Zwölftes Kapitel

Mutter und Sohn

[321] Das war ein saures Mahl, mein Freund! Bei dem Toast, den ich auf Seine Majestät den König ausbrachte, blieb ich stecken; jede Redensart, die ich anstandshalber wechselte, verfing sich in meiner Kehle mit dem Ja, das ich nicht auszusprechen vermochte und doch nicht unausgesprochen lassen wollte. Ein Glück, daß man an die Feste auf der Reckenburg keinen Anspruch als den der vornehmen Langeweile zu stellen gewohnt war.

Nach der Tafel zerstreute sich die Gesellschaft im Garten. Ich war allein mit dem Grafen auf der Terrasse geblieben. Er hatte mir schon vor dem Essen gesagt, daß seine Ernennung eingetroffen, eine Entscheidung demnach nicht länger zu verzögern sei. Ich hatte den letzten Kampf bestanden, ein einleitendes Wort tapfer herausgepreßt, und eben wollte ich meine Hand in die seine legen, als ich eine bierbassige Stimme zu meinen Füßen den Namen »Hardine« rufen hörte.

Ihr seid, wenn auch in früher Jugend, Zeugen der nun folgenden Szene gewesen, meine Freunde, habt sie ohne Zweifel späterhin manchmal rekapitulieren hören. Ich brauche Euch also nur über die Vorgänge in meinem Innern, die eine so verdächtigende Wirkung hervorbrachten, aufzuklären.

Im entscheidenden Momente unterbrochen, blickte ich auf und gewahrte einen jungen, rüstigen Mann, die Glut des Trunkenbolds auf dem Gesicht; zu jeder Zeit mir die widerwärtigste Begegnung, bei dieser Gelegenheit aber doppelt ein Greuel. Unter wüsten, mir kaum verständlichen Reden[321] stieg er die Stufen heran, ein Fuseldunst quoll mir entgegen: mit der Hand, die ich eben zu einem Verlöbnis ausgestreckt hatte, wehrte ich den dreisten Gesellen von mir ab. Er taumelte, stürzte, und eine Blutspur am Boden trieb mich an, ihn genauer ins Auge zu fassen. Jetzt erst bemerkte ich die verwitterte Uniform, das kriegerische Zeichen des Legionärs, den verkrüppelten Arm; ich starrte in die narbigen Züge, und eine erschütternde Ahnung überkam mich.

Wie er nun aber plötzlich ernüchtert, mir mit geballter Faust und drohendem Trotze gegenübertrat, da weckte das stolze Zurückwerfen des Kopfes, der zornig flammende Blick des blauen Auges in meiner Erinnerung ein lange schlummerndes Bild; seltsamerweise aber nicht zuerst das des Sohnes, der sich einen Tod auf dem Schlachtfelde gewünscht, sondern das des Vaters, der ihn so früh auf demselben gefunden hatte. Prinz August, nicht August Müller, war plötzlich vor mir lebendig geworden. Die Vision währte nur einen Augenblick. Bei den ersten Worten von Vater und Kind hatte ich mir ihre seltsame Begriffsverwirrung erklärt; durfte ich aber, konnte ich vor dieser gaffenden Gesellschaft den Irrtum lösen? Ehe ich noch einen Entschluß gefaßt, hatte sich der Mann zum Gehen gewendet; ich sah einen aschfarbigen Schatten über seine Züge fliegen, ihn sich zitternd an das Laubengitter klammern; ich winkte dem Prediger, ihn zu unterstützen, auch der Graf eilte ihm nach in merklicher Verblüffung, bald waren sie in dem Laubengange verschwunden.

Ich war nicht in der Stimmung, mich mit meinen Gästen in Erläuterungen einzulassen; wir beknicksten uns wohl noch später im Schlosse, und entfernten sie sich ohne Abschied:[322] desto besser. Daß einer von ihnen im Ernst an die Bezichtigungen des Fremden glauben könne, kam mir nicht in den Sinn. Ich suchte die Stille meines Zimmers.

In Wahrheit, ich fühlte mich tief bewegt. War doch, wie durch einen Zauber, ein lange vergangenes, vergessenes Leben vor mir aufgerüttelt, in dem Augenblicke, wo ich über den Rest desselben zu verfügen im Begriffe stand! Dazu der verwahrloste Zustand des Mannes und seines Kindes, die Täuschung, der er sich hingegeben und deren Berechtigung sein und mein alter Freund mir warnend vorausgekündigt hatte. So sollte ich diesem Freunde nach einem Menschenalter doch noch seine vielverspottete Fürsorge danken lernen.

Während ich nach August Müllers Taufzeugnis in meinen Papieren kramte, zweifelte ich nicht an meinem Recht, den betörten Mann über seine Herkunft aufzuklären. Ich zeigte ihm, so meinte ich, das Attest, verschwieg den Namen des Vaters, wie das fernere Schicksal der Mutter, und wenn ich für ein schickliches Unterkommen von Vater wie Tochter Sorge trug und ihre Zukunft sicherstellte, war der Handel abgemacht.

Eben hatte ich nach langem Suchen das Zeugnis gefunden, als der Prediger mit dem Grafen bei mir eintrat. Der letztere in einer Aufregung, die mich an dem gehaltenen Manne unangenehm befremdete. »Er liegt im Wirtshause und simuliert eine Krankheit,« rief er mir hastig entgegen.

»Er ist krank, Herr Graf,« widersprach der Prediger, »das Fieber schüttelt ihn.« –

»Ein Katzenjammer, wenn nicht das Delirium des Trunkenbolds!« entgegnete der Graf. »Ein Glück, daß ich heute[323] noch Landrat des Kreises heiße und ihm seine Papiere abnehmen durfte. Lesen Sie, Fräulein von Reckenburg!«

Er übergab mir bei diesen Worten jene mehrerwähnten schriftlichen Kindheitserinnerungen August Müllers, und erging sich, während ich die Blätter überflog, mit zornigen Worten über das Wirrsal von Verleumdungen, welche sich seit dem Morgen in der Gemeinde verbreitet hatten und über Nacht in der Umgegend verbreiten mußten. »Ich werde«, so schloß er, »den Vagabunden unverweilt in das städtische Krankenhaus und nach seiner Herstellung mittels Zwangspasses über die Grenze transportieren lassen. Der kürzeste Weg, das Gerede abzuschneiden. Der Mensch ist verrückt oder ein Betrüger erster Sorte.«

»Er ist keines von beiden,« versetzte ich ruhig, indem ich die Handschrift nebst den beiliegenden Attesten in meinem Schreibtische verschloß. »August Müllers Erinnerungen sind richtig, und der Schluß, den er irrtümlich daraus gezogen hat, mag durch sein Elend entschuldigt werden. Er ist ein Eingeborener von Reckenburg, und wir haben die Pflicht, ihn innerhalb der Gemeinde zu verpflegen.« –

Ich klingelte bei diesen Worten und befahl dem eintretenden Diener, den Hausarzt aufzusuchen und den Kranken im Wirtshause anständig versorgen zu lassen.

»Eine Gnade, die Ihnen bittere Früchte tragen wird,« sagte der Graf, wie mich dünkte, mit Hohn. »Die erste ihrer Art, auf die man sich in Reckenburg wird berufen können.«

Die erste Wohltat an einem Fremdling in Reckenburg! Die Lehre, so wenig sie in diesem Sinne gemeint war, würde schneidend gewesen sein, hätte ich auf den Ruhm einer barmherzigen Schwester überhaupt etwas gegeben,[324] oder hätte ich wenigstens sie bei ruhigem Blute aufgefaßt. Aber des Grafen Verstimmung hatte mich angesteckt. Ich trug in mir einen wunden Fleck, dessen Berührung ich einst meinem ersten Freunde schwer vergeben hatte, und die ich meinem letzten Freunde nimmer vergeben haben würde. Um drohenden, weiterführenden Auslassungen wenigstens den Zeugen zu ersparen, bat ich den Prediger, mit dem Doktor Rücksprache zu nehmen und, falls er die Verpflegung des Kranken im Wirtshause nicht genügend fände, seine Übersiedelung nach dem Schlosse anzuordnen.

Sobald ich mit dem Grafen allein war, sagte ich: »Wollen Sie mir, Graf, die bitteren Früchte nicht etwas näher bezeichnen, die mir, nach Ihrem Dafürhalten, aus der Verpflegung eines Fremden erwachsen sollen?« –

»Ja, aber welches Fremden?« rief der Graf achselzuckend. »Nach seiner öffentlichen Anklage und dem Zugeständnis, welches Sie eben gemacht – –«

»Sie meinen das Zugeständnis, ein verwaistes Kind in einer Anstalt untergebracht zu haben?« fragte ich.

»Haben Sie ein Zeugnis über den Ursprung dieses Kindes aufzuweisen?« fragte der Graf dagegen.

»Ich denke, mein Wort genügt,« entgegnete ich, indem ich den Taufschein, den ich noch in der Hand hielt, zerknitterte.

»So sprechen Sie dieses Wort. Nennen Sie den Namen der Eltern, der in dem Anstaltszeugnis so geflissentlich verschwiegen scheint.«

»Und wenn ich ihn ebenso geflissentlich auch fernerhin verschweigen wollte?«

»So würden Sie vor sich selber den Unglimpf eines bis heute makellosen Rufes zu vertreten haben.«[325]

Bis dahin hatte ich meine Standhaftigkeit behauptet; nun hielt ich mich nicht länger. »Sie sprechen damit aus, daß ich ein eigenes Kind – –«

»Nicht von mir ist die Rede,« unterbrach mich der Graf, jetzt so ruhig, als ich das Gegenteil war. »Die Welt urteilt nach dem Schein, und mir als Beamten und Ihrem Freunde steht es zu, diesem bösen Schein entgegenzutreten. Darum frage ich Sie noch einmal: können, wollen Sie mir ein Zeugnis über den Ursprung dieses Mannes geben?«

»Nein!« sagte ich. »Ob ich es nicht geben kann, oder es nicht geben will, gleichviel. Ich bedarf keiner Freunde, die ein fremdes Zeugnis für meine Ehrenhaftigkeit nötig halten; und von dem Beamten, der das Recht meines Heimatsgenossen nicht gelten lassen will, erwarte ich, daß er den Gast meines Hauses respektieren werde.«

Damit verließ ich ihn. Ich wußte, daß ich die offene Tür meines Hochzeitssaales zugeschlagen hatte, und fühlte es wie einen Stein von meiner Seele fallen.

Bei alledem bebte ich vor innerer Entrüstung. Dorothee lebte, und ich hatte kein Recht, ihr Geheimnis preiszugeben. Hätte sie selber aber dieses Geheimnis zu meiner Rechtfertigung enthüllen wollen, ich würde das Wort auf ihren Lippen zurückgehalten haben. Die Leidenschaft hatte meine Auffassung plötzlich geklärt: nicht ich, die Mutter hatte über das Schicksal ihres Sohnes zu entscheiden.

Noch in der Nacht reiste ich mit den Kurierpferden nach Berlin. Ich reiste ohne Dienerschaft, weil mir, ebenso um der Menschen willen, denen ich zueilte, wie für meine eigene Person, ein Ausspionieren und Ausdeuten meiner Schritte widerstand.[326]

Bei einbrechendem Abend erreichte ich mein Ziel und begab mich, ohne erst ein Hotel zu suchen, vom Posthause zu Fuße nach der Faberschen Wohnung, die mir jedes Kind zu bezeichnen wußte. Gelang es mir, Dorothee noch diesen Abend ohne Zeugen zu sprechen, so war meine Aufgabe erledigt, und ich reiste unerkannt noch in der Nacht nach Reckenburg zurück. Der Zustand des Kranken beunruhigte mich. Der Arzt, den ich vor meiner Abreise gesprochen und der einer Übersiedelung nach dem Schlosse widerraten, hatte ihn für eine Lungenentzündung erklärt, Folge schlecht geheilter Brustwunden, und bei der Gewöhnung an starke Getränke doppelt bedrohlich. Auch ahnte ich, nach langem Stillstand, wieder so eine Art Krisis in meinem Leben, die ich jedenfalls auf meinem Posten erwarten wollte.

Wenn man solch eine Lebensgeschichte durchblättert, in welcher bloß die Hauptaktionen Schlag auf Schlag in hinlänglicher Breite geschildert werden, während man die dazwischenliegende Ausfüllung, die still umwandelnde Arbeit der Zeit nur oberflächlich streift, da denkt man sich leicht die Personen unverändert in dem innerlichen Verhältnis, in welchem sie bei der letzten Szene zueinander gestanden haben. Und so könntet auch Ihr, junge lebhafte Menschen, wohl wähnen, daß ich den alten Bekannten mit den alten, leidenschaftlichen Empfindungen oder mit dem Herzklopfen der Schuld entgegenging. Aber siebenundzwanzig Jahre waren vergangen, seit ich Dorotheens Heirat erfuhr, wie manches Menschenleben spinnt sich in diesem Zeitraume ab, von der Wiege bis zum Grabe! Und wenn ich in demselben auch keiner hervortretenden gemütlichen Wendepunkte zu erwähnen hatte:[327] eine gänzlich veränderte Lebensstellung, eine große, stark empfundene Weltepoche, Nachdenken und umfassende Tätigkeit hatten mich zu einer anderen, die Menschen von einst mir zu Fremden gemacht. Ich würde heute Siegmund Faber ohne Verlegenheit gegenübergetreten sein und ihm erforderlichenfalls Rede gestanden, mit Dorotheen aber die Lage der Dinge gelassen, unter Berücksichtigung ihrer Natur und Stellung, besprochen haben. Ja, wie ich so im Abenddunkel die Flucht der Straßen entlang schritt, da kam mir wiederholt der Zweifel, ob meine erste Entscheidung über das Schicksal ihres Sohnes nicht die richtige gewesen sei: ob der Totgewähnte nicht ein Toter für sie hätte bleiben sollen?

Indessen der Affekt hatte mich einmal zu dieser Erweckung des Mutterherzens getrieben, und wir sind ja so leicht geneigt, hinter derlei persönlichen Eingebungen eine ahnungsvolle Fügung vorauszusetzen. Jedenfalls konnte die Stimmung für meine Botschaft geprüft und eine fernere Maßregel mir überlassen bleiben.

Als ich mich dem Faberschen Hause näherte, fand ich das Straßenpflaster mit Stroh belegt, und bemerkte, daß die Vorübergehenden gruppenweise zusammentraten oder mit Neugier nach dem matterleuchteten ersten Stockwerk deuteten. Auch einige unzusammenhängende Bemerkungen fing ich im Vorübergehen auf. »Hier aus diesem Fenster! – Der Mann kam dazu, der arme Mann!«

Die Haustür war unverschlossen, die Treppe leer, aber dicht mit Teppichen belegt; alles still. Erst am Ausgange derselben harrte ein zurechtweisender Diener, und im Korridor ließ sich ein leises, geschäftiges, ängstliches Treiben beobachten.[328]

»Sie ist krank und nicht zu sprechen,« lautete die Antwort auf meine Bitte, der Frau Geheimrätin gemeldet zu werden.

»Auch nicht für eine durchreisende alte Bekannte?«

»Für niemand.«

»Auch morgen nicht?«

»Auch morgen nicht,« beschied der Diener, erbot sich aber, mich dem Geheimrat zu melden.

Ich schwankte einen Augenblick. Der Zweck meiner Reise war verfehlt, doch hätte ich gerne über den Zustand der Kranken nähere Auskunft gehabt, die mir die sichtlich aufgeregte Dienerschaft nicht geben konnte oder wollte. Ich entschied mich indessen, den Herrn so spät am Tage nicht stören, hingegen morgen noch einmal vorfragen zu wollen, gab meine Karte ab und war im Begriff, mich zu entfernen, als ein Türvorhang mir gegenüber auseinandergeschlagen ward und Siegmund Faber mit rascher Bewegung mir entgegentrat.

Fünfunddreißig Jahre hatte ich ihn nicht gesehen, und ein fremdartiger Ausdruck von Pein und Weh war seinen Zügen aufgeprägt; dennoch würde ich, auch an jedem anderen Orte, ihn auf den ersten Blick erkannt haben. Und auch seine ausgestreckte Hand deutete an, daß er ohne Besinnen in der Matrone, die ihm unerwartet gegenüberstand, das fünfzehnjährige Mädchen wiedergefunden hatte. Der Lauf der Zeit hatte in ihm wie mir keine entfremdenden Spuren zurückgelassen; wir waren, wie man es nennt, organisch alt geworden; ein Vorrecht derer, die nur schwach mit dem Herzen leben.

Ich folgte seinem stummen Winke in das eigene Zimmer. »Eine jammervolle Stunde, Fräulein Hardine, in[329] der Sie mein Haus zum erstenmal betreten!« sagte er, indem er meine Hand mit tiefer Bewegung drückte.

»Hoffen Sie noch, Faber?« fragte ich, zum voraus hoffnungslos.

Er aber antwortete: »Hoffen? Ja, ich hoffe, aber nicht auf das Leben.« Und als ich leise das Wort »Hirnfieber« nannte, da sagte er: »Wenn dem so wäre, Sie würden mich weniger ratlos finden. Nein, kein Fieber – –«

Ich schnitt seine Erklärung mit einer hastigen Bewegung ab; der Schauder in seinem Blicke hatte meine Ahnung bestätigt. Ich gedachte der Stunde, wo Dorothee mir diesen Ausgang angedeutet hatte. Wir standen eine Weile schweigend und lauschten auf die markerschütternden Töne, die aus dem Nebenzimmer drangen. »Störe ich Sie?« fragte ich endlich.

»Leider nein!« antwortete er. »Nach außen fehlt mir die Ruhe, und da, wo ich Tag und Nacht nicht weichen möchte, darf ich nur ein verstohlener Zeuge sein. Die Unglückliche, so scheint es, sieht in mir nur den Arzt, vor dem sie sich allezeit gescheut, nicht den trostlosen Gatten, dem sie bis zum äußersten ihre Qual liebreich verheimlicht hat.«

»Und wann trat dieses Äußerste ein?« fragte ich weiter.

»Das Äußerste erst gestern,« versetzte er. »Seiner Natur nach ist es ein heimtückischer, schleichender Zustand, der vielleicht schon vor unserer Vereinigung begonnen hat. Alles in allem: ein Rätsel.«

Ich schwieg mit gesenktem Blick. Ich allein hätte ihm ja den Schlüssel zu diesem Rätsel reichen können.

Er lud mich darauf zum Niedersitzen ein, nahm an meiner Seite Platz und schilderte mir jenen erstarrenden[330] Krampf, der seit dem Hochzeitstage von Zeit zu Zeit das blühende Geschöpf überfallen habe. »Bisweilen«, sagte er, »konnte ich die Krise stundenlang voraussehen. Sie war beklemmt, unruhig, trat wiederholt mit über der Brust gekreuzten Händen auf mich zu, eine Gebärde, durch welche sie schon als Kind eine Bitte so unwiderstehlich auszudrücken verstand, sie sah mit einem herzzerreißenden Blicke zu mir in die Höhe, vermochte nicht zu reden und kämpfte so fort, bis sie erstarrt, mit stockendem Puls, aber völligem Bewußtsein, zu Boden sank. Da der Zustand jedoch nur selten eintrat, rasch vorüberging und keine gesundheitliche ›Störung‹ hinterließ, nahm ich ihn als eine jener unverfänglichen nervösen Affektionen, denen Frauen in kaum berechenbarer Weise unterworfen sind. Ich suchte seinen Grund in der jahrelangen Spannung des Brautstandes, in dem dann allzu plötzlichen Wechsel aller Lebensverhältnisse, unter denen sie nur allmählich in Ruhe und Stille heimisch werden könne. Ich schonte sie, schonte sie vielleicht zu sehr. Ich verfiel in den Irrtum vieler Ärzte, die das körperliche Leben ihrer Angehörigen nach den bedenklichen Erfahrungen ihres Berufes und das seelische nach ihren eigenen Bedürfnissen beurteilen. Weil mir nach einem abspannenden Tagewerk eine Pause des Ausruhens Wohltat war; weil ich nichts verlangte, als das holdselige Geschöpf, still und vergoldend gleich einem Sonnenstrahl, die Schatten meines Berufslebens streifen zu sehen: in meinem selbstsüchtigen Behagen übersah ich ihr unausgefülltes Einerlei, vergaß den Widerspruch mit ihrer ursprünglich bewegsamen Natur, vergaß ihn um so leichter, als sie selber niemals klagte, nach nichts verlangte, immer versicherte, wohl zu sein,[331] und keine Spur des Hinwelkens ihre Worte Lügen strafte. Sie war und blieb ein blühendes, liebliches Kind, Fräulein Hardine, ein Engel der Demut; Dorothee, meine Gottesgabe, mein Sonnenstrahl!«

Der Mann verbarg das Gesicht hinter seinen Händen, ich hörte ein krampfhaftes Schluchzen: lange vermochte er nicht weiter zu reden, und als er endlich von neuem begann, geschah es mehr zu sich selbst als zu mir. »Die unterdrückte Natur rächt sich allemal – allemal! – wenn ich sie hätte reisen lassen – ihr Zerstreuung und Umgang gesucht – Licht und Luft um sie geschaffen in der weiten Einöde der Stadt: nichts, nichts habe ich für sie getan; mich an ihrem Anblick erquickt, Egoist, der ich war, und nun so grausam bestraft!«

Eine neue Pause folgte. Nachdem er sich gesammelt hatte, fuhr er rasch, gleichsam geschäftsmäßig fort: »Unter den erschütternden Ereignissen des Herbstes 1806 hatte ihr Leiden sich gesteigert. Als ich bei meiner Rückkehr von der Armee unerwartet bei ihr eintrat, umfing ich minutenlang eine Leiche. Der Zustand kehrte seitdem öfter wieder, dauerte länger, man möchte sagen, er wuchs mit den Qualen und Enttäuschungen des Vaterlandes. Im Sommer 1809, als Schlag um Schlag das Scheitern Schills und Braunschweigs, die Niederlage Österreichs bekannt wurden, schien er seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Dann trat eine Pause ein; die Stille der Resignation, um unter den Opfern der Erhebungszeit von neuem aufzuwachen. Ich war der Armee gefolgt und hörte später erst von anderen – niemals von ihr selbst –, daß sie sich den Frauenvereinen angeschlossen hatte, die nach den märkischen Schlachten sich des Dienstes in[332] unseren Spitälern unterzogen. Armes, zärtliches Kind, das niemals einen Blutstropfen sehen, von einer Wunde nur reden hören konnte! Tag für Tag trat sie den Gang durch die Leidensstätten an, ging von Bett zu Bett, starrte angstvoll in jedes Krankenangesicht, als ob sie einen suche, der nicht zu finden, einen retten wollte, der nicht zu retten war, und brach dann am Ausgange vernichtet zusammen, um anderen Tages den qualvollen Weg von neuem anzutreten.

Selbstverständlich würde ich, wenn zur Stelle, diese zwecklose Folter gehindert haben. Als ich aber nach Jahr und Tag aus Frankreich heimkehrte, fand ich die Spitäler geleert und Dorothee fast unverändert die alte. Erst während der Tage von Ligny und Waterloo – ich befand mich wieder bei der Blücherschen Armee – soll eine kurze Katastrophe eingetreten sein, die mich auf die heutige hätte vorbereiten können. Ich war nicht Zeuge derselben, und tröstete mich wiederum, daß die eindrucksfähige Kindernatur, die Idiosynkrasie gegen alles, was Tod und Leiden heißt, diese gewaltsame Erschütterung hervorgerufen habe. Ihr gegenwärtiger Zustand, ohne jeglichen Anlaß von außen her, spricht jenem Troste Hohn. Ich stehe wie ein Narr vor diesem Rätsel der Natur.

Sie dürfen denken, Fräulein Hardine, daß da, wo mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele stand, ich dem eigenen Urteil nicht allein vertraute. Ich habe den Rat meiner anerkanntesten Kollegen in Nähe und Ferne eingeholt. Einmal aber sträubte sich Dorothee mit einer Heftigkeit, die ihrem sonstigen Wesen völlig fremd war und ihren Zustand steigerte, gegen jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch kein einziger eine zweckmäßig[333] scheinende Methode vorzuschlagen. Sie selbst erklärte sich für gesund, und sie schien es zu sein. Ich mußte mich allerseits mit dem Vorwurf hypochondrischer Ängstlichkeit abfertigen lassen. Höchstens daß man das Postulat der Kinderlosigkeit als die Ursache momentaner körperlicher oder gemütlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin aber zu sehr Arzt, um ein Freund derartiger Postulate zu sein. Unsere Kunst ist eine der Exemtionen. Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine Mutter erlag, als sie mir das Leben gab, und lassen Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war zu sehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater ihr so wenig eine Stütze zu sein vermochte. Sie erkannte das auch wohl selbst. Niemals hatte sie eine mütterliche Sehnsucht angedeutet; ja ich sah sie von einem Schauder befallen, als wir auf einer unserer seltenen gemeinsamen Wanderungen durch die Stadt einer Schar tobender Waisenknaben begegneten. Als ich ihr nach 1806 – nicht zu meiner, nur zu ihrer eigenen Ausfüllung – den Vorschlag machte, eine Soldatenwaise zu adoptieren, da war ein Krampfanfall ihre Antwort, und nachdem die Sprache wieder zurückgekehrt war, sagte sie nichts als mit der flehendsten Gebärde: ›Bitte, bitte – nein!‹

Man gewöhnt sich an solchen Zustand, Fräulein Hardine. Mein Berufsleben wurde immer absorbierender. Ich war häufig auf Reisen, und wenn in Berlin, oft nur minutenweise in meinem Hause anwesend. Da bemerkte ich es denn kaum, daß sie von Jahr zu Jahr stiller und in sich gekehrter ward, ja daß wohl Tage vergingen, ohne daß ich einen Laut von ihren Lippen vernahm. Das Alter macht naturgemäß schweigsam, und was hätten wir[334] im Grunde uns auch mitzuteilen gehabt? Sie erlebte zuwenig und ich zuviel, aber doch nicht das, was zu häuslichem Austausch sich eignete. Die beängstigenden Zufälle hörten allmählich auf, ich fühlte mich beruhigt – bis, ja, es mögen jetzt drei Monate sein –

Da konnte ich mir denn nicht länger verbergen, daß die stumme Apathie in eine seltsame Aufregung umgeschlagen war. Sie ging den ganzen Tag im Zimmer auf und ab und saß die Nächte mit offenen Augen in ihrem Bette, oder ich traf sie wohl auch nachts leise auf und nieder wandelnd. Mahnte ich sie zur Ruhe, so gehorchte sie ohne Widerspruch, legte sich und stellte sich schlafend. Sobald ich aber in meine Kammer zurückgekehrt war und sie sich unbeobachtet glaubte, richtete sie sich auf und begann ihre Wandelgänge von neuem. Sie schlummerte nicht, sie fragte nach nichts und antwortete nur mit stummen, aber deutlichen Gebärden; sie nahm nur gezwungen die notdürftigste Nahrung. O daß das arme Hirn in dieser Zersetzung sich leise erschöpft hätte, aber seit gestern – –«

»Seit gestern?« drängte ich gespannt.

»Seit gestern – –«

Ein schriller Schrei aus dem Nebenzimmer unterbrach ihn. Er sprang auf und lauschte hinter dem Vorhang an der sacht geöffneten Tür. »Wer faßt es, Fräulein Hardine,« sagte er darauf, als es drinnen wieder still geworden war, »wer erträgt es, die friedfertigste Kreatur enden zu sehen unter den Qualen einer Mörderin, sie mit Gewalt vom Äußersten abhalten zu müssen, – – o Gott, Gott! gestern in der Dämmerstunde ein unbewachter Moment, und – sie würde – –«[335]

Der Mann konnte nicht weiter; auch ich stand erschüttert bis ins Mark. Seit Monden, wo der Sohn, eine Mutter suchend, das Land durchwanderte, und gestern, gestern, da er im Wahn seine Hand nach einer anderen ausstreckte, – – darf man an solche Sympathien glauben, an eine elektrische Strömung des verwandten Blutes?

»Dürfte ich sie sehen?« fragte ich nach einer langen Stille den unglücklichen Mann.

»Sie würde Sie nicht erkennen, schwerlich bemerken. Aber Sie, wie sollten Sie diesen Eindruck ertragen? Fräulein Hardine – sie rast!«

»Führen Sie mich zu ihr,« sagte ich voranschreitend. Unter der Tür hielt ich an. »Eine Frage noch: ist es eine formlose Beklemmung, oder – –«

»Es ist ein fixiertes Wahnbild,« versetzte Faber flüsternd, »das sinnloseste, – – oder sollte dennoch eine unterdrückte mütterliche Sehnsucht – – sollte ich zum zweitenmal genarrt – –? Doch genug der fruchtlosen Grübeleien. Sie quält sich mit der verzweifelten Idee, eine Kindesmörderin zu sein. Nicht aber eines eigenen, neugeborenen Kindes, wie es ein häufiger Wahn irrsinniger Frauen ist; nein, über einen Knaben tobt sie, einen Waisenknaben, den sie, sie selber totgeschossen haben will. Auf Viertelstunden tritt wohl eine Pause ein; dann formt sie aus Kissen und Tüchern einen Knäuel, preßt ihn an ihr Herz und liebkost ihn wie eine Mutter ihr Kind; bald aber zerreißt sie mit der Kraft der Raserei den Balg in Stücken, schleudert ihn von sich, schreit auf, sieht sich – oder wen? – in einer teuflischen Umgebung, die sie ›die Schwarzen‹ nennt, und kann nur mit Zwangsmitteln zurückgehalten werden, eine gewaltsame Befreiung aus dieser Seelenqual zu suchen. Und[336] dennoch, dennoch, sollten Sie es glauben, Fräulein Hardine? das engelhafte Gemüt hat sich auch in diesem Äußersten nicht bemeistern lassen. Vor dem trostlosen Gatten möchte sie ihre Folter auch jetzt noch verheimlichen. ›Still, still!‹ flüstert sie, sooft ich mich nahe. Da aber die Angst stärker ist als der Wille, wird sie immer unruhiger, windet sich, bäumt sich, stöhnt, bis ich mich entferne und sie wie erlöst aufatmet, um bald von neuem von dem gemordeten Knaben und den Schwarzen verfolgt zu werden.«

Wir traten in das Krankenzimmer. Es war tageshell erleuchtet, denn die bedrohenden Gespenster wuchsen in der Dunkelheit. Zwei baumstarke Wärterinnen versahen den Dienst. Dorothee saß im Bett in unbezähmbarer Unruhe. Mit der einen Hand stieß sie eine kalmierende Arznei zurück, mit der anderen riß sie die Eisblase ab, die man auf dem Kopfe festzuhalten suchte. Das einst goldige Haar hing wie eine Silberwelle, von geschmolzenen Eistropfen überperlt, an den Schläfen herab, das Antlitz glich einer schneeigen Blüte, und die erweiterten Augen flogen in ruhelosem Flimmer auf und nieder. Das unglückselige Weib, im fünfzigsten Jahre, in den Banden des Wahnsinns, an der Pforte des Grabes, war noch immer schön; ja mich dünkte, ich hätte es niemals schöner gesehen als in diesem Aufruhr der heimlichsten Natur.

Ich bedeutete die Wärterinnen, ihr fruchtloses Bemühen aufzugeben; sie zogen sich zurück und ich setzte mich auf einen Stuhl am Bette. Der Mann lauschte verborgen im Hintergrunde, kein Atemzug ging durch den Raum.

Eine lange Weile bemerkte sie mich nicht; sie hatte eine ihrer ruhigen Minuten; geschäftig bündelte sie die Eisblase, die sie sich vom Kopf gerissen, in ein Tuch und preßte[337] sie an ihr Herz. »Hu, hu, wie kalt!« murmelte sie schaudernd, »wie kalt!«

Ich trat dicht an sie heran, ergriff ihre beiden Hände und senkte meine Augen fest in die ihren. »Kennst du mich noch, Dorothee?« fragte ich.

Und wunderbar! Kaum daß sie meine Stimme vernommen und nur einen Moment forschend zu mir aufgeblickt hatte, rief sie: »Hardine, Fräulein Hardine!«

Der lauschende Mann konnte einen Laut der Überraschung nicht zurückhalten. Dorothee horchte gespannt. »Still, still!« flüsterte sie, indem sie das Bündel unter ihrer Decke verbarg. Als aber alles wieder ruhig geworden war, zog sie es von neuem hervor, drückte meine Hand darauf und sagte: »Fühlen Sie, Fräulein Hardine, wie kalt! Es ist tot, hu, so kalt, so kalt, das arme Kind, tot!«

»Es ist kein Kind, Dorothee,« sagte ich, »es ist ein kalter Stein, der lange auf deinem Herzen gelegen hat. Ich will ihn von dir nehmen. Siehst du, nun ist er fort, nun wird dir leichter werden, Dorothee.«

Sie ließ es willig geschehen, daß ich das Bündel von ihr nahm; aber sie wimmerte immerzu: »Tot, tot, das arme Kind tot!« Einen Augenblick schwankte ich noch; dann wagte ich es, dem Lauscher zum Trotz, auf alle Gefahr. Ich drückte die Hand der jammernden Mutter an mein Herz und sprach mit erhobener Stimme: »Das Kind ist nicht tot, Dorothee. Gott ist ein Vater der Waisen, der Knabe lebt!«

»Er lebt, er lebt!« schrie sie auf. »Wer sagt, daß er lebt? Wer hat es gesehen, daß er lebt?«

»Hardine sagt es,« versetzte ich, »Hardine hat ihn gesehen. Der Knabe lebt!«[338]

»Er lebt, er lebt!« rief sie. »Hardine sagt es, Hardine lügt nicht, niemals! Hardine hat ihn gesehen. Er lebt! Wo, wo? Führe mich zu ihm, Hardine!«

»Ja, ich will dich zu ihm führen, Dorothee. Ich will dich mit mir nehmen nach Reckenburg. Weißt du noch? nach Reckenburg, Dorothee.« –

Eine Minute lang saß sie sinnend, rieb sich die Stirn und murmelte: »Reckenburg! Reckenburg!« Endlich hatte sie es gefunden. »In Reckenburg, ja, in Reckenburg, da wars. Nicht im Waisenhause, nicht bei den Schwarzen. In Reckenburg lebte er. Fräulein Hardine hat ihn gesehen. Fräulein Hardine nimmt mich mit nach Reckenburg; Fräulein Hardine hält Wort!« Sie klatschte in die Hände wie ein Kind. »Nach Reckenburg!« jubelte sie, »kommen Sie, Fräulein Hardine.«

»Ich bringe dich nach Reckenburg,« sagte ich; »aber nicht heute; erst mußt du gesund werden, liebe Dorothee.«

»Ich bin gesund, ganz gesund,« versicherte sie, indem sie Anstalt machte, das Bett zu verlassen.

Ich konnte sie nur mit Mühe darin zurückhalten. »Du bist krank, Dorothee,« sagte ich bestimmt; »du wirst aber bald gesund werden, wenn du mir folgst. Nimm diese Tropfen; lege dich ruhig hin, drücke die Augen zu und schlafe aus. Dann gehst du mit mir nach Reckenburg.«

»Ich will Ihnen folgen, Fräulein Hardine,« sagte sie und nahm ohne Sträuben den Trank, dem sie sich bisher so gewaltsam widersetzt hatte. Plötzlich wurde sie aber wieder unruhig, spähte ängstlich im Zimmer umher und flüsterte mir ins Ohr: »Er, er! Wenn er nun kommt? Wenn er es nun merkt? Er läßt mich nicht fort, Fräulein Hardine.«[339]

»Sei ruhig, ich wache bei dir,« entgegnete ich laut. »Und er wird dich mit mir gehen lassen, denn er liebt dich, Dorothee.«

»Fräulein Hardine wacht bei mir,« lispelte sie schon mit schläfrigen Augen, ließ sich darauf, gehorsam wie ein Kind, das durchnäßte Haar von mir abtrocknen, warm einhüllen und betten. Ihre beiden Hände ruhten in den meinen; sie blickte noch einigemal in die Höhe, als sie mich aber ruhig auf dem Bettrande sitzen und meine Augen wachsam auf sich gerichtet sah, schlummerte sie sanft atmend ein.

Nach einer Weile erhob ich mich leise und trat zu dem, welcher diesem Auftritte unbemerkt gelauscht hatte. Tränen, vielleicht die ersten des bewußten Lebens, rannen über seine Wangen. Er drückte meine beiden Hände an sein Herz. »Die Wohltat einer ersten friedlichen Stunde!« sagte er. »Welch ein Zauber liegt doch in den frühesten Erinnerungen, in den Menschen, welchen wir am frühesten vertrauten. O des Selbstsüchtigen, Verblendeten, der nur nach dem Pendelschlag der Stunde gerechnet hat! Wenn ich sie vor Jahren Ihnen zugeführt hätte, vor Monaten noch – –«

»Und wenn es noch jetzt nicht zu spät wäre, mein Freund?« fragte ich.

Er aber schüttelte den Kopf und antwortete: »Es ist zu spät.«

Ich versprach ihm darauf, die Nacht bei Dorothee zu wachen, und bat ihn, für einige Stunden die Ruhe zu suchen, deren er so dringend bedürfe.

»Auch ich werde Ihnen folgen,« sagte er und ging nach einem wehmütigen Blick auf die Schlummernde in sein Zimmer. Von Viertelstunde zu Viertelstunde erschien er indessen lauschend unter der Tür, bis er endlich mit dem[340] Entschlusse, schlafen zu wollen, in ein paar Stunden ungestörter Ruhe die erschöpften Kräfte wiederfand.

Ich saß allein bei der Kranken, ihre Hände in den meinen, und Gott weiß! in welchem Aufruhr der Ge danken! Was für eine Ironie in dem beglückenden Wahne des getäuschten Mannes? Was für eine Strafe in dem gräßlichen Wahne der täuschenden Frau! Aber sie lag so still, sie atmete so gleichmäßig leise; sollte es wirklich zu spät sein, Wahrheit und Frieden an Stelle der Irrung walten zu lassen?

Nein, ich hoffte noch, hoffte noch, als ich mich beim grauenden Morgen erhob, um die Lampen zu löschen und die Fensterbehänge zurückzuziehen. Als ich aber nach wenigen Minuten auf meinen Platz zurückkehrte, da gewahrte ich jene plötzliche, unbeschreibliche Wandlung, welche jede Hoffnung vernichtet.

Ich hätte Siegmund Faber herbeirufen mögen zum letzten Lebewohl. Aber Dorothee schlug jetzt die Augen zu mir auf, nicht mehr im Flimmer des Wahns, nein, die fragenden Kinderaugen aus ihrer schuldlosen Zeit. Sie tastete nach meiner Hand und flüsterte in mein Ohr: »Glaubst du, daß Gott barmherzig ist, Hardine?«

»Ich glaube es, Dorothee,« antwortete ich bestimmt.

»Auch gegen eine, die nicht mehr Vater zu ihm sagen darf?«

»Gegen jedes schwache, irrende Geschöpf, das sich nach seiner Vaterliebe sehnt.«

»Und er lebt, hast du gesagt, er lebt?«

»Er lebt, und ich werde meine Augen über ihn halten und ihm sagen, daß im Vaterreiche eine liebende Mutter seiner Heimkehr harrt.«[341]

Kaum hatte ich diese Worte gesprochen und Dorothee mit letzter Lebenskraft ihre Lippen auf meine Hand gedrückt, als Siegmund Faber in das Zimmer trat und mit einem herzdurchdringenden Schrei an dem Sterbebette niederstürzte. Sie schlug das brechende Auge noch einmal zu ihm auf, ein letztes Beben erschütterte den halberstarrten Leib. »Faber!« röchelte sie. »Barmherzigkeit, Faber! Herr, mein Heiland, Barmherzigkeit!«

Und alles war zu Ende.

Ich entfernte mich unbemerkt. Als ich aber nach etlichen Stunden wiederkehrte, um Abschied von dem Freunde zu nehmen, da fand ich ihn noch auf der nämlichen Stelle, umklammernd die tote Gestalt, die er bis zum letzten sein Kind und nicht einmal sein Weib genannt hatte. Doch faßte er sich, sobald er mich bemerkte, und begleitete mich aus dem Sterbezimmer, nachdem ich mit einem langem Blicke von dem auch im Tode noch schönsten Weibe Abschied genommen hatte.

»Solange ich lebe, Fräulein Hardine,« sagte er »werde ich Ihnen diese sanfte Erlösungsstunde danken. Sie war meine Lebensfreude, mein ganzes Glück!«

Ich trennte mich von Siegmund Faber mit dem heiligen Vorsatz, die Erinnerung an seinen Sonnenstrahl rein zu erhalten vor jedem trübenden Hauch.

Meine Seele war erfüllt von dem Schauerbilde einer beleidigten und sich rächenden Natur, aber auch – ich sehe deine Tränen fließen, mein Kind! –, aber auch von einem Versöhnungsglauben, wie ich ihn niemals stärker an einem Sterbebette empfunden habe. Sie hatte den Frevel gegen Gottes ewige Ordnung erkannt und mit allen Qualen eines armen Menschenherzens hienieden gebüßt; der Wahn war[342] dem Leben voraus geflüchtet, mit dem Flehen, in dem sie geschieden ist, wird sie jenseit begonnen haben und Vater sagen dürfen, den wiedergefundenen Sohn an ihrer Hand.

In dieser Stimmung nahm ich es als eine trostreiche Erfüllung, daß ich bei meiner Heimkehr nach Reckenburg alsobald an ein zweites Sterbebett berufen ward, zu einem Scheiden, so klar und gefaßt, wie das tapfere Herz es sich dereinst, wenn auch in mächtigerer Umgebung, gewünscht hatte.

»Fräulein Hardine,« rief mir August Müller entgegen, »Sie sind nicht meine Mutter, ich weiß es jetzt, denn der Tod macht hell. Vergeben Sie mir die Unehre, welche meine Torheit über Sie verbreitet hat.«

»Du suchtest eine Mutter und irrtest in gutem Glauben. Du hast mich nicht beleidigt, August,« versetzte ich aufrichtig, indem ich ihm die Hand reichte.

Er drückte sie kräftig, lag eine Weile in Nachdenken versunken und sagte dann: »Eins noch, Fräulein Hardine: jene weiße Frau mit dem gelben Haar, die ich bei der Leiche Ihres Vaters sah, ist sie –?«

»Sie war deine Mutter, August. Sie ist dir in Liebe vorangegangen. Ich aber werde an ihrer Statt für deine Tochter Sorge tragen.«[343]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 1, Leipzig 1918, S. 321-344.
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