Neuntes Kapitel

Zu Hülfe!

[251] Am Sonntag früh waren Vater und Sohn in einem leichten Einspänner, ihrem eigenen Geschirr, auf dem Wege nach Bielitz, das angenehm in der Aue, von eichenbewaldeten Höhen umhegt, gelegen war. Warum die ersten Anbauer das Dorf und manche seinesgleichen nicht von vornherein auf jenen Höhen angelegt haben, sich lieber den alljährlichen Überschwemmungen aussetzten und mit der Zeit durch einen mühsamen Dammbau sich vor diesen schützten, das würde durch Vernunftsgründe nicht erweislich sein. Genug: das Dorf stand, wo es stand.

Auch heute war der Fluß, vom anhaltenden Regen geschwellt, aus seinen Ufern getreten und hatte nur hart am Berge einen allenfalls passierbaren Fahrweg übriggelassen. Schwierig und langweilig genug ging's bei alledem vorwärts, und obgleich meine Vorfahren bei guter Zeit aufgebrochen waren, sie langten vor dem Hochzeitshause erst an, als der Zug, zum Kirchgange geordnet,[251] bereits unter dem Scheuntore stand. Voran die Musik, dann Pastor und Schulmeister mit dem Brautpaar, darauf die lange Reihe der Gäste, je zwei und zwei, ein Männlein und ein Weiblein. Man wartete nur noch auf die beiden vornehmen Stadtbürger.

Sie stiegen hastig aus und eilten auf zwei Frauenzimmer zu, welche man ihnen als Partnerinnen übriggelassen zu haben schien. Joseph reichte der Zurückstehenden die Hand; David, allezeit höflich, verbeugte sich gegen die Vordere, während er halbabgewendet den Hut gegen den Brautvater schwenkte, der im Drang der nachfolgenden Bewirtung so wenig wie die Brautmutter an der Kirchenfeierlichkeit teilnehmen konnte. Flöten und Geigen stimmten ein zum Dessauer Marsch, der Zug setzte sich in Bewegung; Haller und Sohn mit ihren Partnerinnen fügten sich in die Reihe.

Noch hatte David nicht Zeit gehabt, sich sein Frauenzimmer zu betrachten, als dasselbe die Unterhaltung eröffnete. »Sie kennen mich wohl gar nicht wieder, Herr Haller?« fragte halbschüchtern eine herzliche Stimme.

Wie ein Blitz fuhr's meinem Urgroßvater in die Glieder. »Christelchen! Meister Kellerin, wollte ich sagen.«

Zwanzig Jahre hatten sie sich nicht gesehen, und jetzt blickten sie sich in die Augen verwundert, ja schier erschrocken, wie vor einer Traumgestalt. Waren sie's denn wirklich? Waren sie andere, neue Menschen geworden, wie das in zwanzig Jahren im Grunde ja in der Ordnung ist?

David, o David freilich, wenn Christiane vor ihm erschrak, so geschah's, weil er seit zwanzig Jahren der nämliche geblieben war; breiter allerdings, aber darum nur[252] stattlicher, kaum merkbar gealtert. Ein schöner Mann jetzt erst recht; weit und breit fand man nicht seinesgleichen. Es war der alte Jugendfreund, der Christelchen gegenüberstand. Was aber die Jugendfreundin anbelangt, ei nun ja, auch sie erkannte einer wieder. Ihr Augenpaar schaute noch immer so freundlich drein, ihre Wangen glänzten weiß und sogar noch etwas röter, wie zu der Zeit, da Keller, der Russe, bei ihrem Anblick ausgerufen hatte: »Bei Gott, ein Mädchen zum Anbeißen!« Selbst der schwarze Gros de Tours rauschte noch wie am Tage der Einsegnung. Aber allerdings ihre Taille war nicht mehr so schlank wie dazumal, keineswegs zum Umspannen; die rundliche Fülle gab ihr etwas Mütterliches, eine Würde, an die sich der Jugendfreund erst gewöhnen mußte und die ihn beim ersten Anblick schreckartig überraschen mochte.

Sie betraten die Kirche, ohne weiter ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Die Mannspersonen stellten sich rechts vom Altar, die Frauenzimmer links; die Traurede hob an. Aber mein Urgroßvater war nicht so andächtig wie bei heiligen Handlungen sonst; die Aufregung überwältigte ihn. Warum eigentlich? begriff er selber nicht. Es war ihm ja doch keineswegs eine Neuigkeit, daß die Meister Kellerin in den Witwenstand getreten war. Er hatte es noch bei Lebzeiten seiner Sophie in Erfahrung gebracht und den herzlichen, ja leidenschaftlichen Anteil, den die Selige an diesem Schicksal genommen, aufrichtig bewundert. Sie war leichenblaß, zitternd und sogar ein paar Tage lang bettlägerig darüber geworden, und das nach zwanzig Jahren, daß sie die flüchtige Bekanntin nicht mit Augen gesehen. Freilich, sie hatte ein gutes Herz, seine Sophie, und der ihr die Neuigkeit brachte,[253] hatte hinzugefügt, daß Keller seine Familie in dürftigen Umständen zurückgelassen habe. Er wäre, wie alle Welt prophezeit, an seiner Braunkohlenspekulation zugrunde gegangen, und seiner Witwe bleibe nichts übrig, als in die Stadt zurückzuziehen und durch irgendein kleines Geschäft die Erziehung ihrer vier Unmündigen möglich zu machen. Alles das hatte David Haller seit dreiviertel Jahren gewußt.

Auch das hätte er sich allenfalls denken können, daß er seine Jugendfreundin hier unten in Bielitz zu Mieke Bullens Hochzeit vorfinden werde; ihr Wohnort lag nur ein Wegstündchen fern auf den Höhen, die Bielitzer Schulmeisterin war David als eine Kellersche Anverwandte bekannt, und derlei Freudenfeste werden, zumal von Witwen, ja immer gern mitgenommen. Nein, alles das war's nicht, was meinen Urgroßvater dermaßen außer Fassung setzte. Nicht in Christianens Person und Schicksal, in seinem eigenen Gemüt mußte die befremdliche Wandlung vorgegangen sein. »War sie es denn nur?« fragte er sich immer von neuem. Ihn deuchte, es hätte eine andere sein müssen, deren Augenstrahl und Händedruck ihm dereinst das Innerste erschüttert hatten, deren Wiedersehen er so ängstlich geflohen. Weit eher ihre Nachbarin, das junge Frauenzimmer, das sein Joseph geführt hatte und das jetzt neben der Kellerin ihm gegenüberstand. Er konnte seine Augen gar nicht von dem herrlichen Geschöpf verwenden. Wer mochte es nur sein? Wie kam es hierher?

Noch war er nicht ins klare gekommen über sich und sie und jene dritte, als der Zug sich in voriger Ordnung wieder in Bewegung setzte.

Als sie über den Gottesacker gingen, sagte die Witwe:[254] »Ich muß mich sputen heimzukommen; meine Jungen sind ohne Aufsicht; ich hatte nur mein Lenchen glücklich zu dem Feste herunter bringen wollen – – –«

»Lenchen? Ihre Jungfer Tochter?« unterbrach sie David Haller und wurde feuerrot.

»Ja, Herr Haller, meine Älteste. Sehen Sie dort das kleine Ding, das der junge Stadtbürger führt.«

»Der junge Bürger ist mein Sohn, Meister Kellerin, mein einziger Sohn!«

So standen die alten Freunde denn Hand in Hand und schauten mit großen Augen eines auf des anderen Kind. Das also war sein Sohn! Ach, wie wenig glich der blasse, trübselige junge Mensch dem blühenden Sternkönig vor zwanzig Jahren! Das also war ihre Tochter! Ei, wie viel stattlicher, wie viel schöner war sie als die Mutter, da sie in ihrem Alter stand. Wenn selber ein alter Liebhaber dieses Einsehen hat, da muß es ja wohl wahr sein, guter Leser.

Und freilich war's wahr! Kein kleines Ding, hoch und schlank gewachsen wie eine Tanne, mit großen funkelnden, schwarzen Augen und purpurnen Lippen, die Haut ein wenig dunkel, aber rosig durchglüht, zeichnete sie sich vor allen Frauenzimmern aus, deren David sich erinnerte; und dieses rasche, lebendige Wesen! Wie munter sie mit seinem Joseph plauderte, wie herzhaft sie lachte! Vater und Sohn schaueten und horchten wie verzaubert.

»Nun, wie gefällt Ihnen meine Lene, Herr Haller?« fragte die Witwe, als Eltern und Kinder aufeinanderstießen.

Eine unbescheidene Frage in der Tat. Sie gefiel meinem Urgroßvater ausnehmend; aber das konnte er doch nicht[255] sagen. Er wurde rot und machte eine stumme Verbeugung.

Das junge Mädchen hatte aber kaum seinen Namen gehört, als sie, fröhlich in die Hände klatschend, auf ihn zusprang und rief:

»Nein, das ist aber merkwürdig! Akkurat so wie Sie habe ich mir den schönen Herrn Haller ausgemalt, von dem mein Mütterchen immer so viel Liebes erzählt hat.«

Mein Urgroßvater errötete und verbeugte sich schon wieder. Gleich darauf wendete er sich an Joseph mit der Frage: »Soll ich das Anspannen bestellen, mein Sohn?«

»Jetzt schon?« entgegnete Joseph gedehnt.

»Um so besser, wenn du zu bleiben Lust hast,« sagte der Vater. »Freund Kilian würde es sowieso übel vermerkt haben, wollten wir seinen Schmaus verschmähen.«

»Ich aber lasse mein Lenchen unter gutem Schutze zurück,« meinte die Witwe. »Die Nacht über bleibt sie bei der Muhme in der Schule. Guten Appetit, Herr Haller, und viel Pläsier.«

Durfte David die alte Freundin den weiten Weg allein zurücklegen lassen? Wäre es nicht freundlich und schicklich gewesen, sie in seiner Kutsche nach Hause zu geleiten? Er schwankte – blickte – ohne Zweifel nur der übernommenen Schützerpflichten halber – von der Mutter auf die Tochter und von der Tochter auf die Mutter und entschied sich endlich zu dem Auskunftsmittel, die Witwe zwar in seinem Fuhrwerk, aber durch einen von Bullens Knechten fahren zu lassen. In zwei Stunden konnte das Geschirr zurück sein und er mit Joseph noch vor Dunkelwerden den Heimweg antreten.

Als er die Witwe zum Wagen führte, bemerkte er, daß[256] das Wasser bedenklich im Steigen sei. Er fragte nach rechts und links, ob der Damm sich auch zum Widerstande hoch und fest genug erweisen werde? »Ja, wenn's der Frühlingsstrom wäre, könnt es was auf sich haben!« meinte man. »Herbstfluten dahingegen machen blinden Lärm.«

Bei alledem schien unter dem Rauschen und Brausen die Hochzeitsfreude doch einigermaßen zu Wasser zu werden; die Gesichter wurden immer länger, und man hörte von Zeit zu Zeit einen Engel durch die Versammlung fliegen. Selbst in der Scheune, wo die niederen Gäste samt Knechten und Mägden mit Bier und Schnaps freigehalten wurden, ist es, soviel mir bewußt, zu keiner Tätlichkeit gekommen. Dem schönen Feste war ein Dämpfer aufgedrückt und nur Vater und Mutter Bullen keine Spur von Sorge anzumerken, so völlig gingen sie auf im Eifer ihrer splendiden Bewirtung, im unermüdlichen Zerlegen von Braten und Kuchen, im Umherreichen immer frisch gefüllter Schüsseln. Gekocht war schmackhaft und würzhaft, Muskate, Safran und sogar Kardamum an keinem Gerichte gespart; auch machte der Wein an der Herrentafel Vater Bullens eignem Berggewächs alle Ehre.

Herr Haller senior hatte natürlich den Respektsplatz obenan neben der Frau Pastorin, einer recht angenehm unterhaltenden Siebzigerin, leider ein wenig taub. Ihr Nachbar war indessen gegen seine Mode zerstreut; selbstverständlich nur des Wassers wegen; nebenbei hätte er aber doch auch gern gewußt, ob sein Sohn, der in der ausgeräumten Schlafkammer Platz gefunden hatte, bei guter Laune sei, ob das schöne Lenchen an seiner Seite sitze und wie er sich mit ihr unterhalte?[257]

Joseph saß allerdings an ihrer Seite, und so wenig er selber unterhielt, so unterhielt er sich doch ausnehmend gut. Als dreijähriger Hausgenosse eines gelehrten Junggesellen, befand er sich zum ersten Male in der Nähe eines jungen weiblichen Wesens und war doch durch die Vertrautheit mit seiner Mutter an weibliche Empfänglichkeit und Auffassungsweise gewöhnt. Ein Menschenkenner von heute würde ihn selber vielleicht eine weibliche Natur genannt haben oder eine frauenhafte. Schon sein seliger Großvater, Meister Hans Adam, der allezeit den Nagel auf den Kopf traf, pflegte zu sagen: »Fiekchen, an deinem Jungen ist ein Mädchen verdorben.«

Da begann denn nun heute ein ganz neues, seltsames Etwas sich in dem Jüngling zu regen; ein Etwas, das er sich selber nicht hätte deuten können, das er zu deuten aber auch nicht verlangte. Er hörte kaum, was das muntere Kind an seiner Seite plauderte, welche merkwürdige Eindrücke sie so in Verwunderung setzten, welche wichtigen Erlebnisse sie mit so unschuldiger Lust berichtete. Auf ihre Ansprachen antwortete er halb wie im Traum.

»Sie sind wohl krank, Mosjö Haller?« fragte sie endlich verwundert.

»O nein! wohl wie noch nie!« antwortete er.

»Aber warum starren Sie mich denn so groß an?«

»Weil Sie so schön sind, Magdalene.«

Lenchen wollte sich totlachen. Sie war freilich sehr schön; aber wußte sie's denn? Hatte sie sich jemals um Schön- oder Häßlichsein bekümmert? Die Tochter Kellers, des Sonderlings, war überhaupt mehr wie ein Landmädchen, als eine Bürgertochter aufgewachsen; hätte sie sonst, ohne sich im geringsten beleidigt zu fühlen, es bloß lächerlich[258] finden können, daß ihr junger Bekannter von einer Stunde ihr sein Wohlgefallen so unverblümt ausdrückte und sie sogar schlechtweg bei ihrem Taufnamen nannte, statt Jungfer Kellerin, wie sich geziemte?

Lenchen aß mit dem besten Appetit; zumal von dem saftigen Fladen aus Malz und Mohn. »Nehmen Sie doch auch ein Häppchen,« nötigte sie ihren Nachbar.

»Ich danke Ihnen,« antwortete er ablehnend.

»Kosten Sie doch nur einmal.«

»Ich danke Ihnen.«

»Essen Sie denn immer so wie ein Vogel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen's nicht? Haben Sie denn gar keine Leibgerichte?«

»Nein.«

»Sind Sie aber ein kurioser Mensch, Mosjö Haller! Darum sehn Sie auch so blaß und spärlich aus. Ich wollte Sie schon ein bißchen auffüttern, wenn ich Ihre Frau wäre!«

»Meine Frau, Sie, Magdalene!« rief Joseph wie elektrisiert.

»Ich meinte nur so von wegen der Küche,« versetzte sie unbefangen, indem sie ein Stück Kuchen zum Mitnachhausenehmen in einen Papierbogen wickelte.

Tumult vor dem Hause und jacher Aufbruch in der Nebenstube machte dem interessanten Gespräch ein Ende. Die Flut drohte den Damm an einer Stelle zu durchbrechen, deren Ausbesserung auf die müßige Winterzeit verschoben worden war. Mit Herbstwassern hatte es ja niemalen viel auf sich gehabt. Und nun doch! Die Männer stürzten nach der gefährdeten Stelle; David[259] Haller voran, die Seele aller, die, benommen von Schreck und hochzeitlichem Trunk, Hand ans Werk zu legen hatten.

Auch Joseph und Magdalene folgten dem Schwarm. Das Mädchen war wie im Fieber. Wäre sie nicht zurückgestoßen worden, sie hätte selber mit Sand und Steine zum Erhöhen und Befestigen zugetragen. Nun rannte sie wenigstens von Haus zu Haus, zog Ochsen und Pferde aus den Ställen, half beim Anspannen und rief wie Davids Echo den Arbeitern zu nach Schaufeln und Schippen und Karren voll Dünger und Lehm. Die Schulmeisterin, die ihr begegnete, sagte: »Du machst ja alles der Quere, Lene, und verdirbst dir nur dein gutes Kleid. Geh doch nach Hause!«

Aber hört sie wohl? Sie schürzt sich bis über die Knöchel, läuft hin und wider wie ein Wiesel, schreit, sie weiß selber nicht wonach und wozu. »So rühren Sie sich doch auch, Mosjö Haller,« ermunterte sie Joseph. »Sehn Sie doch nur den Herrn Vater und stehn nicht so steif wie eine Statua!«

»Was soll ich denn tun?« fragte Joseph verwirrt.

»Du kannst hier gar nichts tun, mein Sohn,« sagte hinzutretend der Vater. »Was geschehen kann, ordne ich an. Geh ins Dorf und sorge, daß alles Bewegliche auf die Böden geräumt und das Vieh auf die Höhen getrieben werde. Die armen Leute haben den Kopf verloren, und bei einem Dammbruch steht sogar das liebe Leben in Gefahr. Entferne vor allen die Kinder, hörst du, Joseph, die Kinder. Sobald du aber die notwendigsten Einleitungen getroffen hast, so eile, fortzukommen. Nimm auch die Jungfer Kellerin mit, die in der Schule nicht sicher ist. Im Wirtshause[260] auf dem Zornhügel wollen wir uns treffen und den rückkehrenden Wagen erwarten.«

Der Vater eilte zu den Dammarbeitern zurück, und der Sohn ging ins Dorf, seinen Auftrag auszuführen. Aber wie ungeschickt stellte er sich dabei an, wie verhallte seine Stimme, wie falsch berechnete er Raum und Zeit, wie schlecht verstand er es, den schreienden, händeringenden Weibern Mut und Besonnenheit einzuflößen!

Desto flinker mein Lenchen! Die war an ihrem Platze, nun da sie wußte, was das Gebotene war. Treppauf, treppab, hui, wie ein Wetter! Überall selber angefaßt, die Kinder aus den Wiegen, das Vieh aus den Ställen und hinaus auf die Berge; Betten und Kleidungsstücke oben auf die Böden, von Haus zu Haus, gefolgt von Joseph wie von ihrem Schatten.

Mehr als einmal mahnte er: »Denken Sie an den Heimweg, Magdalene, es dunkelt, die Flut kann jeden Augenblick über uns kommen.«

Immer aber hatte sie nur noch dies zu tun, jenes zu sagen, zu guter Letzt nur noch im Schulhause ihre Saloppe zu holen.

Endlich brachen sie auf. Die Sonne war unter; das letzte Haus lag hinter ihnen, die Kirche nahe; sie hatten den nächsten Weg über den Gottesacker eingeschlagen, um die Höhen zu erreichen.

Da, jählings, ein Rauschen und Brausen von allen Seiten. Ehe sie es fassen, umflutet sie der Strom. Die Kirchtür steht offen. Hinein! der Strom ihnen nach. Im Nu ist der Boden bis zum Altarplatz überschwemmt.

Sie flüchten auf die Treppe, die innerhalb zum Chor und weiter hinauf in den Turm führt; am Fensterchen spähen[261] sie hinaus in die Gegend. Soweit im Dämmerschein die Blicke noch tragen, eine glitzernde Woge; der Damm durchrissen, die niedrigen Häuser bis zum Giebel unter Wasser; keine Menschenseele zu erspähn, zu errufen, zu erreichen; nur aus der Ferne wildes Gekreisch und Gebrüll. Und die Flut unheimlich hoch und immer höher am Kirchboden schwellend; auf dem Totenhof draußen alle Leichensteine überspült, die Holzkreuze geknickt und im Strudel umhergetrieben, und die beiden fremden Menschenkinder allein, hülflos allein wie in einem weiten, kalten, dunklen Grabe!

Ach, wie zittert und schauert die arme Magdalene! Die Zähne klappern gegeneinander wie im Fieberfrost, irdisches und überirdisches Grauen schüttelt den schönen Leib; Erstarren und Verhungern und Ertrinken und Erschlagenwerden und gespenstisches Wimmeln der Gebeine, die ringsum aus ihren Gruben gespült werden: ein Schrecknis jagt das andere, eine Todesangst die andere. Mut und Leben sind dahin; sie wirft sich auf den Boden, ächzt und schluchzt, schreit und betet kraus durcheinander alle Liederverse und Katechismussprüche, die sie in der Schule gelernt hat. Ist das das nämliche Mädchen, das am Mittag so munter plauderte und noch vor einer Stunde so tapfer und hülfelustig ihre Glieder regte?

Ist das aber auch der nämliche Jüngling, der vorhin so ratlos und hülflos im Gedränge stand? Hatten sie die Geister verwechselt? Alles, was den ihren niederdrückte: Ort, Stunde, Verlassenheit, Gefahr, hob den seinen über alle Ängste hinaus; ein unnennbares Etwas elektrisierte ihn zu einer Wärme und Freudigkeit, daß die schöne Mitverlassene mitten unter Schluchzen und Beten die Bemerkung nicht unterdrücken konnte: »Barmherziger Heiland![262] Mosjö Haller, Sie sind ja wie ausgetauscht! Ich glaube, das Elend macht Ihnen Spaß, und Sie freuen sich, daß wir sterben müssen.«

»Sterben in deinen Armen, Magdalene!« rief er aus.

»Ach, mit dem armen Menschen ist's auch nicht mehr richtig,« dachte sie und blickte ihn scheu von der Seite an, während er sie vom Boden in die Höhe zog.

Es war Nacht geworden; draußen heulte der Wind und jagte zerteilte Wolken über die halbvolle Scheibe des Monds; jach wechselnd drang ein bläulicher Schimmer bis in die düstersten Winkel des Kirchenschiffs. Die Altarkerzen, die nach der Trauung zu löschen vergessen worden waren, flackerten unstet hin und wieder; das hohe schwarze Kreuz in ihrer Mitte warf einen langen Schatten auf den glitzernden Wasserspiegel. Die Glocken der benachbarten Kirchspiele läuteten Sturm, verzweifelnde Stimmen schrieen fernhin um Hülfe, und statt der Antwort gurgelte hämisch das entfesselte Element.

Joseph ließ die jammernde Magdalene auf einen Absatz der Chortreppe nieder, hüllte sie in seinen Mantel und umfaßte ihre eisig starren Hände. Die seinen glühten, und seine Pulse flogen. Sie drückte die Augen zu vor dem grausigen Kirchenbild zu ihren Füßen und wurde allmählich ruhiger. Sooft aber die Turmglocke die Stunde anschlug, schreckte sie in die Höhe, sank auf die Knie und betete laut für Mutter und Brüder, für Mosjö Josephs und ihr eignes junges Leben, für die unglücklichen Überschwemmten und für die himmlischen Geister, deren Gebeine in ihrer Grabesruhe so grausam gestört worden waren. Einmal fragte sie ihren Unglücksgefährten: »Sind Sie denn gar nicht in Angst um Ihren lieben Vater, Mosjö Haller?«[263]

»Mein Vater ist ein besonnener und ein tüchtiger Mann,« antwortete Joseph. »Er gerät nicht leicht in eine Gefahr, oder er weiß ihrer Herr zu werden. Er wird auch uns zu Hülfe kommen, liebe Magdalene.«

So suchte er sie zu beruhigen, und es gelang ihm; ihre Klagen verstummten allmählich. Er selber bedurfte keiner Beruhigung; er fühlte sich frei und lebensfreudig wie seit vielen Monden nicht; er atmete gleich einem Erlösten, dem eine eiserne Klammer von Herz und Haupt gefallen ist. Die entzündete Phantasie trieb ihn über seine Umgebung hinaus in verschleierte Gebiete; Worte strömten von seinen Lippen, wie er keine je gesprochen noch in seiner Seele geahnt hatte. O, hörtest du ihn, Sophie? Auch von dir redete er, der Heißgeliebten, Heißbeweinten. Sein Herz klopfte, seine Tränen flossen. In unsagbarem Sehnen schlang er den Arm um des schönen Mädchens Leib.

Magdalene war still geworden unter seiner Rede; nur dann und wann schluchzte die Stimme noch auf wie die eines unter Tränen entschlummernden Kindes; ihr Kopf sank auf seine Schulter hinab – ihn schauerte, sein Atem stockte. »O Magdalene, Magdalene!« flüsterte er, »sie hat mich allein gelassen, ganz allein auf der Welt. Liebe du mich, wie sie mich liebte.«

Sie gab keinen Laut. Er hörte ihren gleichmäßigen Atemhauch – sie schlief!

Was in ihm vorging in der dunklen Nacht, das schöne schlummernde Mädchen an seinem Herzen – wenn ich's zu sagen wüßte, ich möchte es nicht sagen, lieber Leser. Er fühlte, daß er ein Knabe gewesen und ein Mann geworden war. Leise berührten seine Lippen das dichte Haar auf ihrer Stirn, ganz leise, um sie nicht zu erwecken; er regte[264] sich nicht, er hielt den Atem an sich und hätte den lauten Schlag seiner Pulse hemmen mögen, nur um still, ganz still die unausdenkbare Seligkeit ihrer Nähe zu empfinden. Die Stunden schwanden, ohne daß er sie ermaß. Draußen noch immer Sturm und jammernder Hülferuf; noch immer das Rauschen und Brausen der Flut. Drinnen immer länger, immer dunkler das Kreuz auf der spiegelnden Flut und er mit der Geliebten allein wie in der Allkraft heiligem bergendem Schoß!

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 251-265.
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