Leontin an Tavanelli

[359] Ich suchte Sie gestern Abend in Ihrem Zimmer auf. Sie waren nicht darin. Doch stand es offen. Mehrere Papiere flogen mir vom Boden entgegen. Ueber den Stuhl vor dem Schreibtisch hing ein abgeworfener Rock. Hut und Handschuh fand ich hier und dorthin geschleudert, der Spatzierstock lag quer über dem Sopha, alles trug die Spuren einer Unachtsamkeit, die ich sonst nie an Ihnen bemerkte. Es fiel mir auf, daß die Leute im Hause von Ihrer Abwesenheit nicht unterrichtet waren, da sie mich hierher zu Ihnen gewiesen hatten. Die Vermuthung, Sie vielleicht unten im Garten zu treffen, entstand nun ganz natürlich in mir. Ich ging, und kam bis an die Bucht am See, ohne einem Menschen begegnet zu sein. Hier spielte, zu meiner großen Verwunderung, Georg mit einer Ziege, die er von seinem kleinen Wagen losspannte, und sie Gras fressen ließ. »Wo ist Dein Freund Tavanelli? Kind!« fragte ich, ahndend, daß Sie in der Nähe sein müßten. Der Kleine antwortete erst gar nicht; später, als ich meine Frage wiederholte, sagte er gleichgültig, ohne von seinem Spiele aufzusehen: »Tavanelli? Ja, das weiß ich nicht. Der läuft immer umher.« »Und Dich,[359] armes Kind!« sagte ich, »läßt er so allein? Es ist ja fast schon dunkel, bekümmert sich denn Niemand um Dich?« »Um mich braucht sich auch Keiner zu bekümmern,« entgegnete er zuversichtlich. »Ich ziehe die Liese hier in den Stall, und dann gehe ich auch zu Bett. Das ist immer so!« »Immer so?« wiederholte ich, »und Deine Mutter weiß –« »Ach!« lachte Georg, »die weiß von gar nichts, die glaubt, der Caplan ist bei mir, aber der denkt nicht an mich!«

»Komm,« sagte ich, »wir wollen zu Deiner Mutter gehen.« »Da könnten wir schön laufen, ehe wir die fänden,« versicherte Georg, indem er sich halb unwillig von mir losmachte. »Mutter,« fuhr er fort, »geht alle Abend am See. spatzieren, und manchmal fährt sie auch im Kahn auf dem Wasser.« »Wer sagt Dir das?« unterbrach ich ihn schnell. »Tavanelli!« erwiederte er, als wenn sich das von selbst verstände. »O! der ist manchmal so böse, so böse, wenn sie gar nicht wieder nach Hause kommt. Er rennt durch alle Zimmer und schilt, und ächzt! Ich höre dies bisweilen wohl, wenn es auch so aussieht, als schliefe ich.«

Ich ließ das Kind nicht weiter die Geheimnisse des Hauses ausschwatzen. Ich mischte mich[360] in sein Spiel, ging mit ihm nach dem Stall, und blieb so lange bei ihm, bis er schläfrig ward, worauf ich ihn dann der Sorgfalt eines Bedienten überließ, der wohl beauftragt war, sich seiner anzunehmen

Aber Sie Unglücklicher, wohin führte Sie der eigennützige Wunsch, sich selbst genügen zu wollen? Kommt es auf Ihre Ruhe an, wenn Sie die Pflicht, für die Ruhe Anderer zu sorgen, übernehmen? Was gehen Sie fremde Irrthümer an? Genügt es nicht, das zarte Gefühl, dem Sie Ihr Streben widmeten, davor zu bewahren? Und weshalb erschrecken Sie vor Anfechtungen, die Ihnen nicht fremd sind? deren Schlingen Sie sehr wohl kennen? Glauben Sie ein Heiliger zu sein? Hofften Sie wirklich, der bloße Entschluß reiche zur gänzlichen Umwandlung hin? Mit sonderbarem Stolz finden Sie sich durch den Andrang menschlicher Widersprüche empört. Es dünkt Ihnen unbegreiflich, daß sich dergleichen bis zu Ihnen wagen. In der verlegenen Entrüstung darüber, durchkreuzen Sie den Kampfplatz mit feiger Scheu, ohne einem einzigen Feind ins Gesicht zu sehen.

Ja, ich schelte Sie feige, denn nur in dieser[361] schlimmsten Krankheit des Geistes entdecke ich den Grund Ihrer lahmen Willenskraft.

Wo suchen Sie ein Schild, fest genug, den zaghaft Zitternden zu schützen?

Sie haben es weggeworfen, Tavanelli! Es lag Ihnen ganz nahe. In der Liebe und Thätigkeit für das Kind, das man Ihren Händen anvertraute, fanden Sie Ihren Beruf; da, da hätten Sie eine Brustwehr gegen jede Gefahr gehabt. Jetzt –? Sehen Sie auf das, was Sie thaten. Sie haben Gift in die kleine Seele geworfen. Es wird nachwirken, verlassen Sie sich darauf.

In das Kloster zu dem Prior flüchten Sie, und beichten. Was beichten Sie denn? Auch die Sünde, die Sie in dem Augenblick begehen, da Sie sich selbst untreu werden? das Kind verlassen? die Zunge des Gesindes beflügeln, den Ruf der Mutter preis geben? O! zurück, zurück in Ihre Kammer, auf den Knien vor dem, der überall ist, der Ihren Muth beflügeln, Ihren Willen stählen kann. Halten Sie aus, Tavanelli! der Friede ist bei Gott. Auf Erden ringen seine Streiter. Hier giebt es keine andere Ruhe, als in der Zuversicht heiligen Ausganges. Ich wiederhole es Ihnen, weichen Sie nicht[362] von Ihrem Platz. Es ist die höchste Pflicht, damit nicht noch größeres Unglück geschehe.

Ich weiß nicht, welche Unruhe ich dieserhalb hege. Ihr Zimmer – das Kind – der Garten – es hat mir den allerpeinlichsten Eindruck gelassen.

Könnten Sie doch fühlen, daß Sie nicht der einzige Unglückliche auf der Welt sind! Es giebt Schmerzen! Schmerzen! – Aber ich klage nicht! Die nächste Stunde kann die entscheidende sein, und diese fordert den ganzen Menschen in all seiner Kraft! Erwägen Sie das, und halten Sie aus.

Quelle:
Caroline de la Motte Fouqué: Resignation. Theil 1–2, Teil 1, Frankfurt a.M. 1829, S. 359-363.
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