IV

[91] Als ich am Morgen heimkehrte, lag die Baronin in Beklemmung und Fieber. Freund Weise, der Dorftölpel, der ohne Wahl nun schleunigst zu Hülfe gerufen werden mußte, konstatierte eine Lungenentzündung und dringende Gefahr.[91] Da weder die kindliche Tochter, noch die alte Hausverwalterin zur Pflege ausreichten, pries ich mich glücklich, in einer noch rüstigen Schulmeisterswitwe eine Wärterin aufzutreiben, die denn auch ihrer Schuldigkeit mit redlichem Willen und ohne allzu ärgerlichem weibischen Unverstand oblag. Da ihr Mann, wie alle ländlichen Lehrer, die Orgel seiner Kirche gespielt und Bach geheißen hatte, hörte sie, als Namensmuhme unseres berühmten Landsmannes, sich gern »Frau Organistin« titulieren, und wir gewährten ihr mit Vergnügen diesen stolzen Ohrenkitzel.

Ich schreibe keine Krankengeschichte, die in einem lieben Herzen die leidvollsten Erinnerungen wecken würde. Sind es doch lediglich deren Konsequenzen, über welche ich mich in diesem Bekenntnis zu rechtfertigen oder mindestens zu entschuldigen habe. Vor mir selbst ist es mir niemals gelungen.

In der bitterbösen Zeit, die nun folgte, erklomm die weltlustige Frau eine Seelenhöhe, die ich ihren Kräften nimmer zugetraut hätte. Sie litt ohne Klagelaut. Hatte sie in gesunden Tagen das Ende eines freudelosen Lebens herbeigesehnt, nun, da sie krank war, wollte sie leben. Sie zwang sich, Nahrung zu nehmen, die ihr widerstand, folgte der unbequemsten Vorschrift, übte jegliche Schonung, und gewiß, nicht Reiz und Lust des Daseins, Mutterängste und Mutterliebe waren es, die den Willen zum Dasein anfachten. Leider zu spät!

Es gibt ja Pflanzen auch edler Art, die ohne hohen Wärmegrad gedeihen; des Lichts aber kann keine einzige entbehren. Sie recken und strecken sich ihm entgegen, und können sie es nicht erreichen, arten sie aus oder sterben ab. Solch eine Pflanze, die sich hülflos nach dem Licht der Freude[92] reckte, war die schöne Frau allzulange gewesen, um nun, da sie sich vorsetzte, im Schatten auszudauern, nicht wurzelkrank hinzuwelken.

Als nach etlichen Wochen die Entzündung gehoben und nur ein Übermaß der Erschöpfung zurückgeblieben war, schien sie, wie manche wirklich Kranke, an den Tod, dem sie sich in der Einbildung verfallen gewähnt hatte, nicht mehr zu denken, wenn es nicht etwa Rücksicht für andere gewesen ist, aus welcher sie das Bewußtsein seines Nahens unter einem Lächeln verbarg. Seltsame Erfahrung, daß so manches lebenslustige Weltkind mit tapferem Mute stirbt, als erfüllte es eine Anstands- oder Ehrenpflicht; dahingegen ich von keinem einzigen unlustigen Kalmäuser gehört habe, der ohne Zagen oder Verdruß aus dem Leben geschieden sei.

»Nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse gehen Auszehrer bald nach dem Hornung ein,« erklärte die weise Michelin; aber auch wir anderen hatten sie aufgegeben. Nur Lori dachte, seitdem die Kranke das Bett wieder verlassen hatte, nicht mehr an Gefahr, und von dem, was Sterben heißt, machte sie sich kaum eine Vorstellung. Als der Tod ihr so jäh den Vater nahm, lag sie fiebernd am Scharlach darnieder; bei zurückkehrendem Bewußtsein war er auf einmal fort. Wohin? Im Himmel! Sie war dazumal auch den Jahren nach ein Kind; sie vergaß bald, was sie nicht mehr sah. Bei der Mutter hatte sie sich an einen leidenden Zustand gewöhnt; nun freute sie deren früherhin so sparsames Lächeln, sooft sie um sie sein durfte; aber sie durfte seltener denn je um sie sein, weniger denn je sie liebkosen; die Kranke fürchtete eine Ansteckung. Sie litt nicht mehr, daß die Tochter bei ihr schlafe, nicht mehr, daß sie mit ihr esse. »Mama will Ruhe haben!« tröstete Lori sich[93] und hielt sich zu ihrem Väterchen. Das aber war beflissen, dem Kinde die Ahnungen von des Lebens herbster Bitternis und seiner sichersten Wissenschaft, der vom Vergehen, so lange als möglich fernzuhalten.

So führten wir denn den Winter über unser gewohntes Treiben in Forst und Schulstube weiter; nur etwas ernster, sozusagen jungfräulicher hätte ich den Sinn des nahebei fünfzehnjährigen Mädchens richten, dessen lange winterliche Freistunden, meine Geschäftsstunden, in weiblicher Weise ausfüllen mögen. Um Gottes willen keine Langeweile, die für den Halbwüchsigen noch weit mehr wie für den Erwachsenen ein Gift ist! Das tote Puppenspiel, welches das mit dem Miezchen abgelöst hatte, hielt nicht lange vor; nachbarliche Kameradinnen waren nicht aufzutreiben; zur Ausbildung einer sogenannten künstlerischen Fertigkeit fehlte es wie an Anlage und Gelegenheit, so auch an Lust; Lektüre, die unterhält, ist für ein junges Blut ein gefährlicher Zeitvertreib, auch war die Tochter so wenig wie die Mutter eine Leserin. Was blieb also übrig als Handarbeit, die ja eine allgetreue weibliche Nothelferin ist, und in welcher, mehr noch wie in der geistigen, die Kleine ein armes Stümperchen geblieben war. Die nervenschwache Mutter war im Lehren der Zierlichkeiten, zu deren Übung die Not sie selbst gezwungen hatte, kläglich gescheitert, aber auch das Rühren von Strick-, Stopf- und Nähnadel zu nützlicheren Zwecken, deren Anleitung die Frau Organistin sich geduldig unterzog, blieb ein saures Geschäft, weit saurer als das Studium von Lettern und Ziffern unter den Augen des Väterchens.

Da tat ich denn schlechthin einen Glückswurf mit einem Spinnrädchen, das ich aus Leipzig kommen ließ; zierlich[94] aus Ebenholz geschnitzt und mit Perlmutter ausgelegt, war der bloße Anblick ein erfreulicher, das Schnurren und Drehen aber, das Bewegen auch der Füße gab anregendes Leben; mochte es auch kein Spinnenweb sein, das die rundlichen Finger zogen, ei nun! Stillsitzen war die Hauptsache, da aus dem flatternden Waldkinde sich doch nun einmal ein häusliches Weib entpuppen mußte. Wird überdies in der menschlichen Wirtschaft denn nicht weit mehr hausmachender Drell als feiner Batist gebraucht? Die Mütter Penelope und Kornelia haben auch nur Wolle und Mutter Berchta im germanischen Urwald hat ganz gewiß nur kräftigen Hanfzwirn gesponnen.

Der verhängnisvolle Hornung und auch die Frühlingssonnenwende gingen schonend an der Kranken vorüber. »Aber«, sagte die Frau Försterin, »was der März nicht will, nimmt der April,« selbstverständlich nach Gottes allweisem Ratschlusse, und diesmal hatte sie den zutreffenden prophezeit.

Es war am Spätnachmittag; Lori hatte der Mutter die ersten Veilchen gebracht; ein Lenzeshauch erfüllte das halbdunkle Krankenzimmer; und war es nun diese linde Würze, war es der Kontrast der sorglosen Kinderfreude mit der Schwere des eigenen Gemütes, der die Leidende überreizt hatte, sie sank plötzlich betäubt auf ihrem Stuhle zurück, die Augen halb geschlossen gleich einer Toten. »Ist das Schlaf?« fragte Lori, zum ersten Male von angstvollem Ahnen durchbebt. Sie warf sich über die leblose Gestalt, küßte ihre Hände, ihre Lippen, hauchte ihren warmen Atem auf die eisige Stirn, ihre heißen Tränen rieselten über die marmorkalten Wangen. Als aber nach ein paar eingeflößten Äthertropfen die Ohnmächtige sich belebte und dem[95] Kinde freundlich zulächelte, da rief es getröstet: »Es war Schlaf!«

Und bald schlief sie dann auch wirklich; den letzten Schlaf vor dem ewigen. Ich verabredete mit Frau Bach eine geteilte Nachtwache und nahm deren erste Hälfte für mich in Anspruch, Lori, die ein paar Stunden still neben der Mutter gesessen hatte, deren Hände in den ihren, ging willig zu Bett, ohne Sorge. »Gute Nacht, Mama, gute Nacht!«

Ich war allein bei der Kranken; sie merkte meine Nähe nicht, wiewohl sie halb erwacht war; sie lag ganz ruhig, nur die Finger spielten mit den Veilchen, welche Lori über die Bettdecke gestreut hatte, und die Lippen bewegten sich lautlos, dann leise flüsternd. Die Gedanken wanderten. Einmal verstand ich: »Elle vit – jusqu'à son nom – mourir avant sa mort.« Von den wenigen Büchern, die sie in ihrer glücklichen Zeit gelesen, waren die Memoiren der letzten Valois ihr das beweglichste gewesen. Sie hatte derselben wieder holt gegen mich erwähnt. Nun schwebte das Bild der schönen verlassenen, königlichen Sünderin, ihr geschichtliches Lieblingsbild, ihr in der Sterbestunde vor.

Dann eine lange Stille. Finger und Lippen ruhten, die Lider waren gesenkt. Ich horchte nach dem letzten Atemzug. Plötzlich aber schlug sie die Augen auf; die Blicke irrten rechts, irrten links, sie richtete den Kopf in die Höhe und ließ ihn machtlos sinken. Ächzende Laute entrangen sich der wogenden Brust.

»Allein! – Ganz allein! – Kein Bruder – keine Schwester – kein Mensch! – Vater tot! – Mutter tot! – Alle tot!« –

»Nicht alle!« unterbrach ich ihre Qual, indem ich hinter dem Bettbehang vortrat. »Ich lebe, Lorenza, ein Freund!«[96] Sie sah mich ungewiß an. »Herr – Herr! –« hauchte sie, »Väterchen? wo – wo?«

»Lori schläft,« sagte ich, »und auch Sie sollten schlafen, gnädige Frau. Nehmen Sie!«

Ich reichte ihr das Pulver, welches der Doktor für den letzten Kampf zurückgelassen hatte. Der starke Moschusduft belebte sie einen Moment, bevor die narkotische Wirkung eintrat.

»Ich sterbe!« rief sie mit fester Stimme von wunderbarem Klang. »Aber Sie leben, Sie! Meine Lori, mein Kind – –«

»Wird mein Kind sein, Lorenza, so wahr Gott mir helfe!« sagte ich, indem ich ihre Rechte in die meine legte. Sie machte einen Versuch, sie an ihre Lippen zu ziehen, und neigte das Haupt bis auf die Brust. Dann jener unvergeßliche, große Aufblick, bevor das Auge bricht. Eine Stunde später stand der Atem still.

Ich weckte weder das Kind, noch die Wärterin. Ganz allein saß ich neben der sterbenden, dann, bis der Morgen graute, neben der toten Frau, ihre Hand in der meinen, das Auge unverwendet auf ihr Antlitz gerichtet. Als meine Mutter endete, war ich neugeboren, als mein Vater, nicht daheim. So war sie der erste Mensch, dessen Blut ich erkalten fühlte, dessen Augen ich zudrückte. Der Adel ihrer Schönheit war mir nie im Leben wie in diesen ersten Stunden nach der letzten offenbar geworden; ein verklärender Zauber breitete sich über die stillgewordenen Züge. Der Frieden nach dem Kampf! Die Lippen lächelten wie aus lichter Höhe hinab in das Schattental. Wohl ihr! Ihr Erbe aber, ihr einziges, hatte sie mir vermacht. Ihr Kind war meines geworden. Wohl mir![97]

Und nun kam der Tag und mit ihm das Schwerste: eines Kindes erster Schmerz! Sein Erstarren, seine Schauer vor dem unfaßbaren Totenbild; dann der Ausbruch der Natur, das Aufschäumen des verwandten Blutes, Liebesrufe, zärtliches Umfassen; als aber kein Laut dem Laute Antwort gab, kein Druck der kalten Lippen den warmen Kuß erwiderte, da der volle Jammer der Verwaisung, Wehklage, strömende Tränen, als ob das junge Leben sich dem entflohenen nachweinen wollte in den Tod, und unter denen es sich doch nur in einen kindlichen Schlummer weinte.

Während dieses Schlummers wurde die Leiche gekleidet, mode- und standesgemäß mit dem Schönsten, was die Garderobe bot: die rosenfarbene Robe, welche die Lebende an ihrem letzten Hoffnungstage getragen hatte. Und dann pflückten ihres Kindes Hände die Anemonen und Veilchen des Gartens und der Heide zum letzten Liebesschmuck. Nicht reich genug konnte die Blumenhülle werden, nicht Frühling genug über dem Winter Tod. Kindestrost! Und nach ihm kam die Trösterin aller, die Nacht mit ihrem Vergessen.

Wir hatten Lori in die Försterwohnung gebettet, da aber schon am nächsten Morgen Spuren des Übergangs sich zeigten, verschloß ich die Tür des Totenzimmers und wehrte der Tochter, dort einzutreten, daß sie ein gutes Bild von ihrer Mutter in der Erinnerung trage. Da schlich sie denn lauschend und lauernd und wimmernd von Tür zu Tür, wie – ich schäme mich nicht des natürlichen Vergleichs – wie, ach! ein armes Hündchen, das nach dem verlorenen Herrn spürt. Das Hündchen aber winselt mit trockenen Augen, wenn es den Verlorenen[98] nicht findet, und das Kindchen weint und weint sich Trost.

Das Letzte ersparte ich der Tochter nicht. An meiner Hand stand sie vor der Grube, in welche die Mutter zur Seite des Vaters gesenkt ward, starrte mit neugierigem Grauen in die dunkle Tiefe, bebte und schauderte vor dem vollendeten, unbegreiflichen Gewesen, das ein Sandhügel darstellt. Der lutherische Ortspfarrer hatte der katholischen Frau den letzten Segen gespendet. Asche zu Asche, Erde zu Erde! Ein Hoffnungsblick in die Höh, dann kehrten wir zu Fuß durch die Heide nach Hause zurück. Lori sprach auf dem Wege kein Wort. Beim ersten Tritt in unser Heim jedoch, da umklammerte sie meinen Hals, lehnte das Köpfchen an meine Brust und schluchzte:

»Väterchen, jetzt habe ich nur noch dich. Ich will dich nun auch noch liebhaben mit der Liebe, die ich für Mama gehabt.«

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 91-99.
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