Die Seufzerbrücke

[115] Nach Thomas Hood


»Ertrunken, ertrunken!«

Hamlet


Wieder, zu atmen müd,

Müd ihrer Not,

Eine, die flüchtend schied

Jach in den Tod![115]

Hebt sie vom Uferkies,

Aufhebt sie leis!

O, welch ein zart und süß

Abgeknickt Reis!


Sehet, wie straff ihr Zeug!

Sehet, wie wachstuchgleich!

Kalt rinnt das Wasser ihr

Ab vom Gewande;

Hebt sie mir, tragt sie mir

Liebend vom Strande!


Nimmer mit Hohn und Groll –

Trauernd, erbarmungsvoll

Anrührt ihr Leibliches!

Nicht ihrer Flecken denkt: –

Was ihr von ihr versenkt,

Ist nun rein Weibliches!


Fragt nicht: Aus was für Saat

Aufging die rasche Tat,

Keimt' ihr Empören?

Abwusch die Schmach von ihr,

Nichts ließ der Tod an ihr, –

Nichts als der Schönheit Zier

Und Leichenehren!


Keiner verdamme sie!

Hört sie zur Sippe doch

Evas! – O, wisch ihr die klamme, die

Arme sickernde Lippe doch!


Lüpft ihre Locken!

Streicht sie ihr trocken,

Preßt sie ihr aus!

Ihre Locken, die braunen! –

Die Leut' indes staunen:

Wo stand ihr Haus?


Wer war ihr Vater?

Wer ihre Mutter?

Hatt' eine Schwester sie?

Warnte kein Bruder sie


Treu vor dem Falle?

Lebt' ihr kein Lieb'rer noch,

Lebt' ihr kein Näh'rer noch,

Ach, als sie alle?[116]

Himmel, der Seltenheit

Christlicher Mildigkeit! –

's war zum Entsetzen;

In einer Stadt, wie die,

Herbstatt nicht hatte sie,

Dran sich zu setzen!


Schwesterlich, brüderlich,

Väterlich, mütterlich

Fühlen versehrt!

Was wie auf Fels ihr stand,

Liebe schwand, Treue schwand!

Selbst Gottes Vaterhand

Schien abgekehrt!


Wo der Lampen Helle

Zurückstrahlt die Welle

Wo ihr Schimmer lacht

Aus Saal und Gemache

Vom Keller zum Dache,

Stand sie, die Schwache,

Hauslos bei Nacht!


Wind und Regenguß

Machten sie beben;

Nicht der schwarze Fluß,

Nicht die finstern Streben!

Abgehetzt, wundgehetzt,

Kam sie zu sterben jetzt:

»Fort mich geschnellt –

Üb'rall hin, üb'rall hin,

Nur aus der Welt!«


Hinabsprang sie bald auch,

Wie finster, wie kalt auch

Die Themse rann.

Übers Geländer hier –

Mal' es dir, denk' es dir,

Schwelgender Mann!

Wasche sich, trink' aus ihr

Fürder, wer kann!

Hebt sie vom Uferkies,

Aufhebt sie leis!

O, welch ein zart und süß

Abgeknickt Reis!
[117]

Eh' noch zu steif und hart

Jegliches Glied ihr starrt,

Sittsam und linde

Streckt sie zur letzten Ruh'!

Drückt ihr die Augen zu,

Starrend so blinde;


Starrend durchs Regnen

Der Lockenträuflung,

Wie dem Dort zu begegnen

Mit dem letzten verwegnen

Blick der Verzweiflung.


Also verachtet,

Wahnsinnumnachtet,

Hat die Entehrte,

Reueverzehrte

Sterben gemußt! –

Als ob sie flehte

Still im Gebete,

Kreuzt ihr die Hände

Über der Brust!


Kreuzt sie – nicht hehlend

Das Irren der Armen,

Und sanft es befehlend

Ihres Heilands Erbarmen!


London, Sommer 1847.


Quelle:
Ferdinand Freiligrath: Werke in sechs Teilen. Band 2, Berlin u.a. [1909], S. 115-118.
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