Virginia an Adele

[125] Philadelphia, im Dezember 1814


Sei gegrüßt, tausendmal gegrüßt aus der Neuen Welt, meine Adele! Es ist ein eigenes Gefühl, mit den Einwohnern eines andern Weltteils zu reden, und es fällt mir auf Augenblicke ordentlich schwer aufs Herz, daß ich nun bei keiner Lebensverrichtung mehr denken kann, jetzt tut vielleicht Adele dasselbe. Wenn ich von Gegenstand zu Gegenstand, betrachtend, irre und dabei Deiner gedenke, so schläfst Du, und mein Bild begegnet Dir nur in Deinen Träumen. Wenn mir die Sonne strahlend aus dem Meere aufgeht und mich mit neuer Lebenslust durchströmt, rufe ich Dir sanften Schlummer zu, und wenn sie sinkt hinter die fernen blauen Gebirge, bringe ich ihr meinen Morgengruß für Dich. Oh, wie ist alles um uns her so verschieden! und doch, denke ich, bleiben wir einig und unveränderlich. Göttliche Abkunft der Geister! sie sind unabhängig von Raum und Zeit.

Der Anblick meines neuen Vaterlandes ist mir gar fremd und wundersam gewesen. Die Küsten Europas sind meist unbewachsen und bieten fast überall einen offenen Landstrich dar; hier ziehen sich die dunkeln Urwälder noch häufig bis an das Meer hin, die Küsten sind bewachsen, buschig, der Eindruck romantisch, aber ernst. Die Ufer des Delaware sind mit Städten und Ansiedelungen geschmückt, und überall herrscht Fleiß und Tätigkeit, doch vermißte ich jene Lebendigkeit sehr, welche mich an meiner heimischen Küste ergetzte.

Philadelphia ist groß und schön, und die Regelmäßigkeit[125] seiner Anlagen spricht sogleich deutlich den Geist der Ordnung und Gesetzlichkeit aus, welcher hier herrscht. Ellison hat mich in seine Familie eingeführt, in welcher ich mit patriarchalischem Wohlwollen empfangen wurde. Da ich meinen Aufenthalt wenigstens auf längere Zeit hier zu nehmen gedenke, so will ich Dich mit den Personen bekannt machen, mit welchen ich lebe. Ellison, der Vater, ist ein kleiner hagerer Mann mit klugen Augen, ein tätiger Kaufmann, und meist nur auf dem Comptoir einheimisch. In Geschäften mag er gern den Charakter als Quäker behaupten, ob er gleich sich sonst, in Kleidung und Sitte, nicht an ihre strengen Regeln hält und nur höchst selten ihre Versammlungen besucht. Seine Frau ist eine wohlbeleibte lebendige Matrone, welche die herrlichsten weiblichen Eigenschaften einzig durch eine zu starke Beimischung von Pedanterie verdunkelt. Sie ist wirtschaftlich, aber ein zuviel verbrannter Schwefelfaden entflammt ihren heftigsten Zorn, ein zu kurz geputztes Licht, ein nicht ganz gerade gezogenes Rouleau veranlassen ihre Ordnungsliebe zu den längsten Strafpredigten. Ihre Wäsche ist, nach löblicher Sitte, numeriert; aber sie würde lieber nackt gehn als zu einer Schlafhaube Nr. 15 ein Hemde Nr. 14 anziehen oder Nr. 4 auf Nr. 2 folgen lassen. Neulich brach über ihre Tochter ein gewaltiges Ungewitter los, weil es sich entdeckte, daß sie in ihrer Tasche Nr. 9 ein Schnupftuch Nr. 10 trug. Sogleich wurde eine Revision ihrer Wäsche verhängt, es fand sich nun, daß auch die Strümpfe mit Nr. 10 bezeichnet waren, Sturm und starker Unwille brachen aus. Die arme Verbrecherin verteidigte sich vergebens damit, daß sie unversehens in eine Pfütze getreten und dabei vor Schreck ihr Tuch habe fallen lassen. Sie hätte sogleich auch das erst vor zwei Stunden angezogene Hemde wechseln und Tasche, Halstuch, Schlafhaube usw. ungebraucht in die Wäsche liefern sollen. Bei Gelegenheit des Beschmutzens erfolgte eine neue Predigt über die geziemende Ehrbarkeit, da es nicht wohl denkbar sei, daß, wenn[126] man den Blick immer fest auf den Boden hefte, man eine Pfütze übersehen sollte. Das gute Mädchen, die einzige Tochter des Hauses, leidet vorzüglich von der Pedanterie ihrer Mutter. Es ist ein liebes, frohes Geschöpf von Deinem Alter, eine bildschöne Blonde namens Philippine. Sie freut sich am meisten über meine Anwesenheit, welche ihr manche Erleichterung verschafft. Ellison, der Sohn, hat mich ihr auf das angelegentlichste empfohlen; sie liebt ihren Bruder über alles, und er verdient es in der Tat. Wenn ich ihn in diesen Umgebungen betrachte, so stellt er sich als eine schöne fremde Erscheinung dar, und man bemerkt nur an der Liebe, womit ihn alle umfassen und womit er allen begegnet, daß er Sohn des Hauses ist. Die ganze Familie macht die Bemerkung, daß er diesmal heiterer als jemals von seiner Reise heimgekehrt sei, und man scheint sich dabei, fast mit einer Art von Dankbarkeit, gegen mich zu neigen, was mich etwas verlegen macht. Seit einigen Tagen hat sich die Szene um etwas verändert und macht eine eigene Wirkung auf mich.

Ich fand es, nachdem ich gehörig Bescheid zu wissen glaubte, für gut, eines Morgens mich mit dem Inhalte des bewußten Kästchens zu Vater Ellison auf das Comptoir zu begeben, um solchen bei seiner Ehrlichkeit und Industrie unterzubringen. Er war überrascht und nahm mich recht wohlbehaglich auf. Eine volle Stunde unterhielt er mich von den verschiedenen Fonds, in welchen die Gelder, mit ansehnlichem Vorteil, arbeiten könnten. Ich bat ihn, die Angelegenheit zwischen uns beruhen zu lassen, glaube aber schwerlich, daß er imstande gewesen ist, sein Wort pünktlich zu erfüllen. Seitdem ist sein gastfreundlicher Ton viel rücksichtlicher geworden. Sein anfängliches Ansehn von Wohlwollen ist in eine Art von Ehrerbietigkeit übergegangen, welches jedem bemerklich werden muß. Mutter Ellison überhäuft mich mit Liebkosungen und ist gegen ihre Gewohnheit sinnreich, mir Zerstreuungen zu verschaffen. Sie veranlaßt kleine Spazierfahrten mit ihrem Sohn[127] und ihrer Tochter und fordert die letztere täglich auf, hier und dorthin mit mir zu gehen, um mir dies und das zu zeigen. Philippine macht mit Entzücken von dieser neuen Freiheit Gebrauch und liebt mich aufrichtig, als die Schöpferin ihrer Freuden. Nur William Ellison ist nicht so heiter als bisher; eine trübe Wolke lagert auf seiner Stirn, und ein fremdes Etwas scheint zwischen uns getreten zu sein. Gestern, als wir am Ufer des Delaware spazierenfuhren, blickte er lange schweigend dem Flusse entgegen. »So nachdenkend, William?« sagte ich und legte die Hand auf seinen Arm. Er fuhr aus seinen Träumen auf, preßte meine Hand und sagte wie erst halb erwacht: »Wäre unser ›Washington‹ dort untergegangen!« – »Schön«, rief Philippine lachend, »dann könnten wir uns heute nicht der lieblichen Winterlandschaft erfreuen.« – »Doch«, sagte er nach seiner lakonischen Weise, »Virginia ist leicht, ich schwimme gut.« Wir ließen das Gespräch fallen. Guter William! daß Virginia mehr gerettet als das nackte Leben, das scheint dir ein Hindernis deiner Wünsche? Oh, wäre nichts als das, zartsinniger Mann, ich würde es freudig in den Fluß werfen und mich in deinen Arm.

Aber es türmt sich eine andere Scheidewand zwischen uns auf, welche du nicht siehst, nicht ahndest, die ich selber hinwegschieben möchte, die aber nur stärker wird, sooft ich Hand daran legen will. Sieh, William ist so lieb und gut, ich achte ihn hoch, ich habe ihn so gern, ich kann mir stundenlang denken, wie glücklich eine Gattin mit ihm leben wird; aber wenn mir dann einfällt, daß ich diese Gattin sein könnte, dann versinkt plötzlich, wie durch einen Zauberschlag, das ganze Gemälde, und Mucius' Bild erscheint auf derselben Stelle und droht mir mit wehmütigem Lächeln. Ja, Mucius, ich bin dein! du hast recht! »Für die Ewigkeit!«, so sprachen wir. Guter William, ich kann nimmer die Deine sein. Wenn ich meine ersten Schwüre bräche, welche Bürgschaft hättest du für die zweiten?[128]

Das Leben hier sagt mir recht wohl zu, nur für die Länge mag es in der Stadt ein wenig langweilig werden. Die Gesellschaft der Freunde, woraus der größere Teil der Einwohner besteht, sind sehr brave, rechtliche Menschen, nur etwas zu pedantisch in ihren Sitten. Ich stimme den meisten ihrer Grundsätze und Einrichtungen mit inniger Überzeugung bei, kann aber durchaus nicht begreifen, warum der Geist der Fröhlichkeit damit unvereinbar sein sollte. Kann es dem höchsten Wesen wohlgefällig sein, auf lauter ernste oder traurige Gesichter zu blicken, und können Tanz und Spiel der wahren Tugend zuwider sein? Daß doch des Menschen Wahn immer auf Übertreibungen fällt, er in seinem geistigen Stolze nicht auf die Winke seiner Lehrerin, der Natur, achtet! Das höchste Glück, welches ich hier finde, ist die völlige Freiheit der Meinungen. Niemals hört man weder einen religiösen noch politischen Streit; ein jeder sagt ohne Rückhalt sein Urteil und hört ruhig ein entgegengesetztes an. »Es ist möglich, daß du recht hast«, sagt der eine, »mir scheint es jedoch so, aber ich kann irren«; der andre äußert sich ebenso, und kein Tropfen Wermut fällt in den Becher der Freundschaft. Diese Mäßigung ist um so bewundernswürdiger im gegenwärtigen Augenblick, wo der Krieg und die daraus entsprungenen Unglücksfälle die Gemüter mehr als gewöhnlich spannen. Nur unter diesem ruhigen Volke konnte die Freiheit ihren Sitz aufschlagen, ohne daß ihr Weg mit Blut bezeichnet wurde. Mir ist, als ob ich hier ausruhte von all dem Weh, welches mein armes Herz in den letzten Jahren unaufhörlich bestürmt hat, als ob ich nach langer Pilgerschaft Quarantäne hielte. Diese ist freilich nicht sehr ergetzlich, aber sie sichert die Gesundheit, und deshalb sei sie meinem Geiste willkommen. Zwar schüttelt er oft ungeduldig die Schwingen und will mich hinziehen und -tragen zu jener erhabenen Bundesstadt, wo sich das neue Kapitolium baut, zu Schutz und Hut der köstlichen Freiheit. Aber ach! die Goten aus Albion haben[129] Frevlerhände an die entstehenden Heiligtümer gelegt und weilen noch immer in der Nähe. Tief wird dies hier empfunden, doch hofft man, bald den Frieden hergestellt zu sehn und die empfangenen Wunden zu heilen. Wie aber auch Europa sich dagegen sträuben mag, die Neue Welt wird, in kurzem, zur riesenstarken Manneskraft gelangen, und wehe Europa, wenn sie jemals den Gedanken faßt, die Beleidigungen zu rächen, welche ihre Kindheit erfuhr. Nicht der Norden allein ist frei, auch im Süden schüttelt man die überseeischen Ketten ab. Wenige Jahre noch, und das Panier der Freiheit weht von der Hudsonsbai bis zur Magellanischen Meerenge, und unter seinem Schatten blühen Wissenschaften und Künste, aus allen übrigen Weltgegenden dahin verpflanzt.


Das neue Jahr ist hier mit viel schönen Hoffnungen und tausend guten Wünschen begonnen worden. Ich hatte am ersten Tage desselben eine lange Unterredung mit William, welche unsern unsichern Standpunkt gegeneinander wieder einigermaßen festgestellt hat. Er schickte mir am Morgen, nach der Sitte meines Vaterlandes, einen großen Korb voll der auserlesensten Treibhausfrüchte und Blumen; ich hatte ihm dagegen, sowie der übrigen Familie, einige künstliche Arbeiten verfertigt, welche hier noch neu waren und viel Bewunderung erregten. Sehr natürlich hatte er das Vorzüglichste erhalten. Er kam, mir mit vieler Freude zu danken. »Es ist für meine Verbindlichkeit und für meinen guten Willen sehr wenig«, sagte ich ablehnend, »ich wollte, ich könnte mehr für Sie tun.« – »Sie können nicht?« fragte er. »Ach, Sie könnten unendlich viel gewähren, wenn ich nur wünschen dürfte.« – »Hören Sie, William«, sagte ich, »Sie haben sich mir zum Bruder erboten, so lassen Sie uns auch geschwisterliches Vertrauen bewahren.« – »Geschwisterliches?« sagte er kleinlaut. »Ja«, fuhr ich fort, »als Schwester will ich jetzt mit Ihnen reden. Alles, was ich habe und besitze, habe ich durch Sie gerettet, und ich[130] lege nur insofern einigen Wert darauf; sonst weiß ich die Zufälligkeit der Erdengüter zu würdigen und schätze nichts als den Geist. Ich kenne den Ihrigen, der meinige ist ihm verwandt.« (Er rückte mir freudig näher.) »Es gibt aber der verwandten Geister mehr«, fuhr ich fort, »und die ersten Bande dürfen nicht durch spätere gelöset werden.« – »Frühere Bande?« rief er erschrocken. »Nein, nein, unmöglich, wie hätten Sie da Ihr Vaterland so willig verlassen können, wie könnten Sie in der Fremde so heiter sein!« – »Fremd ist mir der ganze Erdkreis«, sagte ich, »meine Heimat ist seit langer Zeit dort oben.« – »Tot?« fragte er. – »Tot«, erwiderte ich, und nachdem ich mich etwas gefaßt hatte, erzählte ich ihm die Geschichte meines Herzens. Er hörte mich mit Teilnahme an, und oft glänzten Tränen in seinen Augen. Wir schwiegen beide lange, nachdem ich geendet, dann beugte er sich über meine Hand, und als er sich wieder emporrichtete, flog ein Schimmer von Freude über sein Gesicht. »Mit einem edlen Toten die Neigung dieses schönen Herzens zu teilen scheint mir ein seliges Los«, sagte er, »und in jenen Regionen des Lichts fordert man kein Eigentum mehr.« – »So will es auch mir oft scheinen«, antwortete ich, »doch widerspricht ein unerklärliches Gefühl augenblicklich dem Verstande. Lassen Sie mir Zeit, lieber William, ob vielleicht dieser Zwiespalt in meinem Innern sich löst, viel, viel Zeit, und mag es ausfallen, wie es wolle, wir müssen Freunde bleiben, fest und unzertrennlich für dieses Leben.« Ich hielt ihm die Hand hin, er schlug versichernd ein. Seitdem ist er wieder heiterer; er hofft. Ich hege keine Hoffnung, aber ich fühle mich erleichtert und darf ganz vertraulich mit ihm umgehen. In meiner Brust herrscht tiefer Friede; um die lieben Verlorenen fließt zwar manche einsame Träne, doch trocknet sie das Bewußtsein des Wiedersehens. An die übrige Vergangenheit werde ich nur selten erinnert und meide es fast, von meinem lieben Frankreich zu hören. Ach, wenn das Vaterhaus abgebrannt ist, dann überfällt[131] uns Grauen, die Brandstätte zu sehn; und wird schon gleich an derselben Stelle ein Palast aufgebaut, es ist die freundliche Wohnung nicht mehr, woran so schöne Erinnerungen haften. Nur von Dir möchte ich so gern Nachrichten haben und sehne mich vergebens danach; der böse Krieg hemmt den freien Verkehr der Länder gar sehr. Sonst wäre auch William schon längst in See gegangen, um mir Kunde von Dir zu verschaffen und dies neben mir liegende, ungeheure Pack Geschriebenes sicher in Deine Hände zu befördern. Bis dahin muß ich schon fortfahren. Ein günstiges Geschick wird es wohl zu Deinen Händen bringen. O tätest Du doch ein Gleiches! Ich kann mir das Leben und Treiben in Paris kaum mehr denken, es ist bei uns alles so ganz anders. Kein Schauspiel, keine Maskeraden, wenig kirchliches Gepränge, wenig Musik, aber viel Familienfeste, viel Teezirkel, häufiges Spazierengehen und -fahren. Die Gegend ist schön, der Winter gemäßigt, wie in dem südlichsten Frankreich. Bald wird er ganz von uns scheiden, und dann muß die Landschaft entzückend sein, wenn mit dem ernsten Grün der Zedern und Tannen sich das helle Laub des Platanus und der zahllosen Nußbäume mischt. Als ich hier ankam, hatte das Ganze schon ein falbes und bräunliches Ansehn. Ich freue mich wie ein Kind über das Aufkeimen der jungen Pflanzenwelt, immer war sie es, wohin ich mich flüchtete, wenn das Leben mich zu rauh berührte. Hier duftet mir heilender Balsam für jede Wunde, und der Odem des Friedens haucht durch die zarten Halme und Blüten. Überall in der belebten Natur zeigt sich das widrige Bild der kämpfenden Leidenschaften; nur die Pflanzen blühen friedlich beisammen, liebend sich zueinander neigend und strebend, sich mit zarten Ranken zu umarmen. Darum sei mir gegrüßt, freundliche Blumenwelt, ihr säuselnden Bäume und ihr zarten Halme des Grases, zwischen welchen ich so oft stundenlang lagerte und mit inniger Lust den Wanderungen kleiner glänzender Käferchen, dem Spiel bunter Schmetterlinge zusah und[132] mich und die übrige Welt vergaß. Nirgend auf dem Erdenrund kann Virginia unglücklich sein, wo sie frei und die Natur nur nicht ganz öde ist. Der Mensch macht so viel Anstalten, um glücklich zu sein, und er bedarf so wenig!


Noch keine Nachricht von Dir, und der Frühling ist schon in seiner vollen Pracht bei uns eingezogen. Man hat um meinetwillen ein sehr malerisch gelegenes Landhaus unweit der Stadt bezogen, und fast bin ich froh wie einst an der Durance. Den größten Teil des Tages bin ich mit meiner Philippine allein, weil der Vater nicht das Comptoir, die geschäftige Mutter nicht das Hauswesen verlassen mag. William besorgt die Befrachtung seines Schiffes, mit welchem er wieder nach Europa zu segeln gedenkt, da der Friede so gut als abgeschlossen ist. Nach Tische aber versammelt sich die ganze Familie, dann und an Feiertagen werden köstliche Spazierfahrten am Delaware oder am Schamuny gemacht und Besuche auf mancher freundlichen Pflanzung. Morgens schwärme ich oft mit Philippinen umher und kehre, wenn wir ermüden, auf dem Meierhofe eines ehrlichen Quäkers oder auf der kleinen Besitzung eines Negers ein, wo wir, ohne Unterschied, mit gleicher Herzlichkeit empfangen werden. Die schwarzen Pflanzer stehen an Betriebsamkeit den Weißen nicht nach und werden ihnen nach fünfzig Jahren vielleicht an Vermögen ziemlich nahekommen, da sie fleißig die Schulen zu besuchen anfangen und ihre Bildung in der Nähe der Städte merklich fortschreitet. Unfern Paris würde es wohl sehr auffallen, zwei junge Mädchen, im Morgenkleide und im Sonnenhute, durch Felder und Gehölze streifen zu sehen; hier ist dies, Dank sei den schuldlosen Sitten des Landes, gar nichts Ungewöhnliches. Die treuherzigen Pennsylvanier grüßen uns überall mit freundlicher Unbefangenheit und reden uns mit dem vertraulichen Du an, welches ich so gern höre, weil ich es in meiner Kindheit so allgemein vernahm. Philippine hat sich mit leidenschaftlicher Liebe[133] an mich gehängt, und ich umfasse das holde Mädchen mit schwesterlicher Zärtlichkeit, freilich nicht in dem Sinne, wie es die Familie zu erwarten scheint. Überhaupt ist dies die Kehrseite meines sonst so glücklichen Lebens, daß man etwas voraussetzt, wovon ich mich noch weit entfernt fühle. Der Vater ist voll Eifer für die Benutzung meines Vermögens, macht dabei so listige Anmerkungen, nennt mich oft sein liebes Töchterchen und gibt mir zu verstehen, daß ich einst um das Dreifache reich sein würde. Die geschäftige Mutter schürt noch emsiger zu und spricht oft schon weitläufig über künftige häusliche Einrichtungen. Der arme William ist dabei auf Kohlen und wendet all seinen Fleiß an, solche Gespräche abzubrechen, weshalb er manches unwillige Gesicht von der Mutter erhält, wenn er den Fluß ihrer Rede unterbricht. Es ist ein kleiner Sturm zu befürchten.


William hat schon erklärt, daß er nächstens in See gehe, aber man rechnet darauf, er werde zuvor noch eine Verbindung mit mir unauflöslich machen. Was wird man aber sagen, wenn man sieht, daß dies nicht der Fall ist? was, wenn man erfährt, daß ich eine große Reise nach Washington und von da zu den Seen und dem Niagara zu machen gedenke? William, welcher gern auf alles eingeht, was mir Freude macht, hat zu dieser Reise schon im stillen die besten Anstalten getroffen. Er gibt mir seinen eigenen Bedienten mit, einen treuen und erfahrenen Menschen, welcher schon einen großen Strich jener Gegenden durchreist ist, dann zwei ehrliche Schwarze, auf welche er sich verlassen kann, Vater und Sohn. Der Vater, John, war in seiner früheren Jugend als Sklave in Virginien, entlief damals seinem strengen Herrn und geriet zu den Wilden, welche ihn aufnahmen. Er war sechs Jahr unter ihnen und lernte ihre Sprache und ihre Sitten vollkommen. Im Kriege zog der Stamm, bei welchem er sich befand, den Engländern zu Hülfe, wurde aber in einem Gefechte mit den Amerikanern zerstreut, und John geriet auf seinem[134] Irrwege nach Pennsylvanien, wo die menschenfreundliche Begegnung ihm so wohl gefiel, daß er dort seinen Aufenthalt nahm. Er fand bald Arbeit, erwarb sich nach und nach ein kleines Eigentum, heiratete eine freie Schwarze und ist jetzt Vater von fünf Kindern, drei Söhne und zwei Töchter, welche alle verheiratet sind, bis auf die jüngste Tochter, welche mich, sowie einer ihrer Brüder, ebenfalls begleiten wird. Seine Hütte und sein kleines Feld grenzen nahe an Ellisons Landhaus, deshalb kennt ihn William seit seiner frühesten Jugend und wird von dem Alten, fast mehr als seine eigenen Kinder, geliebt. Überhaupt ist Anhänglichkeit und unerschütterliche Treue ein vorzüglicher Charakterzug dieser guten, bis jetzt so unterdrückten Menschengattung. Wer nur irgend Wohlwollen und Aufmerksamkeit gegen sie blicken läßt, kann ihrer innigen Liebe versichert sein. Ich habe oft auf unsern Morgenstreifereien die kleinen schwarzen Buben geherzt und mit dem Alten freundlich geredet, aber dafür könnte ich auch mit ihm bis zu den Huronen reisen, er würde jede Gefahr von mir abwenden und mich nur mit seinem letzten Lebenshauche verlassen. Zittre daher nicht, liebe Adele, vor den Schrecknissen, welche diese Reise für mich haben könnte. Das Land ist so wüst nicht mehr, als du es vielleicht noch aus früheren Reisebeschreibungen kennst. Es gehen regelmäßig Landkutschen von hier auf Baltimore und Washington, Landstraßen und Wirtshäuser sind nach allen Richtungen angelegt, und wo diese in der Gegend der Seen aufhören, da geht für mich der romantische Teil der Reise erst recht an. Ein leichtes Fuhrwerk ist bald gekauft, ja selbst für eine Fußreise habe ich hinreichende Kraft und Lust. Wenn Du diesen Brief erhältst, welchen William heilig gelobt hat nach zwei Monaten in Deine Hände zu liefern, dann kannst Du denken, daß ich an dem großen Wasserfalle sitze, wohin mein Herz mich mit einer unwiderstehlichen Sehnsucht zieht, wie den Wilden,welcher dorthin geht, um den Großen Geist anzubeten.[135]

Vor der Abschiedsstunde graut mir recht von Herzen. Soll ich den armen William ohne Hoffnung ziehen lassen? und kann ich ihm Hoffnung geben? Soeben war er hier und meldete mir, daß sein Schiff segelfertig liege und der Wind sich günstig zu wenden scheine. Meine Augen wurden feucht, der Gedanke, den Freund, den Beschützer meines Lebens zu verlieren, drang schmerzlich auf mich ein. Er trocknete schnell meine Tränen mit seinem Tuche ab und drückte dies an seine Lippen. »Du sollst mich begleiten und mich stärken«, rief er, »wenn die Niedergeschlagenheit zu mächtig werden will!« – »Guter William«, sagte ich, und meine Tränen flossen stärker, »ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr geben.« – »Sie wünschen es und können nicht?« sagte er erblassend. »Jetzt noch nicht.« – »Wann aber?« – »Wenn wir beide unsre Reise beendigt haben.« – »Was kann da verändert sein?« – »Viel, o viel, lieber William! Das Leben steht ja nie still, und in vier, fünf Monden verändert sich die Erde so sehr.« – »Auch das Herz? auch das Herz, Virginia?« rief er heftig. »O welche Aussicht eröffnen Sie mir!« – »Sie kennen die seltsame Lage meines Herzens«, sagte ich, »ich habe Ihnen niemals meine Gefühle verhehlt, und auch jetzt mag ich Ihnen einen fast mir selbst lächerlichen Gedanken nicht bergen. Es scheint mir nämlich, als könne nur am Fall des Niagara der Zwiespalt sich lösen, welcher in meiner Seele sich erhoben hat, seit ich unter Ihrem Schutze lebe.« – »Ach, es ist nur der Wunsch nach weiter Entfernung von mir«, sagte er mit traurigem Kopfschütteln. »Nein, nein!« rief ich, »ich verlasse Sie mit Schmerz, aber ein unerklärliches Etwas reißt mich fort. ›Am Niagara!‹ tönt es in meinen Träumen; und wie andre Pilger sich gen Osten wenden, so scheint mir im Westen die Sonne der Verheißung zu glänzen. Ihr Weg geht dem Osten zu, o möchte die freundliche Morgenröte auch Ihrem Herzen Hoffnung schimmern!« – »Ich lasse die Hoffnung hier zurück«, erwiderte er. »Ach, das Meer zieht mich nicht mehr an, wie ehemals, mit seinem ewigen[136] Wechsel! Wäre es nicht, um Ihnen Nachrichten zu verschaffen, ich würde schon diese Reise nicht mehr unternehmen; es wird die letzte sein. Der stille Reiz des heimatlichen Lebens spricht mächtig zu meinem Herzen, mein Sinn strebt nicht mehr in die Weite hinaus. Was ist der Lohn des Weltumseglers? des Welteroberers? Ruhm, kalter Ruhm. Aber auch Glück? Nein, das Glück wird ewig vor ihm fliehen, es wohnt nur in der stillen Hütte, wo ein treues Weib ihm lächelt und muntre Kinder um ihn spielen.« – »Wohl, wohl!« sagte ich gerührt, »auch ich kannte den seligen Frieden der begrenzten Heimat, und mein Herz sehnt sich dahin zurück, wie nach dem Paradiese der Unschuldswelt. Aber ein feindseliges Geschick vernichtete mein Eden, und wie die Trümmer einer zerstörten Welt muß ich irren durch den Raum, bis ich meinen Pol finde und meine Bahn.« – »Sie glaubten hier die Ruhe zu finden«, sagte er mit halbem Vorwurf. »Was glaubt, was hofft nicht der Mensch!« erwiderte ich. »Auch fand ich viel. Schon fühle ich mich im Vorhof des Heiligtums, die Balsamdüfte der Paradiesesblüten wehen schon zu mir herüber, o lassen Sie mir Zeit, den Eingang zu suchen.« – »Ich habe nur Wünsche«, sagte er und verneigte sich mit Entsagung; »die ersten und heißesten sind für Ihr Glück. Ich bin auf alles gefaßt, nur Sie auf immer zu verlieren, der Gedanke übersteigt meine Kraft.« – »Auch ich darf ihn nicht denken!« rief ich und ergriff seine Hand; »empfangen Sie meinen Schwur, daß, wie auch unser Verhältnis sich wende, ich mich nicht von Ihrer lieben Nähe trennen will, bis der Tod uns scheidet.« – »Oh, Virginia!« rief er und hob meine Hand zwischen seinen gefalteten Händen empor, »welch einen himmlischen Trost geben Sie mir zum Reisegefährten. Nimmer will ich mehr verlangen, wenn Sie es nicht selber wünschen.« Mit freudestrahlendem Gesicht verließ er mich.
[137]

Er hat der Familie seine Abreise angekündigt, die mißvergnügten Gesichter aber augenscheinlich durch den Zusatz aufgehellt, daß dies die letzte Fahrt sein solle und daß er dann eine Lebensart aufgeben werde, welche der Vater immer nur ungern zugelassen hat. Dieser hofft, ihn für sein Handlungshaus zu gewinnen, ich glaube, er trügt sich; Williams Sinn strebt nach der Stille des Landlebens, ihm fehlt der spekulative Geist, dessen der Kaufmann bedarf.

So muß ich denn diese Blätter schließen und siegeln; mögen sie glücklich zu Dir gelangen, meine Adele. Mein ganzes Sein haucht Dir aus ihnen entgegen, nimm sie freundlich auf und tausche sie gegen andere von Deiner Hand aus, worauf ich so sehnlich hoffe. Gib mir Kunde von den Deinen, vorzüglich von Deiner guten Mutter; grüße diese herzlich von mir. Schreib mir auch, ach, nur in wenigen Worten, was mein armes, liebes Frankreich macht. Glücklich scheint es nicht zu sein, es kommen viel Ausgewanderte hier an. Seit einigen Tagen verbreitet sich ein Gerücht, welchem ich aber keinen Glauben beimesse, die Schiffernachrichten sind öfters falsch.

Übermorgen reise ich mit meinem kleinen Gefolge ab. Die Mutter schüttelt zwar sehr den Kopf zu dieser Wallfahrt, doch sie ist mit sorglicher Geschäftigkeit bemüht, alles zu ordnen und herbeizuschaffen, was ihr zu meiner Bequemlichkeit nötig scheint. Der Vater gibt mir Empfehlungsschreiben nach Baltimore und Washington mit. Philippine weint schon im voraus über die lange Trennung und tröstet sich nur durch mein Versprechen, daß ich dann auf immer bei ihr bleiben wolle. Es wird mir in der Tat schwer, mich von diesem Mädchen und von diesem freundschaftlichen Hause zu trennen; aber der Zug nach Westen ist stärker als die Freundschaft, ja selbst stärker als meine Vernunft.

Lebe wohl, meine Adele! Tausendmal lebe wohl! William eilt an Bord und nimmt Abschied von Deiner


Virginia.[138]

Quelle:
Henriette Frölich: Virginia oder Die Kolonie in Kentucky. Berlin 1963, S. 125-139.
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