V

[99] Die gerissene Lücke füllte sich rascher, als ich geahnt. Denn eines Kindes Herz überträgt sich leicht in eines, wo es wahres Empfinden spürt. Loris früheste Erinnerungen knüpften sich nicht an die Pflege einer Mutterhand, an Freuden und Sorgen in einem Elternhause. Zucht wie Zärtlichkeit waren des Kindes Teil nicht in dem Maße gewesen, daß es ihrer bewußt geworden wäre. So fühlte sie ihre Verwaisung kaum, denn sie hatte einen, zum ersten Male einen, der ihr kindliches Dasein als reine Freude genoß. Schlug sie den Blick zum blauen Sonnenhimmel empor, so sah sie mit Kinderglauben Papa und Mama in Seligkeit vereint; drunten[99] aber, auf der Erde, der sie entflohen, lachte ihrem Kinde der Lenz. Von Tage zu Tage wurden Moos und Rasen grüner, der Garten bunter, der Vögelchor lauter. Sie pflückte Blumen und wand Kränze für das Elterngrab, der Waise einzigen Besitz. Pflänzchen wurden gelegt, Samen gestreut zu seiner immer wechselnden Zier. Bald wandelten und bald trabten wir durch die im Maienschuß duftende Heide; in nicht gar langer Zeit wurde auch der orbis pictus wieder aufgeklappt, und das Rädchen schnurrte in der Laube, um welche das Geißblatt seine Ranken zu ziehen begann. Lori war glücklich.

Und dennoch, wo hätte es ein Menschenkind gegeben, so weltverlassen wie sie? Wie ihre Mutter im Todeskampfe sie gesehen, hatte sie keinen Blutsfreund, keinen Verpflichteten, der nach ihr fragte.

Das städtische Amt dankte daher Gott, in dem wohlberufenen und wohlgestellten Nachfolger ihres Vaters freiwillig einen Vormund und Pfleger für die Waise zu finden, die es sonst in einer Anstalt hätte unterbringen müssen. Der Prinz, es ist sicher, würde ihr seinen Schutz gewährt haben; aber er weilte fern, und ich hatte mich gehütet, ihm den Tod der Baronin anzuzeigen. Ja, zum ersten Male segnete ich das unruhige Volk, dem ich so oft geflucht hatte, weil seiner Oberherrschaft Gut und Blut meines Volkes geopfert wurden, segnete es, weil es eine Manneskraft in Anspruch nahm, deren Wollen und Wirken ich meinem Volke gegönnt haben würde. Denn, seltsamer Widerspruch in einem Kalmäuserherzen! grollender Neid bei der Erinnerung an jene Abendstunden, in welchen ich meinen Herrn ehren gelernt, ein unheimliches Vorgefühl rangen in mir mit dem Bewußtsein[100] seines Werts, wuchsen und steigerten sich an diesem Bewußtsein. Es war ja natürlich, diesen Mann zu lieben. Konnte ich es wehren, sollte Lori ihn niemals wiedersehen, nie wieder zu seinen Füßen sitzen, nie wieder seine Hand küssen, mit leuchtenden Augen zu ihm in die Höhe blicken. Sie war mein. Mein Erbe, mein anvertrauter Schatz, mein ein und all. Mein mußte sie bleiben, mein ganz allein.

Zu dieser Eifersucht der Besorgnis gesellten sich nun aber allgemach Bedenken anderer Art, die mir die hellen Tage trübten. Unsere Organistin lobesam regierte das häusliche Instrument mit Kraft und Geschick. Die schwach werdenden Förstersleute waren unsere Kostgänger geworden, wie wir die ihrigen gewesen waren. Die brave Michelin hatte ihre liebe Not mit dem nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse hartnäckigen Zipperlein ihres Michel und außerdem bitteres Herzeleid über das ebenso unerforschliche hartnäckige Junggesellentum ihres Prinzen, da das Aussterben des eigenen Geschlechtes, hätte sie eines besessen, ihr schwerlich näher gegangen wäre, als das des seinen. Bei solchen doppelten Gebresten fing der Kochlöffel an, in ihrer Hand zu zittern, und sie war froh, ihn in eine rüstigere legen zu dürfen.

Auch für die körperliche Abwartung meines kleinen Anwesens war durch Frau Bach hinlänglich gesorgt, für seine geistige Erziehung wollte die Organistenbildung aber doch nicht zureichen. Das freiwillige Väterchen hätte allerdings nichts Weiteres verlangt, als Schritt um Schritt sein Waldkind sich in ein Waldjüngferchen entwickeln zu sehen, unschuldig, fröhlich, nach keiner Welt verlangend außer der, in welcher es bis heute glücklich[101] gewesen. Hatte der betraute Vormund denn nicht aber die Pflicht, seine Mündel zu einem weltgerechten Fräulein oder auch nur zu einer stadtgerechten Hausfrau ausbilden zu lassen? Was mußte ich tun?

Die Mutter, ich erwähnte es bereits, hatte während ihres trübseligen Witwenstandes sich einer klösterlichen Zuflucht für ihre Tochter getröstet. Nun, an diese trostloseste aller Eventualitäten – eine Nonnerei in Polen! – dachte ich nicht einmal während einer Übergangszeit; wohl jedoch, der katholischen Taufe und Firmelung unerachtet, an ein protestantisches Erziehungsstift, in welches hier und dort ein sächsisches Frauenkloster umgewandelt worden war. Aber meine Lori, fünfzehn Jahre an den freiesten Wuchs gewöhnt, würde sie in dieser Enge, bei dem Verschnitt aller natürlichen Triebe, nicht wie eine Waldblume im Treibbeet eingegangen sein? Und wenn sie es ausgehalten hätte, wenn sie, nach ein paar Jahren, nicht gebrochen, aber verbogen, als Zierpflänzchen entlassen worden wäre, paßte sie dann noch in das einsame Heidehaus? Würde ihrer Mutter Schicksal nicht das ihre geworden sein?

Was aber war gewonnen, wenn ich sie statt dessen in einer gebildeten Stadtfamilie fein bürgerlich schulen ließ? Wenn sie im engen Stübchen der engen Gasse stillsitzen, mit Schmortopf und Nähnadel hantieren lernte; Sonntags zur Erholung ein Spaziergang um die Stadt, am Abend eine wohlweise Unterhaltung mit dem Herrn Professor, der Frau Professorin und derengleichen? Und wenn das Waldkind auch das ausgehalten hätte, wenn es als ehr-, sitt- und tugendbelobte Jungfrau zu mir – und zu wem sonst? – zurückgekehrt wäre, kannte ich denn nicht die Welt? Hörte ich zum voraus nicht ihr Geträtsch und Gemunkel?[102] Der natürliche Zusammenhang fehlte, des willkürlichen hatte man sich entwöhnt. Ich schien zu jung zur Vaterrolle, sie längst nicht alt genug für die der Haushälterin eines Junggesellen. Sitte und Herkommen wurden in einem schiefen Verhältnisse gehöhnt, jede natürliche Zukunftsaussicht gefährdet.

Alle diese Einwände waren einer vernünftigen Wahrscheinlichkeitsrechnung gemäß und dennoch nur Vorwände. Der heimliche Grund, aus welchem mein Wesen sich gegen solche Wahl empörte, war Selbstsucht, nackte Selbstsucht. Von mir geben mein Kind, mein Glück, es mir entfremden lassen, es verlieren, vielleicht auf immerdar; ich würde es ja eines Tages müssen; aber dazwischen lagen Jahre, unberechenbare Jahre, würde ich sie erleben und – brauchte ich über sie hinaus zu leben? Heute aber lebte ich noch, wollte noch leben für sie, durch sie, und darum konnte ich nicht ohne sie leben.

Blieb demnach eine häusliche Weiterbildung durch eine Gouvernante und späterhin eine ältliche Anstandsmutter. Barmherziger Himmel! wie widerwärtig waren sie mir, so viel ich ihrer gesehen, von jeher gewesen, diese geschminkten, geschnörkelten, tänzelnden, näselnden Französinnen! oder, ärger noch, die täppischen deutschen Landsmänninnen, die jene äfften mit ihrem Papperlapapp und Firlefanz, ihren Knicksen und Faxen! Eine Hölle im Haus, das jetzt mein Himmel war! Gesetzt aber den glücklichen, mir bis dahin nicht vorgekommenen Fall, ich fände eine gebildete und nicht verbildete Frau, eine alte Jungfer mit einem Mutterherzen, wem gehörte das Kind dann noch? Wem hatte es zu gehorchen? Ein ewiger Widerspruch gegen des Väterchens Methode, Disput ohne Ende, ein unerträglicher Zustand für[103] alle drei. Ich kam aus der Grübelei nicht heraus; forschte dabei jedoch unter der Hand nach jener seltenen weiblichen Perle, die sich zu meinem Troste nicht finden ließ. Der Sommer ging hin, und alles war beim alten geblieben.

Aber war ich denn allein der Richter, in diesem kritischen Falle zu entscheiden? Gebührte meiner Mündel, um deren Wohl und Wehe es sich doch ausschließlich handelte, und die in einem Alter stand, in welchem ein Mädchen von Rechts wegen wahl- und dispositionsfähig ist, nicht auch eine Stimme, ja die erste Stimme? Eine Kalmäuserpflicht diese Tutorfrage, die einem Advokatenkniff wie ein Ei dem andern ähnlich sah, da das Väterchen zum voraus wissen konnte, wie das Kind sie beantworten werde. Gleichviel! Ich wollte diese Antwort hören. Pflicht tun gemeinhin so sauer, manchmal ist es süß.

Ich saß in der Laube und sah mit der Lust eines alten Knaben, der als Junge keine Schmetterlinge gehascht hat, wie die Kleine, zwischen den Beeten tollend, die weißen Molkendiebe aufscheuchte, die sich in Schwärmen entpuppt hatten. Das war der Moment, den ich wählte. Ich rief ihren Namen. Außer Atem von Lachen und Eifer gehorchte sie meinem Wink und setzte sich an meine Seite. Kein folgsameres Kind als meine Lori. »Ich glaube, Lori,« hob ich an, »es ist an der Zeit, daß wir uns trennen müssen.«

»Bist du mir böse, Väterchen?« fragte sie, helle Angst im Blick. »Bin ich unartig gewesen?«

»Nein, nein, so meinte ich es nicht. Du bist ein liebes, gutes Kind. Und wir würden auch gar nicht lange voneinander bleiben. Aber was meinst du, wenn ich dich auf ein paar Jahr – oder auch nur auf eines – nach Dresden brächte, wo deine selige Mutter so glücklich gewesen ist?«[104]

»Was sollte ich denn da, Väterchen?« fragte sie mit dem großen, unschuldigen Augenaufschlag, der mich allezeit mehr als jeder Schmelz und Glanz der herrlichsten Augensterne entzückt hat.

»Du solltest etwas lernen, Lori.«

»Lernen? Du hast mich ja schon so viel gelehrt und lehrst mich alle Tage mehr.«

»Aber nicht das, was ein junges Fräulein braucht.«

»Was ist denn das, Väterchen?«

Ich räusperte mich, denn ich mußte mich besinnen. Was unsere Mädchen so gemeinhin in der Schule lernen, hatte ich diesem allerdings beigebracht und vielleicht noch ein bißchen mehr. »Nun, zum Beispiel richtig Französisch, Lori, die Umgangssprache der guten Gesellschaft,« brachte ich endlich heraus.

Die Kleine hatte auf einmal Oberwasser. »Que voulez-vous, Monsieur,« neckte sie, »ne sais-je pas parler français mieux que vous même?«

»Nun ja, ein bißchen plappern! Ich meine lesen und schreiben.«

»Lesen? Ach was! Ich gucke in ein Buch nur, weil du es verlangst, und dazu gibt es deutsche Bücher genug und satt. Und schreiben? Ja, an wen denn wohl? An Papa und Mama im Himmel gelangt doch kein Brief. Und sonst habe ich ja keinen Menschen als dich allein. Und dir brauche ich nicht zu schreiben; dir kann ich es ja sagen. Du bist meine gute Gesellschaft, die allerbeste, Väterchen.«

Ich hatte Mühe, meine Fassung zu behaupten inmitten von feuchten Augen und Lachen in den Bart. »Hättest du nicht Lust, Musik zu lernen?« fragte ich darauf.[105]

»Ei, singe ich denn nicht? Eine Heidelerche nennt mich der Herr Förster,« versetzte Lori lachend. Und sie sprang auf, stellte sich vor mich in Positur und trällerte über eine bekannte Volksmelodie eines ihrer Lieblingsliedchen.


Guten Tag, guten Tag, Herr Gärtnersmann,

Haben Sie Lavendel?

Rosmarin und Thymian?

Und ein Sträußchen Quendel? usw.


»Gefällt dir das nicht, Väterchen?«

»Scharmant, scharmant, Kind! Ich meine aber, daneben auch ein Instrument spielen.«

»Spielst du ein Instrument?«

»Ich? Nein.«

»Du hörst es aber gern, nicht wahr?«

»Hm, hm! Ich glaube – ja.« Die Wahrheit zu sagen, haßte ich das Geklimper wie die Sünde. Meines Nero Heulen klang mir lieblicher.

Lori sann eine Weile, das Fingerchen an der Nase; dann fröhlich in die Hände klatschend, rief sie: »Weißt du was, Väterchen, unserer Frau Organistin Sohn, der, welcher bei den Stadtpfeifern ist, gibt Stunden auf allen möglichen Instrumenten. ›Er ist ein ganzer Bach!‹ sagt die Frau Organistin von ihm. Kaufe mir eine Gitarre, Väterchen; sooft der Herr Stadtpfeifer zum Besuche seiner Mutter kommt, soll er mich sie spielen lehren; ich will ungeheuer fleißig sein und dir jeden Abend eine ganze Stunde lang vorspielen, was ich gelernt.«

»Eine tröstliche Aussicht,« dachte ich. Aber ich sagte: »Nun gut, Lori, gut; allein junge Fräuleins lernen auch noch andere hübsche Dinge. Sie malen Blumen – –«[106]

»Ich pflücke sie lieber, Väterchen, und pflege sie.«

»Aber tanzen, Kind, tanzen! Alle Mädchen tanzen gern.«

»Ich auch, Väterchen, ich auch! Aber warum denn lernen, was man schon kann?«

Dabei faßte sie mich bei beiden Händen und drehte sich mit mir ringelrund, bis ich odemlos auf die Bank zurücksank. »Siehst du, wie wir können!« rief sie jauchzend.

»Ja, wohl sehe ich es,« erwiderte ich, nachdem ich wieder zu Atem gekommen. »Das heißt aber nicht tanzen, das heißt tollen. Ich meine Kunsttanz, Anstand, Konduite, wie man sie in der Gesellschaft braucht. Und so gibt es noch mancherlei feine Künste, durch deren Übung man den Leuten gefällt.«

»O, du närrisches Väterchen,« entgegnete die Kleine, indem sie mir mit zärtlicher Schelmerei in die Augen sah, »wo sind denn die Leute, denen meine Kunststückchen gefallen würden? Und wenn ich für dich Konduite genug besitze, was brauche ich da mehr?«

Ich äußerte: »Du würdest Zerstreuung haben, Vergnügen.«

Sie dagegen: »Habe ich Zerstreuung denn nicht schon allzuviel? Schilt mein Väterchen nicht wer weiß wie oft: Nicht so zerstreut, Wildfang? Und Vergnügen? ach, die Hülle und die Fülle! Alle Tage ein neues. Sieh nur, sieh, wie dort die kleinen Zeisige die Köpfe aus dem Neste recken!«

»Aber Gespielinnen, Lori, die ich dir hier nicht verschaffen kann.«

»Habe ich denn nicht dich? Spielst du nicht mit mir, Väterchen? Ei, so dumm ist die dumme Lori doch nicht,[107] daß sie das Spiel nicht merkte, auch wenn du noch so ernsthaft aussiehst und wie aus dem Buche redest. Und ich spiele so gern mit dir und werde alle Tage klüger bei unserem Spiele.«

»Unter Mitschülerinnen deines Alters würdest du noch viel klüger werden, Kind.«

»Ach, wie schrecklich!« rief sie mit einem Tone, der beinah traurig klang. »Den lieben langen Tag auf einer Bank sitzen mit solchen, die alles schon wüßten, oder im Umsehen lernten, was ich doch nicht lernen kann und auch nicht lernen mag, feinen Fräulein, wie meine liebe Mama ihre Sauvage haben wollte, und wie sie nun einmal nicht sein und werden kann. Ach, wie würde ich mich schämen und grämen und sehnen, nach meinem Pferdchen, meinen Tauben, nach unserem Wald, nach dir, Väterchen, nach dir. Ich würde sterben, ja sterben vor Heimweh. Laß mich bei dir, Väterchen, bei dir bin ich glücklich. Nur bei dir kann ich es sein.«

Tränen standen in ihren Augen, und ich glaube, in den meinen auch. Heimlich aber jauchzte mein Herz. Ich hatte diese Antwort ja erwartet, aber nicht so warm aus dem Seelengrunde heraus, weniger aus Liebe, als aus Lust. O, du Engelskind! Ich hätte dich an meine Brust pressen und all das Dankesglück ausströmen mögen, das in ihr wogte! und wahrlich! es war eine Heldenprobe, den ehrbaren Vormund durchzuführen und schließlich die Gouvernante, als Bildnerin zur Dame, in Wahl zu stellen.

Lori hatte von einem derartigen Individuum keine andere Vorstellung als die von Mama aufgeschnappte, einer auf Schritt und Tritt gestrengen Vigilantin, die, weniger erbittlich als ihr Väterchen, sie aus dessen Nähe,[108] aus der verhätschelnder Hausgenossen, aus Garten und Wald in die öde Schulstube bannen würde.

»Ich kann nur lernen, was du mich lehrst, Väterchen,« schmeichelte sie; »ich mag keine Kunst, die du nicht kannst. Bei Mama sogar habe ich nichts gelernt, aber du bist ganz anders als Mama, von dir lerne ich. Laß mich so, wie ich bin, so, wie du mich liebgehabt hast bis heute Wer weiß, ob die feingebildete Lori dir wie dein Wildfang gefallen würde?«

Die junge Weisheit hatte die verkappte alte aus dem Felde geschlagen. Ach, es tut manchmal so wohl, der Überwundene zu sein. »Selig die Einfältigen!« dachte ich. »Was wäre ein Maiblümchen ohne seinen Waldesduft? Setze es in eine Vase, und er würde verfliegen, und der alternde Naturfreund, dem, übersatt von dem Moschusbrodem der Welt, der Duft in das Herz gezogen ist, würde als Misanthrop seine Tage beschließen.«

Der Friedensschluß zwischen dem Väterchen und dem Vormund konnte indessen nicht Dauer haben. Den Sommer hindurch, nun ja, und allenfalls noch einen munteren Herbst; als aber der Winter kam mit seinem kurzen Tagestreiben und der langen Abendstille, da begann der Quälgeist seinen alten Rumor; er bestand auf sein Recht, und sein Recht war diesmal ja ein gutes.

Ich tat nun beflissener als zuvor diesen und jenen Schritt, machte diese und jene Tour, um ohne weitere Zwischenreden eine würdige Duenna als fait accompli in das Junggesellenheim zu versetzen. Nirgends aber führte die Suche zu einem Ziele. Bei einer jeden fand ich etwas auszustellen. Hier hinter frömmelnden Ergüssen einen trüben Jugendborn, dort unter einer gleißenden[109] Politur einen hohlen Untergrund. Seltsam aber, wo ich in Bekanntenkreisen die wichtige Angelegenheit zur Sprache brachte, da wurde sie leichthin behandelt, als ein so strenger Wahl gar nicht bedürftiges Anstandsinterimistikum, wurde mit schielenden Blicken, halben Worten und zweideutigem Lächeln ein Verhältnis in Sicht gestellt, dessen Voraussetzung dem alten Knaben das Blut in die Schläfe trieb und das Herz zum Zerspringen klopfen machte. Ja, selbst im eigenen Hause, bei Frau Försterin und Frau Organistin, stieß ich auf die nämlichen Voraussetzungen. Und wenn nun auch Lori auf sie stoßen und um ihr harmloses Vertrauen gebracht werden sollte? Das entlegene Fräuleinstift trat ernstlich in den Vordergrund.

So war es wiederum Frühling und der Todestag der Baronin jährig geworden. Lori an der Hand, kehrte ich von der Mutter Grabe durch die Heide zurück. Das aufrichtige Herz zeigte keine tiefere Betrübnis, als es wirklich noch empfand. »Mama war immer traurig, weil sie ohne Papa leben mußte,« sagte sie. »Ist es unrecht, Väterchen, daß ich ohne meine liebe Mutter doch wieder so froh geworden bin?«

»Es ist der Jugend Recht, sich leichter als in reiferen Jahren, auch über den schwersten Verlust, zu trösten,« antwortete ich. Lori schwieg eine Weile, dann versetzte sie nachdenklicher, als ich sie jemals gesehen: »Nein, darum ist es nicht. Aber weil ich dich noch habe, Väterchen, weil du mich noch liebhast, darum bin ich froh. Ohne dich wäre ich traurig, wie Mama.«

Wie hüpfte mein Herz vor Entzücken bei diesen Worten und dem zärtlichen Blick, der sie begleitete.

Ich hatte mir bis in diese Minute nicht klarmachen[110] wollen, daß Lori im Laufe des Winters zwar nur wenig gewachsen, aber daß, den knospenden Formen nach, aus einem halbwüchsigen Mädchen ein vollwüchsiges, daß aus dem Kinde eine Jungfrau geworden war. Wenn ich das holde Geschöpf in dieser Wallung in die Arme schloß, ich würde ihm die Schamröte des Weibes in die Stirn gejagt haben, vielleicht – nein, gewiß. Sie muß fort, fort! Oder mindestens eine Scheidewand zwischen uns aufgerichtet werden. Nicht gegen mein Blut, gegen einen verräterischen Blick von mir. Bei Gott im Himmel! ich würde sie wie ein Heiligtum gehütet haben vor mir selbst. Aber gegen ihren eigenen Argwohn und gegen den Argwohn, den Geifer der Welt.

In dieser meiner Erregung stieß, auf einem seiner ärztlichen Landwege begriffen, der alte Weise zu uns, der einzige Mensch, den ich allenfalls Freund nennen durfte und der durch die Behandlung der Baronin mit den Leuten und Zuständen im Heidehause vertraut geworden, es auch seitdem als Teilnehmender geblieben war. Ich schätzte den Mann. Er war, was sich selten verträgt, zugleich ein Menschenkenner und ein Menschenfreund; machte nicht allzu hohe Ansprüche an Adamssöhne und Evastöchter, half ihnen aber, soviel er vermochte, nicht bloß als Doktor, aus ihrer Not, hängte der Wahrheit kein Mäntelchen um und lachte, wo ich mich ärgerte. Gibt's eine bessere Lebensphilosophie? Wiederholt hatte mich in meinen Erziehungszweifeln nach dem Rate eines Verständigen verlangt; nun, da stand ja der rechte Mann. Ich brachte ihm mein Anliegen zu Gehör. Lori schwenkte vom Wege ab, Morcheln und Mousserons zu suchen.

Selbstverständlich, daß ich alle gefühlvollen Anwandlungen außer Betracht ließ und die Frage einfach als[111] Vormund und Erzieher stellte: Gouvernante oder Pensionat?

Der Doktor hatte meine Pro und Kontra stillschweigend angehört, um die mit grauen Stoppeln bepflanzten Lippen jenes Lächeln, mit welchem er einer spasmodischen Schönen ein bogenlanges Rezept verschrieb, dessen Grundstoff klarer Born war. »Nun,« fragte ich endlich, »was ratet Ihr? für welches von beiden würdet Ihr an meiner Statt Euch entscheiden, Doktor?«

»Für keines von beiden, Forstmeister.«

»Und für was außerdem?«

»Von vornherein für das, worauf zu guter Letzt die Sache doch hinausläuft.«

»Und das wäre?«

»Potzelement, die Hochzeit, was denn sonst?«

Ich glaube, ich wurde rot wie ein Schulbube, der als Dieb auf dem Apfelbaum ertappt worden ist. »Ich stellte die Frage im Ernst, Weise,« preßte ich zwischen den Zähnen hervor.

»Und ich gab die Antwort im Ernst, Klösterley,« versetzte ruhig der Alte.

»Sie – ein Kind!« murmelte ich, und er dagegen:

»Sechzehn Jahr, heil und gesund wie ein Schmerlchen im Bache. Just das richtige Stadium für den Ehestand. Allen Hirngespinsten und Traumwesen von vornherein die Ader unterbunden. Die Kinderschuhe werden am besten in der Kinder-, will sagen, in der Wochenstube ausgetreten.«

»In Fesseln legen ein Kind, bevor es weiß, daß es ein Herz hat,« rief ich, in richtiger Kalmäuserwut über meine eigene heimliche Zustimmung empört. »Das heißt Menschenraub, Herr!«[112]

»Ich wüßte einen Titel dafür, der nicht an den Galgen führt, Herr!«

»Ein unerfahrenes, unberatenes Mädchen betrügen um alle Gefühle, die des Weibes Glück machen! Es – –«

»Nun, Gott steh bei mir,« unterbrach mich der Doktor lachend, »noch nicht genug der Koserei? Schnurriger Kauz, der Ihr seid, hängt das Schmeichelkätzchen Euch denn nicht an wie eine Klette? Herzväterchen hinten, Herzväterchen vorne! Nichts für ungut, Freund, mir würde des Liebhabens ein bißchen mehr als zuviel – und Euch, Nimmersatt, ist's noch lange nicht genug!«

»Waisengefühl, Dankbarkeit, Schutzbedürfnis, unbewußtes Autoritätsverlangen – –«

»Ehrerbietung, Gemütlichkeit und derlei guter Dinge mehr, aber die rechte Liebe immer noch nicht, gelt?«

»Indessen,« so fuhr er nach einer beiderseitigen Pause fort, in ernsthafterem Tone als bisher, »indessen hat neben dieser sublimen, die Sache auch noch eine hausbackene Seite, die weniger dem philosophischen Liebhaber, als dem praktischen Vormund zu Gemüte zu führen ist. Für Euch, wie Ihr nun einmal seid, paßt die kleine Heideläuferin, so wie Mutter Natur sie geschaffen, Herzväterchen sie herangehätschelt hat, und weder Institut noch Gouvernante Erhebliches an ihr ändern werden. Kein Firnis verdeckt das Geäder des Holzes. Für wen aber paßt sie außer Euch? Für einen Junker ihresgleichen etwa, ob es ein Krautjunker sei, der eine Schaffnerin, oder ein Hofjunker, der ein Zierpüppchen sucht? Für einen Bürgersmann unseresgleichen, einen Pastor, Doktor, Amtmann und so weiter, dessen Hausehre vielleicht alle Jahre einmal in der Erntezeit das Korn auf der Feldflur stehen sieht, der der Schlüsselhaken[113] wie angeschmiedet am Schürzenbund klappert und die, mit oder ohne Gesichterschneiden, es für Gottes Ordnung hält, wenn ihr Oberherr über eine versalzene Suppe brummt und zwischen seinen vier Pfählen das Rauhe herauskehrt, das er vor hohem Adel und verehrlichem Publikum mit Hammelsgeduld auf der verkehrten Seite trägt? Gleichviel, ob Ihr das Mädchen von vornherein bei Euch behaltet oder nach Jahr und Tag zu Euch zurückkehren laßt, es ist in mannbarem Alter, und was wird aus ihm, wenn Ihr es nicht nehmt?«

»Ich bin nicht unvermögend, wie Ihr wißt, Doktor. Ich würde sie adoptieren und als Tochter in meinem Hause schalten lassen.«

»Und das Ende vom Liede: eine grämliche alte Jungfer an der Seite eines noch älteren und noch grämlicheren Junggesellen, anstatt eines fröhlichen Mütterchens in der Kinder-, und will's Gott! dermaleinst in der Enkelstube. Das ist ihre Welt! Eine Wiege schaukeln und Ringelrundtanzen, dazu ist das herzige Waldkind geboren. Tut der Natur nicht Gewalt an, heiratet Euer Herzblättchen lieber heute als morgen.«

In mir wirbelte ein Fieber. Ich zitterte. Was war es denn anders als mein eigenstes brennendes Verlangen, Tag und Nacht wie ein Frevel zurückgedrängt und jeden Augenblick mit Lerchenschlag wieder in die Höhe wirbelnd, was hier von einem braven, menschenkundigen Freunde mir vorgehalten ward nicht nur als mein gutes Recht, sondern als Pflicht und Schuldigkeit, wie Natur und Vernunft sie heischten?

»Ja,« stammelte ich, »ja, wenn es sich um mich handelte, um mein Glück allein – wenn – –«[114]

Der Alte ließ mich den Satz nicht vollenden. Wir hatten unseren Garten erreicht, Lori ordnete in der Laube bereits die gesammelten Schätze. »Wißt Ihr, was ein Kalmäuser ist, Kalmäuser?« fragte der Doktor, indem er am Eingange stehenblieb.

Ich zwang mich zum Lachen. »Nun,« erwiderte ich, »wie Ihr, Physikus, die Spezies begutachten mögt, so eine Art von intellektuellem Mondkalb und gefühlvollem Wasserkopf; oder auch nur ein armer milzsüchtiger Schächer, der zum Leben nicht das Zeug hat und zum Sterben keinen Mut.«

»Umgedreht würde allenfalls ein Schuh daraus, Psychikus,« versetzte der Alte gleichfalls lachend, aber äußerst ungezwungen: »Zum Leben keinen Mut und zum Sterben nicht das Zeug, denn diese Bedenklichkeitskommissarien sind eine zähe Sorte. Vergleichen wir ihn dahero, anstatt einem Mondkalb, lieber so einem graufelligen Gutfreund, der das süßduftende Heubündel beschnuppert und – mit einem Mordhunger im Leibe – nicht hineinzubeißen wagt, weil er schwarz auf weiß nicht belegen kann, daß das Heu auch just für ihn auf unseres Herrgotts Wiese gewachsen sei. Zum Segen für seinen Appetit ist nun aber ein gutmütiges Hexchen bei der Hand, das ihm den legalen Beweis ad oculos zu demonstrieren vermag.«

»Kommen Sie einmal her, kleines Fräulein,« rief er nach der Laube hinüber. »Ich will Ihnen rasch den Puls einmal fühlen.«

»Ums Himmels willen, seid Ihr toll geworden, Weise?« schrie ich, ihn bei den Schultern packend.

Schon jedoch war das flinke Kind herbeigesprungen und hielt verwundert dem Alten das Händchen hin. Der faßte[115] sie, statt an den Puls, unter das Kinn, richtete es in die Höh, daß unsere Augen sich begegnen mußten, und sagte mit einem Tone, dessen Feierlichkeit mich in anderer Stimmung zum Lachen gebracht haben würde: »Sehen Sie sich einmal gegenwärtiges Väterchen recht genau von oben nach unten darauf an, Fräulchen; möchten Sie es wohl zum Manne haben? Halt, halt! nicht so fix mit dem Nicken! Ich meine, würden Sie ihm als Ihrem richtigen Ehemann so gut sein können, wie bisher als Ihrem Lehrer und Freund?«

»O, so gut, über alles gut!« rief Lori, indem sie freudig, aber auch nicht mit einer Schattierung höheren Rotes auf den Wangen zu mir aufblickte.

»Prosit, es gedeihe!« sagte der Alte, legte unsere Hände ineinander und wendete sich stracks zum Gehen. »Vergeßt nicht, daß ich mir einen Kuppelpelz verdient habe!« rief er noch zurück, dann stapfte er weiter in die Heide hinein.

Ich stand wie vernichtet. Scham und Seligkeit stritten widereinander in meiner Brust. Lori schmiegte ihr Köpfchen an meine Schulter.

»Vergiß, was du gehört, Lori!« stotterte ich endlich hervor. »Es war ein Scherz.«

»Nur ein Scherz?« fragte sie. »Und ich habe es für wahr gehalten. Willst du mich denn nicht zur Frau haben, Väterchen?«

»O, ich – ich –! Aber du, du! Weißt du denn, armes Kind, weißt du, was eines Mannes Frau sein heißt?«

»Ja, ja, ich weiß es, Väterchen!« rief sie, »es heißt, einen Mann liebhaben und keinen anderen so wie ihn und glücklich mit ihm sein – –«

»Ein ganzes, langes Leben hindurch, Lori?«[116]

»Kann man denn aufhören, seinen Liebsten liebzuhaben? Immer und ewig, Väterchen!« sagte sie mit einem Engelslächeln.

Ich war überwältigt, riß sie an meine Brust und küßte ihre Lippen mit einem Bräutigamskuß. Sie nahm ihn hin, als ob es noch der des Vaters wäre, entwand sich darauf meinen Armen, flog in das Haus und jubelte, indem sie die alte Försterin umhalste: »Mutter Michel, ich bin meines Väterchens Braut!«

»Habe ich es Ihnen nicht vorausgesagt, Fräulchen, worauf nach Gottes allweisem Ratschlusse diese Vormundschaft hinauslaufen würde?« sagte die alte Frau, ihres Lieblings Backen streichelnd. »Nun müssen Sie aber auch hübsch kochen lernen, denn die Küche ist im Ehestande Nummer eins.«

Lori nickte vergnügt. »Ja, ja, gleich morgen. Und was recht Gutes, Mutter Michel!«

Währenddessen stattete die Frau Organistin dem Bräutigam ihren Glückwunsch ab; der Grundtext über die Stufe, welche er, der Bräutigam, durch diese Wahl sich in den Himmel gebaut habe, feierlich variiert wie eine Fuge ihres großen Namensvetters. Auch Vater Michel drückte mir die Hand mit den Worten: »Sie haben sich einen Gotteslohn um die arme Waise verdient, Herr Forstmeister!«

Sie alle, die es gut mit dem Kinde meinten, hatten als ein großes Los für dasselbe erwartet, und leider nicht stillschweigend erwartet, was das Kind nun, ohne deutliche Vorstellung, als die natürlichste Erfüllung ruhig dahinnahm, während der gepriesene Wohltäter, der seit Jahren diese Vorstellung bis in ihre Endwurzeln und Ausläufer[117] zerfasert hatte, sich wie von einem unbegreiflichen Glücksborn überschüttet fand.

Brauche ich, und diesmal zur Rechtfertigung des Kalmäusers, noch anzuführen, daß er sich den höchsten Gewinn seines Lebens nicht ganz ohne Vorsicht angeeignet und wenigstens eine leichte Probe auf das Exempel, welches die Freunde gelöst glaubten, nicht erspart hat?

Schon am übernächsten Tage war, nicht der Bräutigam mit seiner Braut, aber der Vormund mit seiner Mündel, unter dem Ehrenschutz der Frau Organistin, auf dem Wege nach Dresden, um dem weltfremden Kinde ein Stück buntes Leben kosten zu lassen, bevor es dessen Reizen in der Enge des Hauses entsagte, und, falls es eine Lockung verspürte, das Entsagen zu verzögern oder – noch Schwereres sich abzuringen.

Lori spürte diese Lockung nicht. Der Eindruck war ein weit geringerer, als ich mit Bangen erwartet hatte; die Szene für das kindliche Bedürfen und die freie Gewöhnung gleichzeitig zu weit und bedrückend eng.

In steifer, schleppender Kleidung, als »ehr-, sitt-und tugendbelobtes Fräulein«, am Arme ihres Herrn Vormunds, zwischen hohen Häuserreihen oder regelrechten Alleen gleichmäßig Schritt halten zu müssen, nicht ein einziges Mal sich auslaufen, lustig ausspielen, laut auflachen zu dürfen, fiel dem Waldjüngferchen bald unerträglich; an den Schätzen der Kunstgebilde, welche zehn Jahre später das Weib gewürdigt haben würde, ging das Kind ohne Eindruck vorüber; der prunkvolle Gottesdienst seiner Mutterkirche ließ das junge Herz, das nur gewohnt war, den göttlichen Schöpfer in der prunklosesten seiner Schöpfungen anzubeten, ebenso unbewegt wie das Bildnis der hehren Himmelskönigin,[118] des größten Meisters Meisterstück, vor welchem der ungenügsame Kalmäuser überwältigt seine Knie hätte beugen mögen.

Gesellige Eindrücke hatte die in der Sommerzeit vom Hofe verlassene Residenz wenig zu bieten. Die italienische Oper war geschlossen, die Leute, denen wir im Gasthaus, wie an öffentlichen Plätzen begegneten, gingen ziemlich achtlos an dem kleinen, rotbäckigen Mädchen vorüber, das nicht, wie seine Mutter, eine augenfällige Schönheit war. Nur wer das Sehnen nach einem unentweihten Gemüt, den Reiz ursprünglicher Unschuld empfand, mußte von meiner Lori angezogen werden. So blieb denn auch der Sinn der Eitelkeit, der starke Sinn, den ich bisher auch in dem bescheidensten Weibe aufgespürt hatte, ungeweckt. Lori langweilte sich auf Reisen, sie bangte sich nach ihrer Heide, ihrem Pferdchen, ihren alten guten Freunden; sooft ich sie bei einem Ausfluge fragte: »Ist es hier nicht schön?« antwortete sie: »Bei uns ist es doch viel schöner«, und lange bevor die von mir gesetzte Reisefrist abgelaufen war, bat sie mit Schmeicheltönen: »Laß uns heimkehren, Väterchen.«

Die Frist wurde gewissenhaft innegehalten. An dem Tage jedoch, wo das von dem Vormund aufgegebene Pensum der Weltkenntnis von der Mündel zu seiner Zufriedenheit abgefertigt war, legte der Pfarrer des nächsten Heidedorfes die Hände von Bräutigam und Braut ineinander, und das Kind gelobte dem Manne, den es Vater genannt hatte, Treue bis in den Tod. Eine Stunde später kehrten sie als Mann und Weib in ihr Heidehaus zurück.

Sage man nicht: die Reue kommt nach der Tat. Sie ist als Zweifel schon da vor der Tat. Was ein Mensch[119] mit voller Seele getan, bereut er nicht, welches auch immer die Folgen. Ich hatte mir die Geliebte angeeignet gegen den Mahnruf meines Gewissens.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 99-120.
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