Dampf herauf, der sich wie ein Flor über die grüne Fläche hinzog. Glühwürmchen leuchteten, herabgefallnen Sternen gleich, aus den Büschen, und kreisend durchzogen einzelne Vögel die Luft, um dann von den letzten Geschäften des Tages auszuruhen. Luise fuhr unwillkührlich zusammen, als Julius freudig rief: das ist der Falkenstein! Sie blickte auf. Graue Thürme sahen im bleichen Mondenlicht zwischen Felsenwänden und dunklen Tannen hervor. Das ist der Falkenstein, wiederholte sie langsam. Sie fuhren jetzt einem Wasserfall vorüber, der sich in einen breiten Graben ergoß. Eine wohlerhaltne Zugbrücke führte über letztern in den Schloßhof hinein. Luise trat mit wankenden Knien aus dem Wagen, in das weite Portal, wo die Dienerschaft des Hauses sie unter tausend Glückwünschen erwarteten. Willkommen, meine Luise! rief Julius aus bewegter Brust; willkommen! tönte es von mehrern Stimmen durch die gewölbten Hallen. Luise neigte sich freundlich gegen Alle und folgte Julius die Steintreppe hinauf zu Violas Zimmer, die er, als die heitersten und schönsten, für sie bestimmt[60] hatte. Sie ward angenehm überrascht, als sie in einen kleinen wohlerleuchteten Saal trat, dessen Wände, grün, mit Basreliefs von der auserlesensten Arbeit verziert waren. Ringsumher standen, auf kleinen Fußgestellen, hohe Vasen mit Blumen, dazwischen Statuen, Abgüsse der besten Meister. Einem großen Spiegel gegenüber sah man durch eine geöffnete Glasthür in einen blühenden anmuthigen Garten, der am Abhange des Felsen angelegt war. Mariane, eilig bemüht alle Herrlichkeiten in Augenschein zu nehmen, trat voll Freude aus demselben hervor, und begrüßte Luisen wie eine liebe Bekannte. Alles gewann hier ein lustiges, vertrauliches Ansehn. Der düstre Eindruck des alten Gebäudes verschwand, jede Spur, jede Erinnerung daran war durch Violas Andenken verwischt. Mit liebevoller Ehrfurcht nahm Luise von den übrigen Gemächern Besitz, die noch aller Zauber ihrer ehemaligen Bewohnerin erfüllte. Ahndungen und Sorgen waren vergessen. Mathilde und die Gräfin schienen ihr überall zur Seite zu gehn und sie zu jedem reinen Genuß zu ermuntern.

Die schöne Zeit, wo der Mensch mit erwachender Lebenslust eine neue Laufbahn betritt, wo die Seele sich in den weitren Kreisen dehnt und jede Kraft muthiger übt, hob auch Luisen über innre Störungen hinaus und öffnete ihr ein frisches thätiges[61] Leben, das der reinste Wille und die andächtige Feier entschwundner Geliebten mehr und mehr veredelte. Die arme Familie im Walde wurde in dieser Stimmung am wenigsten vergessen. Ihre Segnungen tönten in Luisens Herzen wie der Ruf des Himmels zu neuen guten Werken.

Julius ging indeß seinen einsamen Weg. Zu Anfang war es wohl, als wenn Luisens erheitertes Dasein auch erfrischend durch ihn hinzöge; allein er fiel bald wieder in sich selbst zurück. Die Sorge für die Dauer ihres Glückes beschäftigte ihn ängstlich, und machte ihn über die Mittel, es zu erhalten, unschlüssig. Gleichwohl vermochte er nicht, mit ihr darüber zu reden, weil er überall dem innern Reichthum seiner Gefühle keine Worte leihen konnte, weshalb er in ihrer Gegenwart einsilbig, oft verlegen blieb. Dieser innre Druck ward noch dadurch vermehrt, daß ihn Luise, so oft sie bei einander waren, drängte, ihr etwas vorzulesen, Klavier zu spielen, oder auf einem Spaziergange den Mönch aufzusuchen, den sie oftmals antrafen, und für den sie eine große Anhänglichkeit gewann. Julius fühlte wohl, daß die Armuth seiner Unterhaltung nach und nach alle gegenseitige Mittheilung hemmen und Luisens lebendigen Sinn mit Gewalt nach Außen treiben werde. Er versuchte es daher mit der gutmüthigsten Anstrengung, sich freier und[62] lebendiger zu zeigen; allein die Natur widersteht jeder Absichtlichkeit, und nur in einzelnen Augenblicken, wenn irgend eine Saite seines Innren ungewohnt berührt ward, rauschte der Klang erschütternd durch ihn hin, und sprengte die Bande, die den edelsten Geist gefesselt hielten. Der Mönch verstand es fast allein, solche Momente herbeizuführen. Durch ihn lernten Beide die Bibel kennen, die sie bis dahin nur, als ein nothwendiges Glied in der Stufenfolge menschlicher Entwicklung, geschichtlich, betrachtet hatten. Er sagte ihnen oft: wenn es nur zu wahr ist, daß der schwankende Mensch äußrer Anregungen bedarf, wo kann er sie würdiger finden, als grade hier? Das Leben, fuhr er fort, ist reich in Vergangenheit und Gegenwart, die Entwicklung des einen, ewigen, Geistes in Natur und Menschen sichtbar; allein dies in jeder Zeit wahrzunehmen, erfordert einen wachen, geübten Blick. Das halbgeöffnete Auge schweift an den großen Offenbarungen vorüber, die, wie einzelne Chiffern, nur dem eine lesbare Schrift sind, der ihren Sinn erkannt in sich trägt. Die leisere Fühlbarkeit, das schnelle Erfassen und Vereinen vorüberfliegender Töne, ist nur einem sehr reichen, in sich beweglichen Gemüth gegeben, einem solchen, dem alles durchsichtig erscheint, und das ohne fremde Kraft die ätherischen Regionen durchzieht, die sein[63] eigentliches Lebenselement sind. Die Meisten wollen einen lauten, ans Herz dringenden Ruf, der sie fast unwillkührlich erweckt. Sie sind verloren, wenn sie sich hingebend und erwartend eignen Einwirkungen überlassen. Ich fühle das oft beschämt, und flüchte zur Bibel, als dem vollsten und reichsten Schatz ans Licht getretner Herrlichkeit. Was die Geschichte im Aeußren und Allgemeinen darstellt, den Menschen in der Folgereihe fortlaufender Begebenheiten, das Zusammenfallen großer Naturerscheinungen und innrer Umwälzungen, das tritt hier wie ein Blitz der Offenbarung unmittelbar, und in der beredtsten, dem Herzen verwandtesten, Sprache aus dem Innren hervor. Luise fühlte besonders die Wahrheit des Letztren, denn sie konnte nie ohne tiefe Rührung die Worte der Schrift lesen, und blieb noch lange nachher in einer weichen, jedem beßren Eindruck offnen, Stimmung.

Um diese Zeit traf Carl, seinem Versprechen gemäß, bei ihnen ein, und beredete sie freundlich, ihn auf eine kleine Lustreise zu dem Landsitz seines Onkels zu begleiten. Es sei dort, setzte er hinzu, jetzt bunter als jemals; Gelehrte und Ungelehrte, Pharisäer und Leviten, Jude und Teufel, alles ginge Hand in Hand. Luise fürchtete ein wenig die Baronin; allein Julius sah es als eine Art von Schuldigkeit an, sie dieser vorzustellen, und[64] willigte um so lieber ein, da er sich von Carls Gesellschaft und seinen naiven Anmerkungen manche Freude versprach.

Schon des andern Tages machten sie sich bei heiterm Wetter und der besten Laune auf den Weg. Carl ward nicht müde, von dem glänzenden Kreis zu reden, in den sie eintreten wollten, und dabei die Gelehrten und Dichter zu verspotten, welche Letztre er nun einmal in den Tod haßte und gradehin für Lückenbüßer in der menschlichen Gesellschaft erklärte. Ich habe nicht viel gelernt, setzte er mit komischer Zuversicht hinzu; allein ich gehe meinen Weg rüstig fort, und stoße ich auf irgend ein Hinderniß, so räume ich es weg, oder kehre still um, ohne die ganze Welt zum Zeugen aufzurufen; solch Himmelskind hingegen weiß niemals ob es fest auftreten darf, und faßt bei aller Gelegenheit nach einem tüchtigen Arm an den es sich halten kann. Julius lächelte, ohne Carls Meinung anzugreifen, da sie ihm vielleicht nothwendig war, um ruhig in den Schranken auszuhalten, die seine individuelle Natur ihm gesteckt hatte. Allein Luise sagte, Sie nannten die Dichter vielleicht mit Recht Himmelskinder; gönnen Sie ihnen also ihre eigne Welt, und wundern Sie sich nicht, wenn sie der unsrigen fremd bleiben. So sind die Frauen, rief Carl ungeduldig aus, solch unzusammenhängendes Wesen[65] gefällt ihnen. Liebe, schöne Gräfin, wer in den Himmel will, muß auch auf der Erde zu Hause sein, sonst hätte ihn unser Herr Gott weggelassen. Und übrigens sind die Herren auch nicht so himmlisch wie es in den Büchern aussieht; sie greifen mit allen Sinnen umher wie jeder andre Erdensohn, und genießen wo es etwas Gutes giebt. Wenn so einer von Nektar schlürfen redet, denn weiß ich schon was die Glocke geschlagen hat. Die Seligkeit kenne ich auch, wo alles blau ist wie der Himmel über uns! Diese Gleichstellung des phantastischen Dichterrausches mit den gemeinen Wirkungen des Weines brachte alle zum Lachen, und niemand stritt weiter mit Carl, der im Zuge des Erzählens blieb. Sie werden, fuhr er fort, bei dem Onkel wunderliche Heilige erblicken, zu deren Sekte ich mich nun einmal nicht bekennen mag. Einer ist indeß unter ihnen, den ich ausnehme. Ein braver, excellenter Junge, ehemaliger hannöverscher Offizier, der bei der Auflösung der Armee auch um seinen Degen kam, und nun vor Angst und Kummer Dichter geworden ist. Seitdem klagt er ein bischen zu viel über sein eigen Leid; allein das gehört nun einmal zu seinem Gewerbe, sonst ist er noch eben so gut und anspruchlos wie ehemals. Auch hat die Tante eine gewisse Vorliebe für ihn, weil er von guter Familie ist, denn bei aller Verachtung andrer[66] Vorurtheile hält man doch in dem Hause gewaltig auf den alten Erbadel, als ein Ueberbleibsel des Ritterthums, das jetzt wieder bei den Gelehrten in Ansehn kommt.

Sie hatten indeß mehrere Meilen zurückgelegt, und sahen nun von fern das Ziel ihrer Reise, ein schönes, im modernen Styl erbautes Landhaus, von hohen italienischen Pappeln und Schwarztannen beschattet. Unmittelbar daran schloß sich ein englischer Garten, an welchem sie jetzt vorüberfuhren, und die Gesellschaft auf einem frischen Rasenplatz, zwischen verschiednen Gruppen ausländischer Bäume, beim Thee versammelt fanden. Luise bemerkte zuerst eine junge Blondine, die mit gefälligem Wesen zu mehrern jungen Männern redete und sie fast allein zu beschäftigen schien, während sie nachlässig mit ihnen unter den Bäumen hin und her ging. Ihr Haar war vorzüglich schön geordnet und schmiegte sich lockig an die weichen Umrisse des Gesichtes. Das ist Emilie, rief Carl, der werden die Poeten auch noch den Kopf verrücken! Der hübsche, junge Mann an ihrer Seite ist jener Offizier, von welchem ich ihnen zuvor sprach, ein Herr von Stein, in der Gelehrtenwelt Reinhold genannt; ihm zunächst geht ein Engländer mit einem Juden, der ihm die deutsche Dichtkunst um ein Billiges abläßt. – Hier trat ihnen die Baronin, von ihrer[67] Ankunft benachrichtigt, entgegen. Luise ward durch die Schönheit und Würde ihrer Gestalt überrascht. Ohnerachtet sie von Mathildens Alter zu sein schien, war die fast plastische Ruhe ihrer Züge, durch ein gleichförmig fortlaufendes Leben, ungestört geblieben, und ihre Schönheit über die Zeit hinausgehoben. Sie redete mit der einfachen Sicherheit, die ein längerer Umgang mit der Welt fast einem Jeden giebt. Vor Julius hatte sie eine Art von Ehrfurcht, weil er über die Gränzen Deutschlands hinausgekommen war, was sie ihm auch, durch bescheidne Zurückhaltung, die seinem Verdienst den Vorzug einzuräumen schien, bezeigte. Luise ward einigen Damen aus der Nachbarschaft vorgestellt, und dann von Emilien, die sie mit besondrer Herzlichkeit empfing, in den Kreis um den Theetisch eingeführt. Ihr zunächst saß eine hübsche junge Frau, die lebhaft mit einem bleichen, sehr ruhig scheinenden, Mann redete, und sich oftmals ärgerlich von ihm abwandte, ohnerachtet sie es nicht lassen konnte, immer wieder hin zu hören, so oft er mit einem weichen, fast leisen Organ, etwas Beißendes sagte, was sie unwillkührlich zur Antwort reizte. Der Baron war indeß mit einigen andern Herren hinzugekommen. Herr Werner, sagte die junge Dame zu einem derselben, tritt heute aufs neue wie der Baum der Erkenntniß zwischen die unschuldigsten[68] Genüsse der Menschen, und ist bemüht uns durch die Früchte seines Witzes die Augen zu öffnen. Ich wiederhole nur, erwiederte jener, gleichgültig mit seinen Lünetten spielend, die er eben abgenommen hatte, um Emiliens Stickerei genauer zu betrachten, ich wiederhole nur, was die öffentlichen Blätter sagen. Ein von der gnädigen Frau beschütztes Buch, Rodrich, ist darin wie ein Rezept zu einer Torte zerlegt, so und so viel Orangenblüthen, Citronen nach Belieben, mehrere poetische Süßigkeiten, einige ergreifende Scenen als pikante Gewürze, und zuletzt zur Dekoration die Gruppe des Laokoon. Was meinen Sie dazu, Herr Professor, unterbrach ihn die Dame heftig, sich zu demjenigen wendend, welchen sie zuvor anredete, ich bitte Sie, was heißt das? – So viel als nichts, erwiederte dieser, das könnte man so ziemlich von den mehrsten Romanen sagen, die im Süden spielen; das bezeichnet äußre Zufälligkeiten, die keinesweges die Idee des Ganzen darstellen. Allein wer diese richtig auffaßt und sie angreift, ist meiner Meinung. – Werner lachte in sich. Ihrer Meinung? wiederholte die hübsche kleine Frau ganz betroffen, und stand von ihrem Stuhl auf, als wolle sie jenes nachtheilige Urtheil fliehn. Räume ihnen nicht das Feld, liebe Auguste! rief Emilie, vertheidige den armen Rodrich, Du weißt wohl – Gnädige Frau, hub der Professor[69] aufs neue an, Sie forderten mich auf; ich kann nicht anders als wahr sein. Nun denn, erwiederte Auguste, auf alles gefaßt, so sagen Sie nur was Sie denken. Ich denke, fuhr jener fort, was Ihrem Scharfsinn bei näherer Betrachtung nicht entgehen kann, wenn der erste Eindruck mancher anziehenden Verhältnisse verwischt sein wird. Es ist in dem Buche nicht sowohl die Rede von der Nichtigkeit des menschlichen Thun und Treibens in seinen verworrenen Richtungen, sondern ein völlig abwärts gehendes Streben bei früh erkanntem Ziel. Der Sündenfall nach der Erkenntniß. Rosalie personifizirt das Ganze, absichtlicher Wahnsinn. Alle sind klug, besonnen, ermessen und prüfen, heben sich über sich selbst hinaus, und neigen sich am Ende zur gemeinen Alltäglichkeit herab. Das kann ich so strenge nicht tadeln, sagte Werner, das bezeichnet eine Ansicht wie eine Seite des Lebens; warum soll die nicht ausgesprochen werden? Störender ist mir, daß das Buch weder ein Roman, noch eine Novelle oder ein Mährchen ist; diese äußerliche Unvollkommenheit verrückt alle Augenblick den Standpunkt, aus welchem man es betrachten soll, und verwirrt es in sich selbst. Noch bemerke ich, daß die sogenannten poetischen Situationen gekünstelt und absichtlich erscheinen, und die einzige Wahrheit des Gefühls in der anspruchlosen[70] Aline niedergelegt ist. Das eben, das eben, unterbrach ihn der Professor, ist das frevelhafte Spiel, was durch das ganze Buch geht. Das Heiligste wird niedergetreten, weil es schwach, ohnmächtig, abhängig, erscheint, indeß die reichste Kraft sich in sich selbst zernichtet.

Für mich ist es immer schwer, von diesem Buche reden zu hören, sagte Reinhold, im Guten sowohl als im Bösen, denn ich möchte gegen Beides anstreiten, und gerathe deshalb unausbleiblich ins Gefecht, oft gar auch in ein kreuzendes Feuer, wie es mir zum Beispiel hier gehen würde. Aber eine bloße Gefühlsäußerung, die keinen Anspruch auf irgend eine richtende Kraft hegt, zieht wohl als ein friedlicher Gesandter durchhin, und ich will es daher nur dreist heraussagen, daß ich von dem Rodrich tief angesprochen werde, dann wieder unendlich hart abgestoßen, dann wieder zum allerkühnsten Spott gereizt. Oft tritt er ganz fremd vor mich hin, als wäre gar keine Berührung zwischen uns Beiden, treibt mich durch gezierte Gesellschaften vornehm umher, erinnert mich an andre Bücher, die eben so vornehm thun und die ich nicht leiden kann, der Unwille runzelt meine Stirn, der Hohn schwebt auf meiner Lippe – und plötzlich brechen die Stralen des reinsten, seligsten Friedens hervor; das Wehmüthigste aus meinem Leben, das Lieblichste aus[71] meiner Kindheit tritt vertraulich kosend auf mich zu; ich zürne über meinen Hochmuth, über meinen Spott, und lösche mit linden Thränen Rodrichs und meine Fehler zugleich aus. Gottlob! rief Auguste, das ist doch etwas Andres, als der bloße Verstand, das empfind' und begreife ich zugleich! Luise blickte zufrieden auf das edle Gesicht des jungen Mannes, das eine fromme, fast demüthige, Rührung überzog. Lieber Reinhold, hub Werner an, Sie sagten mit Unrecht, daß Ihre poetische Ergießungen wie ein Friedensbote durch jene Urtheile hingingen; sie gehen darüber hin und schwemmen die einfache Wahrheit derselben in ein unsichres Rauschen der Gefühle weg. O! nichts weiter, sagte Auguste ungeduldig, wir wollen uns lieber auf dem warmen Strom seiner Gefühle hin und her schwingen, als mühsam an Ihre Weisheit hinanklimmen! Die Baronin, der das Gespräch schon lange nicht angenehm war, weil es durch seinen Gegenstand kein allgemeines Interesse gewinnen konnte, schlug der Gesellschaft einen Spaziergang vor, und man machte sich bereits auf den Weg, als Herr Aaron, wie vor sich selbst redend, bemerkte, daß man dem Buch zu viel gethan habe, da es doch wirklich mehrere glückliche Momente und eine große Pracht und Reichthum der Phantasie enthalte. Ich lasse mich hängen, flüsterte[72] Carl Luisen zu, wenn das alles nicht eine abgeredete Karte ist; der Jude steckt mit dem Buchhändler unter einer Decke und hat den Andren zugeredet, das närrische Zeug anzugreifen, damit man neugierig werden und es lesen möchte. Carl, sagte Luise sehr ernsthaft, Ihr Vorurtheil macht Sie boshaft. Nehmen Sie sich in Acht, Ihre Gutmüthigkeit läuft Gefahr, von einem häßlichen Gifte befleckt zu werden. Emilie, die herzu gekommen war, drückte ihr die Hand und sagte (einen strafenden Blick auf Carl), wie ist es möglich, daß Sie Herrn von Stein fähig halten – O ich weiß, ich weiß, unterbrach sie jener, Reinhold nicht beachtend, der ihn in dem Augenblick gutmüthig umfaßte und durch einige freundliche Worte beschämt in sich selbst zurückdrängte. Trauen Sie dem wilden Jäger nicht, er geht auf eine gefährliche Jagd aus, lispelte Werner im Vorübergehen. Gefährliche Jagd? wiederholte Carl; was soll das heißen. Gott weiß, sagte Reinhold, aus dem wird niemand klug; aber lassen Sie ihn nur, er meint es nicht böse.

Luise dachte anders, sie konnte sich einer innern Scheu nicht erwehren, die ihr Werners höhnende Ruhe aufdrang. Uebrigens gefiel sie sich ganz wohl in dem gemischten Kreise und beantwortete Emiliens vertrauliche Liebkosungen, wie der[73] Baronin feines Zuvorkommen, mit dankbar frohem Herzen. Bei einer großen Empfänglichkeit für fremde Eindrücke, ward es ihr leicht, den herrschenden Ton der Gesellschaft aufzufassen, wodurch sie, zu ähnlich freier Mittheilung angeregt, sehr bald vortheilhaft ausgezeichnet wurde. Der kleine Triumph entging ihr nicht, so wenig wie Augustens Empfindlichkeit darüber, die sich verstimmt zurückzog, indeß die unbefangne Emilie nur noch liebreicher und heitrer wurde. Gewohnt, Huldigungen zu empfangen, war diese niemals bemüht, irgend eine Aufmerksamkeit gewaltsam an sich zu reißen, sondern alles gehen zu lassen wie es gehen wollte und konnte, weshalb sie auch das Wohlwollen der Männer, bei ganz veränderter Beziehung des Gefühls, immer rein erhielt.

Ein kleiner Regen trieb die Gesellschaft in die Zimmer zurück. Emilie verbarg sich unter Luisens Shawl, und, indem sie sich Beide umschlangen, rannten sie schnell dem Hause zu. Der weiche indische Stoff, der sich um die schlanke Gestalten schmiegte, bildete eine Gruppe, die von allen Herren unter lautem Beifallruf bewundert wurde. Nun nur schnell Musik! rief Auguste im Hereintreten, durch jenes Lob verletzt, die Worte tödten uns sonst heute in der ängstlichen Stubenluft; Herr von Stein, Sie versagen mir es nicht! Reinhold,[74] immer bereit, Andren Freude zu machen, trat zum Clavier; Werner stellte sich zu Augusten, und, während er die Gruppe von vorhin in farbigem Papier sehr geschickt ausschnitt, lockte er ihr unter künstlichen Wendungen die Ursach ihrer trüben Laune ab. Die andern hörten indeß auf folgendes Lied:


Ein weiches Herz im Busen,

Ein krieg'risch glüh'nder Sinn,

Manch holder Wink der Musen,

Das ward mir zum Gewinn.


Und früh besonnte Bahnen,

Sie schlossen mir sich auf;

Beifällig sah'n die Ahnen

Auf ihres Enkels Lauf.


Wie schnell, wie hart geendet!

Wie nah' der Freude Grab!

Vom weichen Herzen wendet

Die kluge Welt sich ab.


Die ehmals tapfre Klinge

Blitzt matt in Trümmern auf,

Und wenn ich Lieder singe,

Wer hört in Liebe drauf? –


Zwar edle Kränze rauschen

Fernher zu meinem Preis;

Die möcht' ich gerne tauschen

Um ein demüth'ges Reis.
[75]

Um's Reis der süßen Minne,

Das welkend mir verblich.

Umsonst! Im stillen Sinne

Verzehrt mein Sehnen mich. – –


Emilie reichte mit ihrer gewohnten Gutmüthigkeit, Reinhold, nachdem er geendet, die Hand, und ließ ganz rücksichtslos die Rührung blicken, welche jene Worte in ihr erregten. So viel Theilnahme überraschte ihn. Er drückte die schönen Finger an seine Lippen, während er, über ihren Stuhl gelehnt, einen langen, fragenden Blick auf sie richtete. Luisens Herz klopfte unwillkürlich. Eine seltsam dunkle Ahndung stieg in ihr auf, ihr Athem stockte, helle Thränen drangen aus ihren Augen; da unterbrach Werner die augenblickliche Stille mit einem lauten Gelächter und zeigte auf den Professor, der in einer Ecke des Sophas in guter Ruhe schlief. Geschwind, Herr Professor, rief Auguste, geschwind eine Vorlesung über die Trägheit der Menschen. Der kleine Mann rieb sich die Augen, sprang mit einem Satze auf, als treibe ihn angeborne Schnellkraft, während er sich mit zusammengebißnen Zähnen die Sporen gab, setzte sich mitten ins Zimmer und hub dann mit einer Stimme, die noch heiser vom Schlafe war, folgendermaßen an.

»Keine Gefahr steht dem Menschen näher, als zu jener trägen Dumpfheit herabzusinken, die, indem[76] sie die Regsamkeit der Sinne hemmt, oder doch nur einseitig und mechanisch übt, den innern Reichthum der Gefühle einengt, den Blick verdunkelt und den Geist mit bleiernen Gewichten zu dem kurzgesteckten Ziele hinabdrängt.«

Alle lachten, denn seine Augen schienen noch jetzt von diesen bleiernen Gewichten herabgezogen. Der Engländer aber meinte, es gehe ihm wie den Somnambülen, die im Schlafe das Beste zu Tage fördern; denn, setzte er hinzu, im Grunde hat er doch eine Saite angeschlagen, die jeden mehr oder weniger trifft. Wahr ist es am Ende, daß wir alle nach und nach von der innern Regsamkeit verlieren, und daß selbst das wackerste, mit Lust und Liebe unternommne Geschäft den Mehrsten unter den Händen zum abschmeckenden Einerlei wird. Das müde Auge heftet sich dann auf irgend einen befreundeten Gegenstand, und starrt ihn so lange gedankenlos an, bis es gar nichts mehr sieht und alle Dinge in einem trüben Dämmerlichte vor ihm hinziehn.

Der Professor ward von einem kleinen Froste überfallen, den ein unterbrochner Schlaf allemal zurückläßt; er schüttelte sich gähnend und sagte dann, um die an ihn gerichtete Rede einigermaßen zu beantworten: was sich nicht unaufhörlich aus sich selbst erzeugt, das gehört einer fremden Gewalt[77] an, die mit tausend Händen nach uns greift und uns ohne Leben und Bewegung in ihren Banden gefesselt hält. Viele schmachten, sich selbst unbewußt, in diesem Zustande, indeß Andre den innren Funken im eignen Dunstkreis ersticken und sich überreden, Eines sei wie das Andre und das Nächste das Beste. Eines ist wie das Andre, sagte Werner kalt; der Rangstreit, dächte ich, wäre lange abgemacht. Freilich, erwiederte der Professor, durch diesen Widerspruch schnell aufgeregt, freilich alles ist schön und herrlich, wie es der wache Sinn erkannt und geprüft in sich trägt, aber das innre Licht soll in tausend Blitzen durch den festen Kern glühen und ihn überstralen, daß man es inne werde, welch ein Geist hier waltet. In der Liebe, sagte Reinhold, Emiliens Hand, die er noch immer in der seinigen hielt, sanft drückend, wird das jedem anschaulich. Alles ist ihr Zeichen, Hindeutung überschwenglicher Fülle; unter ihrer Berührung erweitert sich das beschränkteste Dasein und ruft Kräfte hervor, die sonst wohl ewig schliefen. Bei den Mehrsten, fiel der Engländer ein, währt dieser Zustand des innern Wachens nur nicht lange. Sie sinken sogleich in den vorigen Traum von Leben und Thätigkeit zurück und blicken höchst vornehm auf die wenigen lichten Punkte ihrer dunklen Wirksamkeit. Wer es nicht scheut, fuhr er fort, in sich[78] selbst zurückzugehn, wird über die kunstreichen Wiegenlieder erstaunen, mit denen man sich selbst in träge Ruhe singt. Das ist es aber eben, erwiederte der Professor, was fast ein jeder scheut. Das Denken ist dem ungeübten Denker wirklich eine Last. Wie sich die dunkle Fluth von Ahndungen, Begriffen, Empfindungen und Ideen regt, reißt sie das blöde Auge mit sich fort, bis es sich angstvoll verschließt und nur den gewohnten Kreisen eröffnet. Ohne gewaltsamen äußren Stoß wiederholt selten jemand ähnliche Versuche, bis die innre Beweglichkeit immer mehr stockt und der Geist zuletzt nur noch bang an die enge Klause anpocht und sich durch ein gespenstisches Rauschen verkündet. Das gilt doch nur von einzelnen Augenblicken, sagte Reinhold, in andren regt sich in eines jeden Brust irgend ein Laut, der sein innerstes Wesen kund giebt. Bei dem Tode eines geliebten Freundes, oder beim Erwachen der Natur durchzieht ihn ein wehmüthiger Ruf, den er versteht, wie man Gott fühlt und empfindet, ohne eigentliche Worte für dies Gefühl zu haben.

Werner, dem jene Rührung in Luisens Seele nicht entgangen war, hatte sich indeß zu ihr gestellt und fragte sie um ihre Meinung über den eben behandelten Gegenstand. Sie dachte an ihre Mutter und die Bibel, und sagte mit bewegter[79] Stimme, daß, wenn den Frauen auch das eigentlich künstliche Denken fremd sei, sie dennoch in Religion und Liebe eine stete innre Anregung fänden, der sie sich nur überlassen dürften, um vor der gefürchteten Dumpfheit sicher zu sein! – Indem trat der Baron mit einem jungen Mann in das Zimmer, den er der Gesellschaft als Künstler und Freund des Hauses vorstellte, welcher, nach geendigten Reisen, in seine Heimath zurückkehre. Es war der Sohn des Pfarrers aus dem Dorfe, von dem Baron früh hervorgezogen, und, bei der Entdeckung eines aufblühenden Talents, auf alle Weise begünstigt. Emilie begrüßte ihn herzlich und machte ihn sogleich mit allen Anwesenden bekannt. Der junge Mann hörte nicht sobald, daß sich der Graf Falkenstein hier befinde, als er aus seiner Brieftasche ein Schreiben hervorzog, welches er Julius sogleich einhändigte. Von Fernando! rief dieser, angenehm bei dem Anblick der Schriftzüge überrascht. Wo verließen sie ihn? In Wien, erwiederte der Maler, wohin wir von Venedig mit einander reisten. Dort, setzte er lächelnd hinzu, wird er nun wohl so lange bleiben, als ihn seine Grillen fesseln.

Julius hatte indeß das Siegel erbrochen und stellte sich hinter Luisens Stuhl, so daß Beide folgende Worte lasen.[80]

»Du weißst, lieber Julius, ich liebe die Coltsequenz im Leben. Du hast geheirathet, und das ist weise; ich durchziehe die Welt, und das ist ebenfalls weise. Jetzt bin ich hier, die deutsche Häuslichkeit zu bewundern, von der ihr selbst viel Aufhebens und einige schlechte Schauspiele gemacht habt. Daß ich nächstens nach Deinem Hexensteine komme, begreifst Du wohl; der Himmel bewahre mich dort nur vor Bezaubrung.«

Luise entfärbte sich etwas, und sagte, ohne das Ende des Briefes abzuwarten, sie wünsche, daß er in Wien bleibe, da sie auf seine Bekanntschaft weiter nicht begierig sei. Julius fragte indeß den Maler, indem er den Brief zusammenfaltete, was Fernando abgehalten habe, ihn sogleich zu begleiten. Eine Begebenheit seiner Art, erwiederte dieser. Die Blicke der Gesellschaft richteten sich bei dem Worte, das immer etwas Ungewöhnliches erwarten läßt, auf den jungen Mann, und schienen eine nähere Erklärung zu verlangen. Er fuhr auch sogleich fort: Es war wenig Tage vor meiner Abreise, als wir bei dem Herausgehn aus dem Schauspiel einen Knaben begegneten, welcher auf seiner schnarrenden Leier unaufhörlich dasselbe Lied spielte und die Vorübergehenden so um Almosen ansprach.[81] Fernando warf ihm ein Stück Geld hin und bat ihn, zu schweigen; allein der Knabe folgte uns durch eine lange Straße, immer dasselbe leiernd. Fernandos Ohr ward aufs äußerste verletzt; er wandte sich ungeduldig, um den Knaben zu fassen, der angstvoll vor ihm hinrannte – indem öffnete sich die Thür eines ansehnlichen Hauses, an welchem beide streiften; der Knabe drängte sich hinein und riß Fernando in seinem Grimme nach. Gleich darauf fiel die Thüre wieder zu, die Leier ertönte einen Augenblick, dann ward alles still, der Knabe trat allein heraus und ging frisch und fröhlich an mir vorüber. Ich war noch voll Verwundrung über den seltsamen Zufall, als ich einen Mann in einem dunklen Mantel auf das Haus zueilen sah. Ich zog mich sogleich hinter einen hervorspringenden Pfeiler zurück, und bemerkte daß der Unbekannte an dem Schlosse drehte, dann unmuthig mit dem Fuße stampfte und sich auf der andern Seite der Thür hinter einem ähnlichen Pfeiler verbarg. Wir mochten beide ohngefähr eine halbe Stunde auf diese Weise gestanden haben, als mir, bei einer unvorsichtigen Bewegung, der Stock aus der Hand fiel und mit ziemlichem Geräusch auf den Steinen hinrollte. Mein ungekannter Feind bog sich, auf den nahen Lärm, sogleich hervor,[82] und da er mich in einer peinlich-lauernden Stellung wahrnahm, sprang er ungestüm auf mich zu und fragte keck nach der Ursach meines Dortseins. Ich war nicht in der Stimmung, ihm auf eine geschickte Weise auszuweichen, noch weniger Rechenschaft von meinem Thun und Lassen abzulegen, daher antwortete ich eben so heftig, ohne eigentlich zu antworten. Das Gespräch erhitzte sich immer mehr und riß uns vom Gegenstand desselben zu persönlichen Beleidigungen fort. Während der Zeit war Fernando unbemerkt aus der Thüre geschlüpft. Von dem, was ihm eben begegnet war, konnte er sehr leicht auf die Veranlassung unsers Wortwechsels schließen. Er trat daher zu uns, und nachdem er sich für meinen Reisegefährten und uns beide für Fremdlinge in dieser Stadt erklärt hatte, bewies er dem armen Betrognen, daß wir uns bei verschiednen, von einander abweichenden, Geschäften in dieser Gegend dies ausgezeichnete Haus, zum Wahrzeichen gemeinschaftlichen Zusammentreffens, ausersehen hätten. – Eine Fluth von Worten und feinen Wendungen drückte jeden Zweifel in unserm Gegner nieder, der sich am Ende beschämt und reuig zurückzog. Kaum waren wir allein, so riß mich Fernando, unter tollem Lachen, nach einem nahgelegnen Kaffeehause. Hier machte[83] er endlich seinem Herzen Luft, und, während er seine eigne kleine Geschichte als eine fremde Begebenheit erzählte, zog er die Aufmerksamkeit mehrerer Anwesenden auf sich. Der Zusammenhang war übrigens nicht schwer zu errathen. Die Leier hatte das Ende des Schauspiels und den Augenblick einer verabredeten Zusammenkunft anzeigen sollen. Fernandos Ungeduld verwirrte alles, indem er den Knaben mit Gewalt zu seinem Ziele drängte. Bei Annäherung der Töne sprang die Thüre auf, Fernando fuhr hinein, eine weiche kleine Hand drückte sich schmeichelnd auf seine Lippen und zwang ihn, zu schweigen. Er stand einen Augenblick unschlüssig; allein als dieselbe kleine Hand ihn ungeduldig fortzog, folgte er in der Dunkelheit durch mehrere Zimmer, bis ihn seine Führerin am Eingang eines schwach erleuchteten Vorsaals verließ. Alles war hier still, nichts regte sich, er blickte neugierig umher und sah endlich durch einen gegenüber hangenden Spiegel eine zierliche Gestalt, die sich, fast schwebend, auf den Zehen, in der Thür eines anstoßenden Cabinets hielt und ihm winkte, sich zu nähern. Er that, wie man ihm gebot. Ein lauter Schrei empfing ihn, den er indeß, wie er lächelnd hinzusetzte, bald zu unterdrücken und die arme Kleine überall zu trösten verstand. Fernando[84] gefiel sich so wohl in diesem Abentheuer, daß er auch noch das Ende desselben und das Zusammentreffen mit dem wahren Geliebten wiederholte, worüber ein kleiner, sehr weiß gepuderter Herr, der ein besondres Behagen an der Geschichte fand, fast vor Lachen sticken wollte. Er konnte sich gar nicht wieder von Fernando losreißen und nöthigte uns beim Weggehn, den Abend bei ihm zuzubringen. Wir willigten ein, und er führte uns zu unserm Erstaunen in dasselbe Haus, das nun einmal der Schauplatz der lächerlichsten Begebenheiten bleiben sollte. Wir traten endlich in das bekannte Cabinet, wo uns der Herr Rath mit vieler Artigkeit seiner halbtodt erschrockenen Gemahlin vorstellte. Fernandos geschickte Haltung beugte indeß jeder Unvorsichtigkeit vor und erhielt uns den Abend in der besten Laune. Er hat nun einmal Zutritt bei der Familie und reißt sich vielleicht nicht so schnell wieder los, da ihn alles, was von der hergebrachten Weise abweicht, fesselt.

Luise war aufgestanden und redete mit der Baronin sehr eifrig über eine vor ihr liegende Handarbeit, die nach französischem Dessein gemacht war, Werner aber hörte nicht auf, von Fernando zu reden, und warnte Emilien vor seiner Bekanntschaft.[85] Nach dem, was wir eben gehört, fiel Luise schnell ein, setzen Sie den Geist wie das Zartgefühl des Fräuleins durch solche Warnung sehr herab, da sie gewiß etwas Edleres zu würdigen versteht. Werner zuckte spöttisch mit der Oberlippe, und meinte, sie gerade lasse dem Fräulein keine Gerechtigkeit wiederfahren, da es ihren Reizen wohl gegeben sei, solchen Unbeständigen zu fesseln. Nach der Annahme des Aristophanes beim Platon, fuhr er fort, der ich nun einmal zugethan bin, waren die Korper ursprünglich sphärisch geformt und beschrieben ungestört ihre Bahnen. Nach dem Fall der ganzen Welt wurden sie mitten von einander getheilt und laufen irrend umher, bis ein jedes seine Hälfte findet. Wer sagt uns nun, daß Fräulein Emilie nicht die Hälfte ist, welche der interessante Fremde unter tausend vergeblichen Bemühungen aufzusuchen strebt? – Emilie lachte. Wer ist denn eigentlich dieser Fernando? fragte die Baronin. Ein in der That sehr liebenswürdiger Mann, erwiederte Julius, von den seltensten Anlagen, aus guter Familie und von einem Vermögen, das ihm eine unabhängige Existenz sichert. – Hm – sagte die Baronin beifällig. – Carl aber fragte schnell, ob er auch ein Dichter oder sonst so etwas sei. Mein Gott! rief Emilie, und zuckte die kleinen, beweglichen Schultern,[86] lassen Sie ihn doch sein was er will; es ist ja noch die Frage, ob wir ihn jemals sehen, er gefällt sich so gut in Wien. Alle lachten über ihre naive Ungeduld. Luise blieb indeß unruhig und verbarg es sich auch weiter nicht, daß sie eine Scheu vor Fernandos Ankunft habe, die sie hinderte, an der Heiterkeit der Gesellschaft Theil zu nehmen, weshalb sie des andern Tages auch gern ihre Rückreise antrat und sich von den neuen Bekannten, in der Erwartung, sie nächstens auf dem Falkenstein zu sehen, ohne sonderlichen Kummer trennte.

Sie fuhren durch ein trübes, feuchtes Wetter hin. Der graue Nebel lag schwer auf Luisens Seele. Sie sprach wenig; auch Julius war einsilbig. So trat sie, beklommen, mit einer ängstigenden Leere im Innren, in ihre Zimmer. Julius ging seinen Geschäften nach; sie blieb allein, ohne ein lebendiges Wesen, außer die bewegliche Flamme im Kamine, um sich zu haben. Gedankenvoll trat sie an das Feuer, und warf einzelne Blumen, die sie aus einer nahstehenden Vase zog, hinein. Da hörte sie einen Postillon blasen; ein Wagen rollte in den Hof, hielt vor der Thür. Sie fühlte im Augenblick, wer es sei, und blieb unbeweglich, den Kopf zwischen beiden Händen auf[87] dem Kamin gestützt, in dunklen Ahndungen verloren. Julius trat mit einem jungen, schönen Mann herein, welcher sie auf den ersten Blick Fernando erkennen ließ.[88]

Quelle:
Caroline de la Motte Fouqué: Die Frau des Falkensteins. Bdchen. 1–2, Band 1, Berlin 1810, S. 39-89.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Frau des Falkensteins
Caroline de la Motte Fouque: Die Frau des Falkensteins: Werke und Schriften 1

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Der Teufel kommt auf die Erde weil die Hölle geputzt wird, er kauft junge Frauen, stiftet junge Männer zum Mord an und fällt auf eine mit Kondomen als Köder gefüllte Falle rein. Grabbes von ihm selbst als Gegenstück zu seinem nihilistischen Herzog von Gothland empfundenes Lustspiel widersetzt sich jeder konventionellen Schemeneinteilung. Es ist rüpelhafte Groteske, drastische Satire und komischer Scherz gleichermaßen.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon