Zweites Kapitel

Mosjö Per-sé

[81] Unser Verhältnis änderte sich natürlich, seitdem wir nicht mehr Kinder hießen. Dorothee trat in das väterliche Schenkgeschäft, ich wurde als erwachsene Dame bei den Honoratioren von Stadt und Umgegend eingeführt, empfing deren Gegenvisite, besuchte dann und wann eine Kaffeegesellschaft und regelmäßig die Donnerstagsfeste im herzoglichen Pavillon. Einen zusagenden Umgang unter gleichalterigen Standesgenossinnen fand ich nicht, vermißte ihn aber auch nicht.

Dorothee betrat des Reckenburgsche Familienzimmer nur noch, wenn sie sich eine Bitte oder einen Vorwand ausgeklügelt hatte; die Duzkameradschaft hörte auf, – will sagen für die Dorl. Ich blieb bei dem Du und der Dorothee; sie nannte mich Sie und Fräulein, wie alle anderen ihresgleichen, nur daß ihr das »gnädige« gnädig erlassen ward. Sie herzte und streichelte mich auch nicht mehr wie sonst, sondern machte ihren Knicks, und lief das Herzchen ihr über, dann küßte sie meine Hand.

Völlig störten die neuen Formen den alten Umgang indessen nicht, und ganz und gar nicht das Verhältnis der Rose zu ihrem Blatt. Es verging kein Tag, daß die Kleine nicht einmal durch die Heckenlücke geschlüpft oder in meinem Dachstübchen eingekehrt wäre. Ich blieb ihre Vertraute bei jeglicher Freude, ihre Raterin in jeglicher Not; ja ich sah die letztere schärfer und fühlte sie bänglicher als die Kleine selbst.

Ihr Vater hatte das nährende Handwerk an den Nagel gehängt und war auf dem herkömmlichen Schenkenwege[81] hart beim Trunkenbold angelangt. Es stand übel um den Mann; die Pachtung der herzoglichen Keller wurde ihm nach abgelaufenem Termine voraussichtlich entzogen; seine Zukunft war der Spittel.

Diese Verirrungen waren es indessen nicht, welche die sorglose Dorl überschaut oder gewürdigt haben sollte. Ihr täglicher Verdruß war das Schenkentreiben, für welches der Vater ihre Aushilfe forderte. Die schöne Kellnerin lachte die Gäste an, und die Gäste wurden nicht gewählt. Da gab es denn Scherz- und Nachreden, die dem natürlich feinen Sinn des Kindes und dem Tone, an den es sich in Reckenburgs Familienzimmer gewöhnt hatte, unleidlich widerstanden.

Mein Vater sah seinen Liebling in drohender Gefahr. »Das Kind ist zu schön für eine Schenkjungfer,« hörte ich ihn eines Tages in der vertraulichen Rats-und Schlafkammer der Mutter klagen. »Viel zu schön und zu apart für ihren Stand. Sie weiß nicht mehr, wo aus noch ein. Adelheid, Adelheid, die kleine Dorl geht uns zugrunde.«

»Du rechnest ohne den Faber, Eberhard,« entgegnete die Mutter mit bewußter Unfehlbarkeit. »Allerdings müßten wir uns anklagen, das Mädchen seinem natürlichen Terrain entrückt zu haben, hätten wir nicht seit Jahren diesen Abschluß vorausgesetzt. Der Mensch strebt hoch und das Gelingen steht ihm an der Stirn geschrieben; er goutiert Dorothees feinere Lebensart, kennt ihre mißliche Lage so gut wie wir selbst und wird, verlaß dich darauf, Eberhard, nun, da der Tod seines Vaters ihn unabhängig gemacht, mit der Hochzeit nicht lange zögern.«

»Gott gebs, Gott gebs!« versetzte der Vater, indem er sich freudig die Hände rieb.[82]

Mir aber stockte während dieser Rede der Atem, und jetzt beim Schlusse war mir, als ob ich gegen das hoffnungsvolle »Gott gebs« laut protestieren müsse. Warum eigentlich? Ich wußte, daß wir mit dem Einsegnungstage heiratsfähig geworden waren, und die fünfzehnjährige Dorothee wäre nicht das erste Kind gewesen, das ich warm vom ersten Abendmahlstische zum Traualtare hätte schreiten und glücklich werden sehen. Warum summte es denn vor meinen Ohren gleich Unkenruf: »Gott verhüts!«

Wie sie so einer nach dem anderen in die Reihe meiner Bekenntnisse treten, die wenigen Menschen, mit welchen ich im Leben wirklich gelebt! Der Faber, der Siegmund Faber! Wenn später so oft der Name dieses Mannes mit Dank und Bewunderung vor mir genannt worden ist, neulich noch, meine Freunde, als Ihr mich fragtet, ob ich mich seiner als eines Heimatsgenossen erinnere? Da ahntet Ihr nicht, keiner hat es jemals geahnt, daß dieser Mann mein frühester Bekannter, mein Wandnachbar, der erste Mensch und fast der einzige gewesen ist, der mir zu denken gegeben hat, und daß zwischen diesem Mann und mich sich ein Verhängnis gedrängt hatte, ein Geheimnis, das ich lange Jahre ein Verbrechen nannte.

Siegmund Faber war das einzige Kind unseres Hauswirts, des Barbiers, und mütterlicherseits von seiner ersten Stunde ab verwaist. Da er ungefähr sechs Jahre mehr zählte als ich, hätte er zur Zeit meiner frühesten Erinnerungen noch auf der Schulbank sitzen müssen.

Aber Siegmund Faber hatte längst etwas Klügeres erwählt, als auf der Schulbank hin und her zu rutschen. Sobald er sich rasch und sicher die Elemente angeeignet, hütete er sich, den Kursus alljährlich mit einer Schar von[83] Neulingen von vorn anzufangen, und der einsichtige alte Rektor war weit entfernt, ihn darob zu schelten. »Der Faber geht seinen eigenen Weg,« sagte er, »der Faber ist ein Mensch für sich.« Vater Faber aber, der die Kunst des Schersacks für die angenehmste der Welt und es für zuverlässiger hielt, seine Sparpfennige in Feld- und Wiesenparzellen statt in Humaniora für seinen Sprößling anzulegen, Vater Faber hatte sich die Argumente des weisen Schulregenten zunutze gemacht. Wurde er, wie oftmals geschah, angegangen, den auffälligen Knaben einer höheren Lehranstalt zu übergeben, so lautete seine Antwort unveränderlich: »Mein Munde geht seinen eigenen Weg, mein Munde ist ein Mensch für sich«.

»Der Mensch für sich« wurde demnach unter der Faberschen Kundschaft die gang und gäbe Bezeichnung des kleinen Schersackserben. Papa Reckenburg aber, der so leicht keinen, den er gern hatte – einzig und allein seine »Hausehre« ausgenommen –, ohne einen harmlosen Spitznamen entwischen ließ, konnte sich nicht versagen, den »Menschen für sich« ein wenig fremdländisch umzumodeln. »Mosjö Per-sé« hieß der Haussohn innerhalb der alten Baderei.

Und hier wie dort mit Fug und Recht. Siegmund Faber war ein Original; das heißt, er war einer von jenen Seltenen, der unbeirrt seiner Eigenart eine Straße durch den Haufen bricht. Denn für eine herrschende Leidenschaft rüstete ihn die Natur mit dem herrschenden Willen, und nach dem inneren Gehalte modelte sich kennzeichnend die Form.

Denkt Euch ein Männchen, kaum Soldatenmaß, wie der Rittmeister von Reckenburg versichert. Gleichwohl, kurios![84] blickt Ihr zu ihm empor. Ihm gehts wie seinem Haus: es wächst erst über der Schulterhöhe. In seinem Nacken müssen wohl etliche Wirbel mehr, als die Regel ist, zu zählen sein, Drehwirbel, welche die spürende Beweglichkeit nach allen Seiten vermitteln. Noch länger als der Hals ragt der Kopf, nach hinten steif abfallend, die Stirn gewaltig und edel geformt. Unter dieser hohen, breiten Stirn streckt sich eine lange, breite Nase, die Höhlen weit geöffnet, die Flügel zitternd, und unter dieser richtigen Spür- und Schnüffelnase dehnt sich der breite, dünne Mund, festgeschlossen wie ein Gedankenstrich. An den Seiten aber ragen zwei ungeheure Ohren, die sich – schüttelt immerhin die Köpfe! – in fortwährender Spannung wie die eines Hasen hin und her bewegen.

Es ist kein Adonis, den ich Euch zeichne, gelt? Nun aber blickt in seine Augen. Eine bestimmbare Couleur werdet Ihr nicht unterscheiden, so tief liegen sie hinter den vorspringenden Stirnknochen eingesenkt, und mit so rastlosem Flimmer schweifen sie von einer Richtung nach der anderen. Haben sie aber den gewitterten Gegenstand aufgespürt, dann bohren sie sich ihm hartnäckig bannend bis in das Mark. Ihr würdet ihrer Forschung nicht entschlüpfen und Euch ihrem Geheiß nicht widersetzen dürfen.

Kurz und gut: patent ein Doktorenschädel und eine Doktorenphysiognomie! Denkt sie Euch nun von der gleichmäßigen Röte eines gesunden Blutes und unlöschbaren Eifers durchdrungen; denkt Euch die Glieder klein und fein wie Damenglieder, aber von einer ehernen Muskulatur; die Hände durch instinktives Greifen, Dehnen, Spannen zu einem Federwerk ausgebildet; denkt Euch den Mann jederzeit wie aus dem Ei geschält, kein Fältchen[85] in dem blendenden Jabot, kein Stäubchen in dem unveränderlich hechtgrauen Habit, kein Härchen sich sträubend aus dem mageren, schwarzgebänderten Zopf, keine Bartstoppelchen am Kinn – ob versagt von der mütterlichen Natur oder getilgt durch die väterliche Kunst, wage ich nicht zu unterscheiden –, und ihr habt einen ungefähren Abriß unseres Menschen für sich.

Er schien niemals in Eile und war immer in Bewegung. Kaum jemals habe ich ihn sitzen sehen, und fünf Stunden nächtlicher Rast genügten ihm schon in der schlafbedürftigen Knabenzeit. Noch nach Mitternacht bemerkte ich den Reflex seiner Lampe auf den blanken Becken zwischen unserem Fensterstock, und bei Tagesgrauen hörte ich ihn schon wieder mit leisen Katzentritten die Treppe hinunterschleichen und das Haus verlassen. Daß er Nahrung zu sich nahm, muß wohl vorausgesetzt werden, gesehen habe ich es niemals. Vielleicht im Gehen aus der Tasche oder stehenden Fußes beim Nachbar Kellermeister, der auch seinen Vater beköstigte. Keinesfalls regelmäßig, und dessen könnt Ihr versichert sein, daß »dieser Mensch für sich« nicht einmal in seinem Leben mit Behagen ein Mahl gehalten oder einen Schoppen geleert haben wird. Er rauchte nicht, er schnupfte nicht wie seinesgleichen von der Ekel überwindenden Zunft; er kannte kein Spiel, keinen Tanz, kein Steckenpferd, keine jugendliche Plauderei; er hatte keinen Freund. Seine Rede war rasch, kurz, ein wenig durch die Fistel; mit möglichster Sparnis der Pronomina, hinter jedem Satze ein Punktum. »Preußisch« nannten wir diesen unliebsamen Duktus, wiewohl Mosjö Per-sé bis dahin ihn schwerlich aus eines Preußen Munde vernommen hatte. Er kam der Gegenrede zuvor und schnitt[86] den Widerspruch barsch ab. Dennoch reizte er nicht, verletzte nicht. Sein Selbstbewußtsein imponierte, weil er nur über Gegenstände sprach, die er bemeistert hatte. Selber der Freifrau von Reckenburg kam es nicht bei, ihn »Er« wie seinen Vater und anders als »Herr« zu nennen, wenngleich er selber mit Titulaturen geizig und merklich beflissen war, durch keinerlei Zuvorkommenheit an die Manieren des Scherbeckens zu erinnern.

Ich habe den erwachsenen Per-sé geschildert. Aber so, wie ich ihn geschildert, zeigte sich schon der kleine Bube, als er mit Vater Faber »auf Praxis« ging, dessen Instrumententasche trug oder beim Schröpfen und Aderlassen ihm das Becken hielt. Nebenbei aber operierte er damals schon selbständig. Er konnte keine Warze sehen, er drehte sie ab, keine Balggeschwulst, er drückte sie ein. Die Krähenaugen verschwanden schmerzlos unter seinen Messerchen. Hatte einer eine Blutung, auf den ersten Blick erkannte er die Stelle, wo die Ader lädiert war, und die kleinen Finger preßten sich so eisern auf die Wunde, bis dieselbe sich wieder schloß. Er zog seinen Schulkameraden die kranken Zähne aus und erkaufte mit seinen Sparpfennigen manchen, der noch heil war, zu gleicher bildenden Operation. Bald hatte er den Vater in allen höheren Zweigen seiner Kunst überholt. Ein jeder wollte lind und behende von Faber junior bedient sein, und Faber senior überließ ihm denn auch willig Lanzette und Zange, sich selber mit dem Schermesser und der Aufsicht über seine Wiesen und Äcker begnügend.

In der freien Zeit, welche dem unermüdlichen Knaben neben Büchern und Praxis noch hinreichend blieb, saß er im Laboratorium des Apothekers, machte Studien im[87] Schlachthause oder in dem des Abdeckers, der nebenbei, wie viele seines Zeichens, für einen Geheimkünstler galt. Bei keiner Leichenschau, keiner Obduktion fehlte Siegmund Faber. Als er aber endlich auch dem Namen nach der Schulbank entlassen war, da blieb er häufig tage-, ja wochenlang aus dem Hause verschwunden, und hätte Vater Faber nach den Wegen eines Menschen, der seinen eigenen geht, geforscht, in den klinischen Instituten und anatomischen Kabinetten unserer beiden Nachbaruniversitäten, ja selber in denen des ferneren Jena würde er ihn aufgefunden haben. Professoren und Sektoren, von dem seltsamen Eifer des jungen Autodidakten angezogen, nahmen ihn willig in ihr Gefolge auf und gaben mancherlei Anleitung, die zu weiteren Forschungen führte. Im Gymnasiastenalter war Siegmund Faber bereits eine bekannte Persönlichkeit und hatte eine Art von Ruf meilenweit in der Runde.

Es wurde daher kein Bedenken getragen, ihn als Gehilfen unseres Regimentsfeldschers eintreten zu lassen. Man fragte jener Zeit im ärztlichen Militärdienst wenig, was einer wußte oder nicht wußte, sondern begnügte sich mit dem, was er konnte, oder auch ebenfalls nicht konnte. Da aber Siegmund Faber ohne Zweifel etwas konnte, so galt es für ausgemacht, daß ihm der Posten des alten Feldschers zugesprochen werden würde, als dieser endlich zu der Überzeugung gelangt war, daß er, wenn er überhaupt jemals etwas gekonnt, zurzeit jedenfalls nichts mehr konnte. Während dieses Interims starb Vater Faber; sein Sohn war volljährig, das heißt einundzwanzig Jahr, ein vermögender, unabhängiger Mann. Und das war der Zeitpunkt, in welchem meine Eltern die Rettung der kleinen Dorl von ihm erwarteten.[88]

Denn in solchen Widersprüchen – oder Ausgleichungen? – gefällt sich die Natur: dieser Mensch, der keinen Sinn zu haben schien, als für die leiblichen Abirrungen der Kreatur, kein Bedürfnis, als deren Herstellung, keine Leidenschaft, als den Ehrgeiz des Meisterwerdens in seiner Kunst, derselbe Mensch fühlte sich, als ob seine Organe der Erholung bedürften, mit einem ebenso frühen ausschließlichen Verlangen einem Wesen zugetrieben, dem heilsten und schönsten, das sich in seinem Gesichtskreise erspähen ließ. Dieses Wesen war seine kleine Nachbarin Dorothee.

Schon als Wiegenkind soll er sie mit Entzücken betrachtet, er, der Ruhelose, oft stundenlang in ihrem Anblick verweilt haben; späterhin wurde sie nicht seine Gespielin, aber das einzige Spielwerk, das er jemals gehegt. Er brachte ihr Näschereien, Blumen, allerlei Putz und Tand; er nannte sie sein Dörtchen, sein Kind, seine Braut, sprach von ihr als von seiner einstigen Frau mit derselben Zuversicht wie von dem großen Doktor, zu dem er es bringen werde. Und seltsam! Keiner lachte über den kleinen ernsthaften Mann.

Wieder später sahen wir ihn sich zu einem Schutzherrn über die reifende Jungfrau erheben. Er hütete sie mit einer Art von Eigentumsrecht: wie ein Blitz rachsüchtigen Grimms zuckte es in seinen forschenden Augen bei jedem Beifallszeichen eines Fremden, die Fäuste ballten sich bei einer unziemlichen Neckerei über die hübsche Kellnerin; gewiß, er hätte den Beleidiger morden können, der ihm seine Blume entweihte. Daß dieser Mensch eine Seele habe neben dem stolzen, spekulativen Geist, eine zärtliche, bedürftige Seele, das offenbarte sich ausschließlich in seinem Verhalten gegen das Kind, von welchem er, wie[89] von seiner Kunst, aus eigener Machtvollkommenheit Besitz ergriffen hatte.

Mit Genugtuung sah demnach Mosjö Per-sé sein »kleines Anwesen« (zwischen den Gänsefüßchen allemal Papa Reckenburgscher Humor!) unserem Familienkreise eingereiht. Hier war sie geborgen, hier schulte sie sich für eine gesellschaftliche Stellung, die er a priori für sich selbst in Anspruch nahm. Er, der so selten lächelte, strahlte vor Entzücken, wenn er an den geschilderten Tanzabenden den zierlichen Schmetterling auf und nieder schweben sah, oder das silberne Stimmchen fix und fertig in einer Mundart plappern hörte, die er selber nicht verstand.

Das Verlangen nach seinem Augentrost führte ihn daher auch öfter, als es wohl sonst geschehen sein würde, in das Reckenburgsche Familienzimmer, und wurde er auf diese Weise Dörtchens Kameradin eine Art von Kamerad.

»Sie begreifen das, Fräulein Hardine,« pflegte er zu sagen, wenn er mich – und mich allein – zur Vertrauten neuer Wahrnehmungen und Folgerungen in seiner jugendlichen Praxis oder des Zweckes und Zieles seiner Ausflüge machte. Die Gedanken der Jungfer Grundtext wurden durch diese Aphorismen in Bahnen gelenkt, welche der ehrliche Christlieb Taube nicht zu eröffnen verstand. Und so war es der Sohn und Gehilfe eines Barbiers, der mir in meinem gefährlichen Alter die Langeweile der Intelligenz verscheuchte, dem jugendlichen Verlangen Salz und Würze bot. Nicht ihm zu gefallen, aber ihn zu verstehen, strengte ich mich an. Mosjö Per-sé war der Mensch, der mich im fünfzehnten Jahre mehr als ein späterer im Leben, wie man es nennt, interessiert hat.[90]

Die leiseste Andeutung seines Berufs stockte hingegen, sobald sein Dörtchen in unsere Nähe trat, und zwar nicht darum, weil er sie vielleicht einmal bei der bloßen Erwähnung von Blut und Wunden hatte erbleichen oder sich die Ohren verstopfen sehen, sondern einfach, weil er seinen Beruf in ihrer Nähe vergaß, weil sein Pulsschlag einen anderen Takt annahm, und die Strebenslast von ihm wich unter dem Behagen einer Herzensweide.

Und Dorothee? werdet Ihr fragen. Ahnte das leichtblütige Kind das Bedeuten einer solchen Natur, würdigte sie den besonderen Platz, den sie in derselben eingenommen hatte? Rief sie mit dem erfahrenen Freunde: »Gott gebs!« oder mit der unerfahrenen Freundin: »Gott verhüts!«

Nun seht und hört sie selbst in der Stunde, welche über ihr Leben entschied.

Es mochte einen oder den anderen Tag nach jenem elterlichen Gespräche sein, das mich noch immer beschäftigte. Es war Anfang Juli und unser junger Wirt wohl schon eine Woche lang abwesend auf einer seiner wissenschaftlichen Exkursionen. Er hatte sich seit kurzem beritten gemacht und der sachverständige Rittmeister gesagt: »Ein Teufelskerl, dieser Mosjö Per-sé! Hat niemals ein Pferd, außer etwa auf dem Schindanger, unter dem Leibe gehabt, aber er reitet wie ein Daus!«

Die Eltern dinierten bei einem benachbarten Gutsbesitzer; ich war allein zu Haus und am Nachmittag im Garten beschäftigt, ein Bohnengericht für den morgenden Tisch zu pflücken. Eben hatte ich in der Weinlaube auf der Terrasse das saure Werk der Schnitzelei begonnen, als Dörtchen, lachend über das ganze Gesicht, durch die Heckenlücke herbeiflackerte.[91]

»Nein, Fräulein Hardine,« rief sie schon von weitem, »nein, gibt es einen kurioseren Kunden als diesen Mosjö Per-sé!«

»Ist Herr Faber zurück?« fragte ich.

Die Dorl nickte. »Eben hat er sein Pferd bei uns eingestellt. Ich stehe mit dem Vater unter der Tür. Gibt er mir wohl die Hand wie sonst? Behüte. Er macht mir einen Diener, so –« sie bückte sich rasch und tief im Hüftgelenk, als ob ein Taschenmesser zusammenklappt – »und schickt mich dann ohne Umstände fort, weil er mit dem ›Herrn Vater‹ unter vier Augen zu sprechen habe. Dabei nennt er mich nicht etwa ›du‹ und ›Dörtchen‹ wie bisher, sondern ganz feierlich ›Sie‹ und ›Jungfrau Dorothee‹.«

»Ich finde es nur schicklich, Dorothee,« versetzte ich weise, »wenn ein junger Mann derlei Vertraulichkeiten aufgibt einem Mädchen gegenüber, das sich jeden Tag verheiraten kann.«

»Verheiraten!« rief die Dorl seelenvergnügt. »Ei, mit wem denn wohl, Fräulein Hardine?«

»Nun, vielleicht eben mit dem Siegmund Faber.«

Die Kleine blickte enttäuscht. »Mit dem?« schmollte sie, »mit dem? Ach warum nicht gar. Der denkt an Krüppel und Leichen, aber nicht an eine Frau.«

»Meine Eltern wünschen und hoffen das Gegenteil, Dorothee. Sie nennen diese Heirat deine Rettung, dein Glück.«

Sie wurde blaß, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber ich fürchte mich vor ihm!« lispelte sie bebend.

»Hast du die Auslegung des sechsten Gebots in unseren Abendmahlsstunden vergessen?« fragte ich in der lehrhaften Manier, die mir meiner kleinen Dorl, und zum[92] Glück nur dieser gegenüber, zur anderen Natur geworden war. »Ihren Gott im Himmel und ihren Mann auf Erden soll das Weib fürchten, lieben und ihm vertrauen.«

Dorothee sah mich mit ihren großen, himmelblauen Augen an, wie damals am Ostermorgen, als sie mir mit einem Worte den Sinn des Apostelspruchs erklärt hatte. »Ihn fürchten,« sagte sie leise, »nicht, sich vor ihm fürchten. Fürchten Sie sich vor Gott, Fräulein Hardine?«

»Aber warum fürchtest du dich vor dem Faber? Er ist ein außergewöhnlicher Mensch, anders als alle anderen – –«

»Eben darum,« unterbrach sie mich lebhaft. »Ich will keinen Menschen für sich; ich will einen Mann wie alle anderen Leute; einen wie ich selber bin, nur um vieles klüger und besser.«

Das Kind hatte wieder einmal das Rechte getroffen. Damals zwar schüttelte ich den Kopf. Zehn Jahre später war ich zu der nämlichen Weisheit gelangt. Menschen für sich geben nicht Menschen zu zweien. Ehe und Haus vertragen keine Originale.

»Nein, nein, Fräulein Hardine,« wiederholte Dorothee. »Er denkt nicht an mich, und Gott sei gedankt dafür, denn mir graut vor ihm.«

Die Sache war damit abgetan und mein heimlicher Protest gegen den elterlichen Plan erklärt. Dorothee liebte ihn nicht, und Siegmund Faber war zu gut für eine Frau, die ihn nicht lieben konnte.

Ich lud meine kleine Nachbarin ein, den Nachmittag bei mir zuzubringen; wir setzten uns in die Laube, und bald fielen unter den runden Fingerchen die Bohnenschnitzel flink und zierlich in die Schüssel auf ihrem Schoß.[93] Sie plauderte und lachte über meine ungeschickten »Hünenpflocken«; der drohende Bewerber war vergessen.

Eine Stunde mochte so vergangen sein, als ein hastiger Schritt auf der Terrassentreppe uns den ungewohntesten Gartenbesucher verkündete. Im nächsten Moment stand Siegmund Faber uns gegenüber; er trug seinen Sonntagsstaat und verbeugte sich rasch und tief, so wie die Kleine ihm vorhin nachgeäfft hatte. Das lustige Lachen erstarb auf ihren Lippen, sie wurde rot bis unter das Busentuch, blickte in die Schüssel und schnitzelte mit Fieberhast.

Um so gespannter sah ich zu dem jungen Manne hinüber. Die gewaltigste Aufregung war auf der sonst so ruhigen Stirn zu lesen, die rote Farbe von seinem Gesicht gewichen, das Herz hämmerte sichtbar unter dem silbergestickten Gilet und die Hände krampften sich zusammen, um ein Zittern zu verbergen. So mochte er ausschauen, wenn er zu einer Operation auf Leben und Tod den Entschluß gefaßt hatte.

Doch zögerte er nicht, seinen Besuch zu erklären. »Die Unterredung, um welche ich bitte, geschieht im Einverständnis mit Ihrem Vater, Jungfrau Dorothee,« stieß er hervor.

Der Hauswirt war Herr in seinem Revier, und Vater Kellermeister hatte das Recht, ein Tete-a-tete mit meiner Besucherin zu bewilligen; wie flehentlich dieselbe mich daher anblicken mochte, ich erhob mich, um die Laube zu verlassen. Faber aber trat mir in den Weg, faßte nach meiner Hand und sprach: »Sie verpflichten mich, wenn Sie bleiben, Fräulein Hardine«.

So nahm ich denn meinen Platz wieder ein und deutete für Faber auf eine Bank uns gegenüber. Er setzte sich[94] nicht, hob aber nach einem tiefen Atemzuge, zu mir gewendet, unverweilt seine Rede an:

»Sie kennen das Ziel, das ich mir gesetzt habe, Fräulein Hardine. Die Jahre herkömmlichen Studiums sind versäumt. Ich muß es auf praktischem Wege zu erreichen suchen. Und ich werde es erreichen. Aber nicht in meiner kleinbürgerlichen Heimat, auch nicht im Friedensstande unseres sächsischen Vaterlandes. Ich erfreue mich gütiger Empfehlungen. Meine Vorkehrungen sind getroffen. Ich gehe nach Preußen. In wenigen Wochen vielleicht stehe ich auf einem Felde, wo Wunden geschlagen werden und Wunden geheilt werden müssen.«

Ihr wißt, wir schrieben Anno 90, und in Preußen herrschte seit siebenundzwanzig Jahren so gut wie Frieden. Allerdings hatte ich meinen Vater mit seinen Kameraden von einer »Verhedderung« zwischen dem Kaiser und dem König in Sachen des Großtürken diskurieren hören; keiner aber wurde aus diesem Wirrwarr klug, und keiner dachte an Ernst in einem weitab gelegenen Gebiet, wo man für den Preußen nichts Verdauliches zu schlucken sah. Siegmund Faber konnte daher wohl die verwunderte Miene bemerken, mit welcher ich seine Witterung von Blut und Leichen beantwortete.

»König Friedrich Wilhelm,« so fuhr er ohne Aufenthalt fort, »ist zu der Armee nach Schlesien abgegangen. Dort treffe ich auch das Regiment Weimar, an dessen durchlauchtigen Chef ich von Jena aus rekommandiert bin. Wetter, welche sich türmen, wie die in Ost und West, klären sich nicht. Verzöge sichs heuer, um so günstiger für mich. Ich hätte in bedeutender Umgebung ein Jahr der Vorbereitung gewonnen. Übermorgen bin ich auf dem Wege nach Berlin.«[95]

Der Redner machte eine Pause und ich hörte ein fröhliches Aufatmen an meiner Seite. Dorothee hatte das Messer fallen lassen und blinzelte schelmisch zu mir in die Höh. Es war ja alles ganz anders gekommen, als ich prophezeit. Mosjö Per-sé ging in den Krieg, um ein tüchtiger Doktor zu werden; er dachte nicht an sein Dörtchen und an einen häuslichen Herd.

Aber Mosjö Per-sé hatte nur wieder einmal schwer Atem geschöpft; er war noch lange nicht zu Ende. Eine Blutwoge drang ihm zu Kopf, um ebenso jach wieder zu sinken; er setzte sich, denn seine Knie zitterten. Was mochte diese gefaßte Natur so bänglich bewegen?

Er wendete sich jetzt zu meiner Nachbarin, und seine Stimme vibrierte so seelenvoll, daß ich sie kaum für die seinige halten konnte. »Ich weiß nicht, Jungfrau Dorothee, ob auch Sie das Streben gekannt haben, das mich, neben jenem ersten, seit Jahren erfüllt hat. Sie lächelten wie über ein Scherzwort, wenn ich Sie die Meine nannte. Aber es war keine Knabenlaune, Dorothee. Es ist mir heute nicht heiligerer Ernst, als in jener früheren Stunde, seit ich mich auf mein Selbst zu besinnen weiß. Sie sind noch sehr jung, Dorothee, und ich hätte das bindende Wort verzögern mögen. Aber mich drängt die Zeit, deren Sie bedürfen. Ich habe das Ja Ihres Vaters; wollen Sie das Ihre gewähren, wollen Sie die Meine werden, Dorothee?«

Bei allem Vertrauen zu dem Manne war mir nach der kriegerischen Vorrede diese plötzliche Werbung doch ein bißchen zu bunt. Heiraten, ein halbes Kind heiraten, wenn einer im Begriff steht, ein Schlachtfeld oder als dessen Vorstudium ein chirurgisches Institut zu betreten! Ich fing an der gesunden Vernunft eines Menschen für sich zu[96] verzweifeln an und rüstete mich, als quasi Patronin meiner kleinen Dorl, die sich zitternd wie Maienlaub an mich klammerte, zu einer herzhaften Abfertigung.

Der wunderliche Heiratskandidat schnitt indessen, noch ehe ich zu Worte kam, meinen Protest mit einem hastigen Nachtrage ab. »Es liegt auf der Hand,« fuhr er fort, »daß ich die Erfüllung meiner Wünsche nicht heute oder morgen erwarten darf. Es können, ja es müssen Jahre vergehen, Jahre harten Ringens, vielleicht ein Jahrzehnt. Haben Sie das Herz, Dorothee, diese Jahre zu harren in Treuen und Ehren als meine anverlobte Braut? Sind Sie meiner, sind Sie Ihrer selber gewiß zu solchem Verspruch? Niemals sehen Sie mich wieder, sollte ich dem Lauf nach dem Ziele unterliegen. Aber ich werde nicht unterliegen. Und wenn ich, früh oder spät, zurückkehre, vor meinem Gewissen und der Welt als ein fertiger Mann, wollen Sie dann die Meine werden? Ich habe bis heute nach keinem Menschen begehrt als nach Ihnen allein, wollen Sie, daß ich auch fernerhin Ihrer begehren, daß ich auch in Zukunft Sie lieben darf, Dorothee?«

Des Mannes Wallung hatte mich ergriffen. Das Wagnis seines Anerbietens entsprach recht gründlich meinem fünfzehnjährigen Puls. Mit Triumph würde ich – natürlich vorausgesetzt, daß ich Dorothee Müllerin und nicht Hardine von Reckenburg geheißen hätte – mit Triumph würde ich in Siegmund Fabers Hand eingeschlagen und gesagt haben: »Brich dir einen Weg, suche dein Ziel. Ein Mann wie du ist es wert, daß ein Weib seiner harrt, jahrelang, jahrzehntelang, wie Gott es fügt!«

Aber die wirkliche Dorothee, die keine Mutter hatte und keinen Vaterschutz, die von Verführung und Gemeinheit[97] umgeben war, die so ratlos und hilfeflehend zu mir in die Höhe blickte, unfähig, nein zu sagen, und noch unfähiger, ja: aber meine schöne, frohlebige, arme, kleine Dorl?

Noch einmal wollte ich in ihrem Namen das Wort ergreifen, und noch einmal schnitt Siegmund Faber mir es ab. »Ich weiß, daß ich Ungewöhnliches verlange,« fuhr er in viel sicherer Stimmung fort als zuvor, »und ich fühle, was Sie mir entgegenhalten wollen, Fräulein Hardine. Aber trauen Sie mir nicht zu, daß ich die Jungfrau, die ich liebe, in ihrer haltlosen Lage zurücklasse, daß ich meine Braut vom Schenktische zum Altar zu führen gewillt sein kann. Ich gehe den Weg des Mannes, den Weg der Tat. Mir wird es ein leichtes sein, der Geliebten das Gefühl dieser Stunde treu bis zum Ziele zu bewahren. Sie aber, Dorothee, soll ich das Opfer ihres Jugendrechtes annehmen, so muß sie dem Mann ihrer Zukunft das Recht eines Versorgers auch in der Gegenwart zugestehen. Gern sähe ich sie als Schützling der gebildeten Familie einer größeren Stadt eingereiht. Aber ihr Vater lebt, und die Kindespflicht besteht, solange das Weib nicht dem Manne folgt. Überdies würde sie in jedem fremden Kreise sich unvermeidlich als Abhängige fühlen, und ich will, daß sie frei und ledig sei, schalte und walte nach Frauenart. Möge sie denn ihren Vater pflegen, ihm beistehen, soweit er persönlich ihrer bedarf, ohne in das Getriebe seiner Wirtschaft einzugreifen. Ich habe seinen Handschlag, daß er keine derartige Forderung an meine Braut stellen wird. Alle Vorkehrungen sind getroffen. Sagen Sie ja, Dorothee, so treten Sie morgenden Tages durch gerichtliche Schenkung in den Besitz sämtlicher Liegenschaften, die mein Vater mir hinterlassen hat. Sie[98] bleiben bis zur Volljährigkeit deren Nutznießerin ohne jegliche Bevormundung, und da sie kürzlich in Pacht gegeben worden sind, ohne irgendwelche Belästigung. Kehre ich bis dahin nicht zurück, erlangen Sie freies Verfügungsrecht. Es ist kein Opfer, das ich Ihnen bringe, es ist eine Last, von der Sie mich befreien, mein liebes Kind. Mir bleibt für den Beginn mehr als ich bedarf, und bald werde ich sicher auf eigenen Füßen stehen. Sie übersiedeln in mein Vaterhaus, statten es aus nach ihrer zierlichen Art. Geschäftig als Herrin im eigenen Revier, in dem Zimmer, wo meine Wiege gestanden hat, wo ich so lange in Hoffnung glücklich war, sehe ich Sie zum voraus als die Meine, sehe ich Sie mit Vertrauen auch fernerhin unter den Augen der hochverehrten Familie, in der Sie aufgewachsen sind, unter Ihren Augen, Fräulein Hardine, die Sie der Verlobten Siegmund Fabers Rat und Anteil nicht versagen werden.«

Ich hatte während der letzten Erklärung nicht aufgeschaut, weil ich mich des feuchten Nebels über meinen Augen schämte. Nun, wo der Sprecher mit einem Aufruf an meine Freundschaft schloß, blickte ich in ehrlicher Zustimmung zu ihm hinüber, dann aber angstvoll gespannt auf die Kleine, die sich so plötzlich über die unerwartetste Lebenswendung entscheiden sollte. Was würde sie vorbringen, wie sich herauswinden, sie, die vor kaum einer Stunde erklärt hatte: »Mir graut vor dem Mann!« die aufatmete wie erlöst, als er von seinem Abschied, vielleicht auf Nimmerwiedersehen, sprach?

Und nun? O meiner kleinen, beweglichen Dorl! O des wunderhaften Wechsels in einem Mädchenherzen! Wie der See, der grau und trübe unter einem Nebelhimmel[99] gestanden hat, wenn plötzlich ein Sonnenstrahl den Dunstkreis durchbricht, so klar und himmelblau strahlte das Augenpaar; freudenrot waren die Bäckchen überhaucht. Ein Kind unter dem Lichterbaum! Braut heißen und dabei frei sein; reich sein, schalten und walten im eigenen Haus, sich schmücken und tändeln dürfen – all diese Herzenslust – und nicht ein Fünkchen mehr las ich mit einem Blick in diesen lächelnden Zügen. In meinem Herzen brannte es wie eine Scham.

Ob Siegmund Faber diesen jachen Zauber aus tieferen Gründen gedeutet hat? Ich glaube es nicht. Er kannte sie ja als ein Kind, liebte sie als ein Kind. Er traute ja eben der frohen Unschuld einer Kinderseele, dem Bande, das die Dankbarkeit webt, der Treue der Pflicht in einem unentweihten Gemüt. Und er fühlte sich der Mann, das Herz des Weibes zu erobern, sobald er es als Eigentum in Anspruch nehmen durfte.

Wie dem auch sei: Siegmund Faber blickte jetzt nicht mehr beklommen, sondern froh und getrost wie seine kleine Dorl. Er streckte die Hand zu ihr hinüber und fragte lächelnd: »Nun, liebe Dorothee?«

Sie legte ihre Rechte in die seine und neigte das Köpfchen zu einem glückseligen Ja.

»Sagen Sie Amen, Fräulein Hardine, als Zeugin und Bürgin unseres Verspruches,« rief der junge Bräutigam, sich zu mir wendend.

Ich sagte nicht Amen, aber ich drückte Siegmund Faber die Hand und umarmte – schweren Herzens, Gott weiß! – seine strahlende Braut.

Auch Siegmund Faber – daß es an keiner Verlobungsförmlichkeit fehle – hauchte einen Kuß auf Dorothees[100] Stirn, so zagend jedoch, als ob er sich fürchte, einen gefährlichen Sinn in dem Kinde – oder in sich selber? – zu erwecken. Dann aber, wieder ernst und feierlich wie beim Beginn der seltsamen Szene, streifte er zwei einfache Goldreifen von seiner Hand, steckte den einen an seinen eigenen Ringfinger, den anderen an den seiner Braut und sprach:

»Die Trauringe meiner Eltern! Wenn ich eines Tages, diesen Reif am Finger, Ihnen gegenübertreten werde, Dorothee, dann wissen Sie, ohne Wort, daß ich in Treuen und Ehren mein Ziel erreichte. Und wenn ich den anderen dann an Ihrer Hand gewahre, dann weiß ich, ohne Wort, daß ich in Treuen und Ehren mein Weib zum Altare führen darf.«

Der Wagen der Eltern fuhr in diesem Augenblick vor. Langsam schritt ich meinem Hause, rasch und fröhlich, Arm in Arm, schritten die beiden anderen dem des Brautvaters zu.

Ein kaum bärtiger Jüngling, ein Feldschergehilfe, der abenteuerlich ins Blaue zieht und sein Erbteil verschenkt, um sich damit das Herz eines unflüggen Mädchens zu erkaufen; eine Verlobung wie aus der Pistole geschossen; ein zweites halbflügges Mädchen als Zeugin und Bürgin des wunderlichen Bundes aufgerufen: – meine Freunde, wie ich dieses Bild aus der Erinnerung fast eines halben Jahrhunderts hervorgekramt habe, da mag es wohl recht töricht, vielleicht läppisch vor Euren Augen stehen. Ich sage Euch aber: hättet Ihr den Siegmund Faber gekannt, Ihr würdet meine ernsthafte Bewegung nicht belächelt haben. Und nicht die unerfahrene Tochter allein, auch die erfahrenen Eltern sahen kein Kinderspiel in Siegmund Fabers rascher Tat.[101]

»Ein Sonntagskind, unsere kleine Dorl!« rief froh gerührt der Papa. »Ein Sonntagskind, dem das Glück wie im Traume in das Schürzchen fällt. Und ein Tausendsassa, dieser Mosjö Per-sé, so sein Vögelchen an einer goldenen Kette festzulegen!«

Die bedachtsame Mama aber, die wohl schwerlich ohne einen Anflug mütterlichen Neids die kleine Schenkendirne wohlhäbig und früher Braut werden sah als ihre Hardine, sie erklärte nicht minder: »Kein Advokat hätte es schlauer auszutüfteln gewußt als dieser junge Pfiffikus. Wohl oder übel: das Fideikommiß bis zur Volljährigkeit, das heißt, bis über die gefahrvolle Jugend hinaus, bannt den Flatterling, und am Traualtare erhält der großmütige Verschenker sein Eigentum zurück.«

Der gerichtliche Akt ward genau nach der Angabe am anderen Tage vollzogen, und mit dem Morgengrauen des übernächsten war der wunderliche Bräutigam hoch zu Rosse auf und davon. Der letzte Heimatsgruß ward nach Fräulein Hardines Dachfenster hinaufgewinkt und von dort aus erwidert.

»Hattest du Herrn Faber schon gestern abend Lebewohl gesagt?« fragte ich Dorothee, als sie bald darauf in meine Kammer trat.

»Ach nein, Fräulein Hardine,« stammelte sie verlegen, »ich wollte es heute früh, aber – ich habe es verschlafen.«

So war denn selber eine Anstandszähre beim Abschied unserem glücklichen Bräutchen erspart worden.

Wie flink ging es nun aber noch selbigen Tages an ein Scharwerken und Räumen! Das Unterste wurde zu oberst gekehrt in dem Zimmer, vor dessen Fenster noch im Winter Meister Fabers Scherbecken gefunkelt hatten; getüncht,[102] gescheuert, das alte Mobiliar blank auflackiert und frisch bezogen. Bald stand, schneeweiß verhüllt, ein zierliches Himmelbett auf der Stelle, wo Siegmund Faber sich auf hartem Strohsack eine kurze Nachtruhe gegönnt hatte. In der Ecke, die seine ungehobelten Bücherbretter gefüllt, prangte ein Schränkchen mit Puppen und Tändelwerk aus der Kinderzeit der kleinen Dorl; luftige Gardinen, Blumen, immer frisch gepflückt, schmückten den Fensterplatz; im grünberankten Käfig schnäbelte sich ein Zeisigpaar. Keine Bürgerstochter hatte ein zierlicheres Stübchen aufzuweisen, und wie kahl und wie dürftig erschien nebenan Fräulein Hardines nüchterne Mädchenkammer!

Die kleine Wirtin aber, im kurzen Röckchen und flittergestickten Hackenschuhen, flatterte fröhlich treppauf, treppab. In der einen Tasche bauschte sich die Tüte mit dem Kandis und Zuckerbrot, welche die Näscherin niemals ausgehen ließ; in der anderen klapperte das Beutelchen, aus welchem jedem Bettelkinde ein Pfennig oder Kreuzer zugeworfen ward. So gings hinüber in die Kellerei, wo zu Nutz und Frommen der Wirtschaft eine handfeste Magd vorgesetzt worden war; dann durch die Heckenlücke in den Garten; hinauf in die Brautlaube; ein Husch in die Nachbarschaft; ein Guck in Fräulein Hardines Kammer; ein Knicks und Handkuß in Reckenburgs Familienzimmer, lächelnd und tänzelnd und trällernd vom Morgen zur Nacht: die echte, rechte, unermüdliche, kleine Dorl.[103]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 1, Leipzig 1918, S. 81-104.
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