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[609] Die Güter des Freiherrn lagen in einer Ecke des Rosminer Kreises. Nördlich hinter dem Walde das deutsche Bauerndorf Neudorf, und weiter ab im Osten Kunau. Durch einen breiten Strich Sand und Heideland waren diese Orte von polnischen Gütern getrennt, unter denen die des Herrn von Tarowski die nächsten waren. Im Westen und Süden des Gutes grenzten Kreise mit gemischter Bevölkerung, die Deutschen waren dort stark, reiche Grundherren und große Bauerndörfer saßen unter den Slawen. Im Norden hinter Neudorf und Kunau war ein polnischer Strich, viele kleine Rittergüter, zum Teil tief verschuldet, mit heruntergekommenen Familien.

»Von dort droht uns die größte Gefahr«, sagte der Freiherr am Morgen nach dem Markttage zu Anton. »Die Bauerndörfer sind unsre natürlichen Feldwachen. Wenn Sie die Dorfleute dazu bringen, einen regelmäßigen Wachtdienst einzurichten, so müßten ihre Wachen die Kreisgrenze im Norden besetzen, wir würden dann versuchen, eine regelmäßige Kommunikation mit ihnen zu unterhalten. Vergessen Sie die Fanale und Alarmhäuser nicht. Da Sie mit den Bauern schon so kameradschaftlich verkehrt haben, so werden Sie das am besten besorgen. Mir lassen Sie anspannen. Ich will in den nächsten Kreis fahren und versuchen, uns mit den Gutsbesitzern dort in ebensolche Verbindung zu setzen. Den jungen Sturm nehme ich mit.«

So ritt Anton nach Neudorf. Dorthin waren in der Nacht neue Unglücksbotschaften gekommen. Einige deutsche Dörfer waren von bewaffneten Banden besetzt, die Häuser nach Waffen durchsucht, junge Leute mitgeschleppt worden. Niemand arbeitete auf dem Felde, die Männer saßen in der Schenke oder standen vor dem Hause des Schulzen, ratlos, jede Stunde einen Überfall erwartend. Antons Pferd wurde sogleich von einem dichten Haufen umdrängt; als der Schulze die Männer in die Gemeindestube rufen ließ, war nach wenig Augenblicken die Gemeinde vollzählig[609] versammelt. Anton setzte ihr auseinander, was geschehen könne, ihr Dorf vor dem Schrecken eines plötzlichen Überfalls zu schützen; Einrichtung einer Bauernwehr, regelmäßige Wachen an den Dorfwegen längs der Grenze, Lärmstangen, Patrouillen, ein Alarmhaus im Dorfe und Vorsichtsmaßregeln ähnlicher Natur, wie der Freiherr sie ihm angegeben hatte. »Ihr werdet dadurch«, fuhr er fort, »unsre, der Nachbarn, Hilfe in kurzer Zeit herbeirufen, ihr werdet imstande sein, euch gegen einen schwächern Feind gemeinschaftlich zu verteidigen, gegen einen stärkern schnell die Hilfe des Militärs herbeizurufen. Ihr werdet eure Weiber und Kinder, was euch von eurem Hausrat am liebsten ist, vielleicht auch euer Vieh vor Plünderung und Mißhandlung retten. Es wird keine kleine Beschwerde für euch sein, die Wachen bei Tag und Nacht zu stellen, aber euer Dorf ist groß. Vielleicht wird diese Einrichtung in kurzer Zeit durch die Behörden befohlen, es ist sichrer für uns alle, wenn wir nicht darauf warten. Wir können schon in den nächsten Tagen wehrhaft sein.«

Seine eindringlichen Vorstellungen und das Ansehen des verständigen Schulzen brachten die Gemeinde zu einem einmütigen Beschluß. Mit dem Schulzen und einigen vom Ortsvorstande beritt er die Grenzen und bestimmte die Punkte für Wachen und Alarmzeichen. Unterdes entwarf der Schulmeister das Register der Bauernwehr, verzeichnete die, welche zu Pferde, und die, welche zu Fuß Dienst tun konnten, und ließ sich angeben, was von Waffen im Dorfe war. Manche erklärten sich bereit, ein Gewehr zu kaufen. Die jungen Leute des Dorfes faßten die Sache mit Feuer an, die Hausfrauen packten vorsorglich in Kisten und Bündeln das Wertvollste ihrer Habe zusammen. Von Neudorf fuhr Anton mit den Häuptern der Gemeinde hinüber nach Kunau; auch dort fand er guten Willen, ähnliche Einrichtungen wurden verabredet und zuletzt besprochen, daß die jungen Leute aus den beiden Dörfern jeden Sonntagnachmittag auf das Gut des Freiherrn ziehn sollten, um dort in Gemeinschaft zu exerzieren.

Als Anton nach dem Schloß zurückkehrte, wurden die Verteidigungsmittel des Gutes erwogen. Ein kriegerisches Feuer entbrannte in der deutschen Kolonie. Jeder wurde davon ergriffen,[610] auch die Friedfertigsten, der Schäfer und sein Hund Krambow, welcher durch nächtlichen Vorpostendienst und Patrouillen in einen Zorn gegen fremde Waden geriet, den er sonst an seinem jüngern Gefährten oft beknurrt hatte. Aller Gedanken waren auf gefährliche Werkzeuge gerichtet; was das Gut von Mordwaffen besaß, wurde hervorgesucht. Ach, die Gesinnung war vortrefflich, aber die Schar war klein, es fehlte an diensttuender Mannschaft. Dagegen war der Stab ausgezeichnet. Da war zuerst der Freiherr selbst, zwar Invalide, aber für alle Theorie schätzbar, dann Karl und der Förster, als Führer der Reiter und des Fußvolks, und Anton, nicht zu verachten in der Intendantur und im Festungsbau.

Der Freiherr verließ jetzt täglich sein Zimmer, um in der Mittagsstunde Kriegsrat zu halten, er besprach die Einübung der Bauernwehr, er hörte Berichte über die Bewegungen der Umgegend an und sandte Boten nach den deutschen Kreisen. Ein Schimmer von militärischem Stolz glänzte auf seinem Gesicht, er schalt gutmütig die Angst seiner Gemahlin, sprach ermunternde Worte zu den Deutschen, welche ihm nahe kamen, und drohte allen Übelgesinnten im Dorf, sie sofort bis auf weiteres einzustecken und auf Wasser und Brot zu setzen. Dem ganzen Hof war es beweglich anzusehen, als der blinde Herr hoch aufgerichtet mit einer Muskete in der Hand dastand, um dem Förster einige Griffe zu zeigen, und dann das Ohr auf ihn zu hielt, um aus dem Anschlag der Hand zu erkennen, ob der andere ihn recht verstanden. Auch Anton umgürtete sein Herz mit dem Panzer kriegerischen Zornes; er heftete eine Kokarde auf die Mütze, und seine Rede erhielt einen Anflug von militärischer Strenge; er trug seit dem Tage von Rosmin ungeheure Wasserstiefel, und sein Tritt fiel schwer auf die Stufen der Treppe. Er selbst würde über sich gelacht haben, wenn man ihn gefragt hätte, zu welchem Zweck er die Erhebung seines Gemüts an den Beinen ausdrücke. Aber es frug ihn niemand, jeder erkannte, daß so etwas notwendig war. Und vollends Karl! Er zeigte sich nicht anders, als in den Überresten seiner Extra-Uniform, die er sorgfältig aufgehoben hatte, in Mütze, Schnurrock und einem alten Soldatenmantel. Er kräuselte seinen Schnurrbart und pfiff den ganzen Tag seine Soldatenlieder. Da von den zuchtlosen Menschen des eigenen Dorfes am meisten[611] zu fürchten war, so rief er alle, welche gedient hatten, in der Schenke zusammen und hielt ihnen mit Hilfe des Försters, der als Hexenmeister in großem Ansehn stand, eine mächtige Rede im Kalpak und Dolman, den Säbel an der Seite; er behandelte sie als Kameraden, schlug auf den Säbel und rief: Wir vom Militär wollen hier unter den Bauern Ordnung halten. Dann ließ er einige Quart Branntwein aufsetzen und sang mit ihnen leidenschaftliche Kriegslieder. Zuletzt teilte er neue Kokarden aus und nahm sie als Landsknechte der Gutswehr in Pflicht. So befestigte er die rührigsten Leute wenigstens für einige Zeit und erfuhr durch sie, was von Verschwörungsgedanken in der Schenke zutage kam.

Als am Tage darauf die Streitkraft des Guts vor dem Schlosse gemustert wurde, sahen die Männer erstaunt einander an. Sie waren alle durch die letzten Tage umgewandelt. Der Herr Rentmeister sah aus wie ein wilder Mann, der aus einem fremden Sumpflande heranzieht, wo er tagtäglich bis an die Hüften im Wasser sitzt und höchstens mit dem Oberleibe auf Raub ausgeht. Und die vom neuen Vorwerk kamen angezogen wie Geister aus einer untergegangenen Zeit. Der Förster mit seinem kurzgeschorenen Haar und dem langen Bart, in einem ausgewetterten Rock, mit dem finstern Gesicht voll Runzeln und seinen buschigen Augenbrauen, glich einem alten Söldling aus Wallensteins Heer, der zweihundert Jahr im tiefen Walde geschlafen hat und jetzt wieder in die Welt schreitet, weil Unheil und Greuel mächtig werden. Und wenn verzweifelte Gedanken und trotziger Haß gegen den Feind zu einem Wallensteiner machen konnten, so war er auch, was er schien. Wie ein frommer Hussit marschierte der Schäfer neben ihm. Die breite Krempe des runden Hutes hing ihm bis auf den Rücken herunter, ein breiter Ledergurt umschlang seinen Leib, in der Hand hielt er einen Hakenstock, an den er eine glänzende Eisenspitze geheftet hatte. Sein phlegmatisches Gesicht und der sinnende Ausdruck seiner Augen machten ihn dem Waldmann so unähnlich als möglich.

Alles in allem war die bewaffnete Mannschaft des Gutes nicht stärker als zwanzig Mann. Bei dieser kleinen Zahl brauchbarer Leute war es schwer, einen Wachtdienst im Schloß und dem Dorfe einzurichten. Jedem einzelnen mußten die größten Anstrengungen[612] zugemutet werden, indes niemand klagte darüber, alle, auch die Gedienten aus dem Dorfe, waren zu jeder Art von kriegerischem Werk bereit. Nachdem die Männer zusammengebracht waren, dachte man an die Sicherung des Schlosses. Um die Hinterseite des großen Gebäudes vor nächtlichem Einbruch zu schützen, ließ Anton einen Zaun aus starken Bohlen von einem Flügel bis zum andern ziehn. So wurde ein ziemlich großer Hofraum eingeschlossen und darin an die Mauer des Hauses ein offener Schuppen angelehnt, wo Flüchtlinge oder die Pferde der Einquartierung im Notfall auf kurze Zeit ein Obdach finden konnten. Da der Unterstock des Hauses sich hoch über den Boden erhob, die Fenster desselben durch starke Holzverschläge geschützt waren, und da alle Eingänge des Hauses in dem neuen Hofraum lagen, so war der Zugang für Unberufene soviel als möglich erschwert. Der Schloßbrunnen lag außerhalb dem eingezäunten Hofe, mitten zwischen dem Wirtschaftshof und dem Schloß, deshalb wurde ein großer Wasserbottich in das Schloß gestellt und alle Morgen neu gefüllt.

Auch von Rosmin kam Nachricht. Der Schlosser erschien nach einigen Tagen auf wiederholte Bitten, um die Türen in der Turmhalle und im Hofzaun zu beschlagen und mit starken Riegeln zu versehen. Er brachte kriegerische Grüße von dem Bürgerkapitän und die Nachricht, daß ein Kommando Infanterie in die Stadt eingerückt sei. »Es sind der Soldaten nur wenige«, sagte er, »und auch wir Schützen haben schweren Dienst.«

»Und was habt Ihr mit Eurem Gefangenen gemacht?« frug Anton.

Der Schlosser fuhr sich hinter das Ohr und rückte seine Mütze, als er kleinlaut antwortete: »Also, sie wissen noch nichts? Gleich in der ersten Nacht kam eine Botschaft von den Feinden, wenn wir ihnen nicht den Edelmann auf der Stelle wieder herausgäben, würden sie mit voller Macht anrücken und unsre Scheuern abbrennen. Ich sprach dagegen, und unser Kapitän auch, aber wer eine Scheuer hatte, fing an zu lamentieren, und so kam's, daß sich die Stadt mit dem von Tarow verglichen hat. Er mußte sein Wort geben, daß er mit seinen Leuten nichts weiter gegen die Stadt unternehmen wollte; darauf haben wir ihn über die Brücke geführt und losgelassen.«[613]

»Er ist frei, der falsche Mann!« rief Anton entrüstet.

»Freilich«, sagte der Schlosser, »er sitzt wieder auf seinem Gut und hat einen Haufen junger Herren um sich. Sie reiten mit ihren Kokarden über die Felder, gerade wie vorher. Der Tarowski ist ein schlauer Mann, der schließt Ihnen mit einem Federbart jedes Schloß auf, er wird mit allen Leuten fertig. Dem ist nichts anzuhaben.«

Natürlich litt die Wirtschaft unter solchen Rüstungen. Zwar hielt Anton mit Strenge darauf, daß wenigstens das Notwendigste getan wurde, aber auch er fühlte, daß eine Zeit gekommen war, wo die Sorge um das eigne Wohl und Wehe schwindet über der Angst um das Größte, das der Mensch auf Erden besitzt. Die Gerüchte, welche jeden Tag drohender wurden, erhielten ihn und seine Umgebung in einer fortwährenden Aufregung und brachten zuletzt einen Zustand hervor, in dem der Seele die fieberhafte Spannung Gewohnheit ist. Man sah mit einer wilden Gleichgültigkeit in die Zukunft und ertrug das Unbehagen des Tages als etwas Natürliches.

Mehr aber, als die Männer des Guts alle zusammen, wurde Lenore von dem allgemeinen Fieber ergriffen. Seit jenem Tage, wo sie den abwesenden Anton erwartet hatte, begann für sie ein neues Leben. Die Mutter trauerte und wollte verzweifeln über eine solche Zeit, das junge Herz der Tochter schlug kräftig dem Sturme entgegen, und die Aufregung wurde ihr ein wilder Genuß, dem sie sich leidenschaftlich hingab. Sie war den ganzen Tag im Freien, im rauhesten Wetter lief sie in ihren Halbstiefelchen zwischen dem Schloß und Wirtschaftshof auf und ab, als Adjutant des Vaters oder als Parteigänger auf eigene Faust. An der Tür der Schenke wurde sie in dieser Zeit so oft gesehen, wie der ärgste Schlemmer des Dorfes, denn täglich hatte sie von dem Wirt und seiner Frau etwas zu hören. Seit Karl den Husarenrock trug, behandelte sie ihn mit kameradschaftlicher Vertraulichkeit, und wenn er mit dem Förster verhandelte, so beugte auch Lenorens Haupt sich zur vertraulichen Beratung. Manche Stunde saßen die drei im Kriegsrat zusammen, in Karls Stube, oder auf dem Hofe; mit Achtung hörten die Männer auf den mutigen Rat des Fräuleins und verfehlten nicht, ihre Ansicht zu erbitten, ob es ratsam sei, dem Ignaz, Gottlieb oder Blasius aus dem Dorfe ein Gewehr[614] anzuvertrauen. Vergebens bat und schalt die Baronin die kriegslustige Tochter, vergebens suchte auch Anton ihr zu wehren. Denn sosehr Anton selbst im Eifer war, sowenig gefiel ihm dieselbe Stimmung am Fräulein. Wieder erschien sie ihm zu dreist und heftig, und er deutete ihr das an; dann schmollte sie ein wenig und suchte ihr kriegerisches Interesse vor ihm zu verbergen, aber sie änderte sich deshalb nicht. Sie wäre so gern mit ihm nach Neudorf und Kunau gegangen, um auch bei den Nachbarn Krieg zu spielen, aber Anton, sonst über ihre Begleitung so glücklich, protestierte jetzt eifrig dagegen, und das Fräulein mußte auf seine Bitten am Ende des Dorfes umkehren.

An dem Tage, wo die erste Übung der Gutswehr sein sollte, kam Lenore mit einer Mütze und einem leichten Säbel aus dem Schlosse, zog ihren Pony aus dem Stall und sagte zu Anton: »Ich reite mit.«

»Tun sie das nicht, Fräulein.«

»Ich will aber«, entgegnete Lenore trotzig, »es fehlt Ihnen an Leuten, ich kann so gut Dienst tun, wie ein Mann.«

»Aber, liebes Fräulein«, bat Anton weiter, »es ist so auffallend.«

»Es ist mir gleichgültig, ob es jemandem auffällt«, sagte Lenore. »Ich bin stark, ich halte etwas aus, ich will nicht müde werden.«

»Aber vor den Knechten«, stellte Anton vor; »Sie vergeben sich etwas auch vor den Leuten.«

»Das ist meine Sorge«, erwiderte Lenore hartnäckig, »widersprechen Sie nicht, ich will es, und damit gut.«

Anton zuckte die Achseln und mußte sich's gefallen lassen. Lenore ritt neben Karl und machte die kriegerischen Bewegungen mit, soviel der Damensattel das erlaubte, aber Anton sah aus der Reihe des Fußvolks unzufrieden nach der hellen Gestalt hinüber. Sie hatte ihm nie so wenig gefallen. Wenn sie wild mit den andern vorsprengte, ihr Pferd herumriß und mit dem Säbel in die Luft schlug, wenn ihr helles Haar sich im Winde löste und ihr Auge vor Kampflust strahlte, so war sie hinreißend schön. Aber was Anton beim leichten Spiel entzückt hatte, das kam ihm jetzt, wo diese Übungen bitterer Ernst waren, sehr unweiblich vor; er mußte an eine Kunstreiterin denken. Einst hatte gerade diese[615] Ähnlichkeit sein ganzes Herz gefangengenommen, heut erkältete sie ihm die Seele. Und als die Übung vorüber war, und Lenore mit heißen Wangen in seiner Nähe hielt, damit er sie anrede, da schwieg er, und Lenore selbst mußte an ihn heranreiten und ihn lachend fragen: »Sie sehen so mürrisch aus, mein Herr, wissen Sie, daß Ihnen das gar nicht gut steht?«

»Es gefällt mir nicht, daß Sie so wild sind«, erwiderte Anton. Lenore wandte sich schweigend ab, übergab das Pferd einem Knecht und ging ärgerlich nach dem Schloß zurück.

Seit der Zeit verzichtete sie auf die Teilnahme an den Übungen, aber sie fehlte niemals, wenn die bewaffnete Macht sich versammelte; dann sah sie sehnsüchtig von weitem zu. Und wenn Anton nicht zugegen war, suchte sie doch heimlich mit Karl auf die Nachbardörfer zu reiten, aber sie revidierte wohl auch auf ihren Spaziergängen aus eigener Begeisterung die Fanale, sie strich allein durch Feld und Wald, mit einem Taschenterzerol bewaffnet, und war glücklich, wenn sie einen Wanderer anhalten und ausfragen konnte.

Auch darüber machte ihr Anton Vorstellungen. »Die Gegend ist unsicher«, sagte er; »wie leicht, daß Ihnen ein Strauchdieb etwas zuleide tut. Und ist's kein Fremder, so sind's vielleicht gar Leute aus dem Dorfe.«

»Ich fürchte mich nicht«, sagte dann Lenore, »und die Männer aus unserm Dorfe tun mir nichts.« Und in der Tat wußte sie mit diesen besser fertig zu werden, als Anton und irgendein anderer. Sie allein wurde von jedem, auch von den Rohesten, ehrerbietig in polnischer Weise gegrüßt; sooft ihre hohe Gestalt durch die Dorfgasse schritt, neigten sich die Männer herab bis an ihr Knie, und die Weiber liefen an die Fenster und sahen ihr bewundernd nach.

Und sie erlebte die Freude, daß die Leute selbst ihr in Antons Gegenwart das sagten. An einem Sonntagabend saßen Karl, der Förster und der Schäfer als Wachtposten im Wirtschaftshofe, während die Bauern in der Schenke tranken; denn der Sonntag war für die im Schlosse am gefährlichsten. Karl hatte im Amtmannshaus eine Stube für militärische Zwecke eingerichtet, einige Bund Stroh zum Schlafen, einen Tisch, Bänke und Stühle hineingesetzt. Heute trug Lenore mit eigener Hand eine Flasche Rum[616] und Zitronen aus dem Schloß zu den Wächtern hinüber und gab dem Amtmann den Rat, daraus einen Kriegspunsch zu kochen. Der Schäfer und der Waldmensch zogen beglückt über diese Aufmerksamkeit den Mund von einem Ohr zum andern, Karl sprang herbei, setzte dem Fräulein einen Stuhl zurecht, der Förster begann sogleich eine schreckliche Geschichte von einer Räuberbande aus dem Nachbarkreis, und so machte sich's von selbst, daß Lenore sich auf einige Minuten niedersetzte und ihre Ansichten über den Lauf der Welt mit den Getreuen austauschte. Da trat, gerade als der Punsch fertig war und von dem Fräulein selbst in zwei Gläser und einen Topf gegossen wurde, auch Anton herein. Er kam ihr ungelegen, das war wieder nichts für ihn. Indes, er schalt nicht, sondern wandte sich zur Tür und winkte einen Fremden aus dem Hausflur herein. Ein schlanker Bauernbursch in blauem Rock mit hellen Wollschnüren, eine Soldatenmütze in der Hand, die weiten Leinwandhosen in die Stiefel gesteckt, trat stolz in das Zimmer. Da fiel sein Auge auf das Fräulein. Wie der Blitz fuhr er zu ihren Füßen, küßte ihr das Knie, und blieb dann mit gesenktem Haupt, die Mütze in der Hand, die Augen auf den Boden geheftet, vor ihr stehen. Karl trat zu ihm. »Nun, Blasius, was Neues aus der Schenke?«

»Oh, nichts«, erwiderte der Bursche in dem melodischen Tonfall, mit dem der Pole sein gebrochenes Deutsch spricht, »Bauer sitzt und trinkt und ist lustig.«

»Sind Fremde hier, ist jemand von Tarow gekommen?«

»Nichts«, sagte Blasius. »Niemand ist da, als dem Wirt seine Muhme ist gekommen, das Judenmädel, die Rebekka.« Dabei sah er unverrückt Lenore an, als die Herrin, der er seine Meldung zu machen habe. Lenore trat zum Tisch, goß ein Glas voll und reichte es dem Burschen. Glückselig nahm der schmucke Junge das Glas, wandte sich zur Seite, trank ohne abzusetzen aus, setzte das leere wieder auf den Tisch und neigte sich wieder auf Lenorens Knie, alles mit einem Anstand, um den ihn ein Prinz hätte beneiden können. »Sie dürfen keine Furcht haben«, redete er in plötzlicher Begeisterung das Fräulein an, »keiner im Dorfe tut Ihnen was, wer sich gegen Sie wagt, den schlagen wir tot.«

Lenore errötete und sagte, auf Anton sehend: »Du weißt, ich fürchte mich nicht, am wenigsten vor euch«, und der Amtmann[617] verabschiedete den Kundschafter mit dem Auftrag, in einigen Stunden wiederzukommen.

Beim Herausgehen sagte Lenore zu Anton: »Wie gut seine Haltung ist.«

»Er war bei der Garde«, erwiderte Anton, »und ist nicht der Schlechteste im Dorfe, aber ich bitte Sie doch, sich nicht zu sehr auf die Ritterlichkeit des ehrlichen Blasius und seiner Freunde zu verlassen. Ich habe heut wieder den ganzen Nachmittag Sorge um Ihr Ausbleiben gehabt und habe Ihnen gegen Abend Ihr Mädchen auf den Weg nach Rosmin entgegengeschickt. Denn ein erschrockener Handwerksbursche kam auf das Schloß gelaufen und erzählte, er sei auf dem Wege von einer bewaffneten Frau angehalten worden und habe ihr sein Wanderbuch vorzeigen müssen. Nach seiner Erzählung hatte diese Frau einen ungeheuern Hund so groß wie eine Kuh hinter sich; er klagte, sie hätte schrecklich ausgesehen. Der Mann war ganz außer sich.«

»Es war ein Hase«, sagte Lenore verächtlich. »Als er mich mit dem Pony sah, lief er davon wie von bösem Gewissen gejagt. Da rief ich ihm nach und drohte ihm mit meinem Taschenpuffer.«

Unter solchen Vorbereitungen erwarteten die vom Gut täglich den Ausbruch der Empörung auch auf ihrer Waldinsel. Unterdes verbreitete sich die Glut des Aufstandes wie ein Waldbrand über die ganze Provinz. Wo die Polen dicht aneinander saßen, schlug die helle Flamme zum Himmel, an den Rändern flackerte das Feuer bald hier, bald da, wie der Brand im grünen Holze. An mancher Stelle wurde gelöscht, eine Zeitlang blieb alles still, dann loderte die Flamme plötzlich wieder auf.

An einem Sonntagnachmittag war große Übung der verbündeten Dörfer. Mit ihren Fahnen kamen die von Neudorf und Kunau herangezogen, das Fußvolk voran, die Burschen zu Pferde hinterher, vom Schloßhofe ritt die kleine Reihe der Knechte, von Karl geführt, ihnen entgegen, außerdem einige Mann zu Fuß, denen der Förster als Generalissimus der drei Heerscharen voranmarschierte. Auch Anton hatte sich unter das Kommando des Försters gestellt. Als Lenore ihn aus dem Hause treten sah, befahl sie, den Pony zu satteln.

»Ich will zusehen«, sagte sie zu Anton.

»Aber nur zusehen, gnädiges Fräulein«, bat dieser.[618]

»Schulmeistern Sie nicht«, rief ihm Lenore nach.

Am Rande des Waldes war der Exerzierplatz. Der Förster hatte sich aus alten Erinnerungen und nach mehrfachen Beratungen mit dem Freiherrn ein Kommando gebildet, welches ungefähr ausreichte, die Leute zu dem zu bringen, was er wollte, und Karl führte seine Eskadron mit einem Feuer, welches die Mängel in der Führung und in den Leistungen ersetzen mußte. An der Seite war ein Kugelfang aufgeworfen, und Karl hatte mit dem Rest seiner Ölfarbe eine Scheibe gemalt, auf welcher ein Drache mit drei Schwänzen und sechs Beinen zwar rotes Feuer spie, aber wenn man von dieser Familienunart absah, wieder durch die Gutmütigkeit versöhnte, mit der er sein großes Herz den Schützen darbot. Es wurde eine Zeitlang marschiert, geschwenkt, abgebrochen und zuletzt geladen. Lustig knallten die blinden Schüsse in den Wald. Lenore sah den Übungen von weitem zu, endlich konnte sie der Lust nicht widerstehen, die Schwenkungen der Reiter mitzumachen; sie trabte an die Züge heran und sagte leise zu Karl: »Nur ein paar Augenblicke.«

»Wenn's aber Herr Wohlfart sieht?« frug Karl ebenso.

»Er wird's nicht sehen«, erwiderte Lenore lachend. So stellte sie sich mit dem kleinen Pferd in die Reihe. Die Burschen sahen neugierig auf die schlanke Gestalt, welche neben ihnen trabte und als Vedette vorritt, wie sie. Bei der Bewunderung, mit welcher sie nach dem Fräulein schauten, exerzierten sie schlecht, und Karl hatte viel zu tadeln. »Das Fräulein macht's am besten!« rief in der Pause einer der Neudorfer, die Bewunderer schwenkten die Hüte und brachten ihr ein Hoch aus. Lenore verneigte sich und zwang den Pony zu einigen anmutigen Beinbewegungen. Aber die Freude dauerte nicht lange, denn Anton kam über das Feld herüber und trat neben das Fräulein. »Es ist wirklich nicht gut«, sagte er leise, im Ernst erzürnt über ihre kriegerische Tätigkeit, »Sie setzen sich einer dreisten Bemerkung aus, die gewiß nicht böse gemeint ist, die Sie aber doch verletzen würde. Hier ist kein Ort für Ihre Reitkunst.«

»Sie gönnen mir auch keine Freude«, erwiderte Lenore aufgebracht und warf den Pony zur Seite.

So tummelte sie ihr Pferd allein, ließ es in der Nähe eines großen Birnbaums Volten machen und grollte in der Stille mit Anton.[619] »Wie unzart, daß er mir das sagt«, dachte sie, »der Vater hat recht, er ist sehr prosaisch. Damals, als ich ihn zuerst sah, war es auch auf dem Pony, da gefiel ich ihm besser, damals waren wir beide Kinder, aber sein Wesen war rücksichtsvoller.« Der Gedanke schoß ihr durch die Seele, wie glänzend, schön und leicht das Leben früher gewesen war und wie herb die Gegenwart. Und während sie darüber träumte, ließ sie das Pferd eine Achte nach der anderen machen.

»Nicht übel – aber mehr Faust, Fräulein Lenore«, rief eine sonore Männerstimme neben ihr. Erschrocken sah Lenore zur Seite. An dem Baume lehnte die schlanke Gestalt eines fremden Mannes, die Arme übereinandergeschlagen, auf dem edel geformten Gesicht ein spöttisches Lächeln. Der Fremde schritt langsam auf sie zu und griff an seinen Hut. »Es wird dem alten Herrn sauer«, sagte er, auf das Pferd weisend. »Hoffe, Sie kennen mich noch.«

Lenore sah ihm starr ins Gesicht, wie einer Erscheinung, und glitt endlich in ihrer Verwirrung vom Pferde herunter. Ein Bild aus alter Zeit trat ihr leibhaftig entgegen, das kühle Lächeln, die elegante Gestalt, die nachlässige Sicherheit dieses Mannes gehörten auch zu der Vergangenheit, an die sie eben gedacht hatte. »Herr von Fink«, rief sie verlegen, »wie wird sich Wohlfart freuen, Sie zu sehen.«

»Und ich«, erwiderte Fink, »habe ihn schon aus der Ferne betrachtet, und wenn ich nicht aus gewissen untrüglichen Kennzeichen« – hier sah er wieder auf Lenore – »erkannt hätte, daß er es ist, der dort als geharnischter Mann durch den Sand watet, ich hätte es nicht für möglich gehalten.«

»Kommen Sie schnell zu ihm«, rief Lenore, »Ihre Ankunft ist die größte Freude, die ihm werden konnte.«

So schritt Fink neben ihr zu dem Schießplatz, wo jetzt die Männer sich anschickten, auf den Drachen zu zielen. Fink trat hinter Anton und legte die Hand auf seine Schulter. »Guten Tag, Anton«, sagte er.

Anton drehte sich erstaunt um und warf sich an den Hals des Freundes. Heftige Fragen und kurze Antworten flogen durcheinander. »Wo kommst du her, du lieber Wiedergefundener?« rief Anton endlich.[620]

»Ziemlich auf geradem Wege von drüben«, erwiderte Fink, in die Ferne weisend; »ich bin erst seit wenigen Wochen wieder im Lande. Der letzte Brief, den ich von dir erhielt, war aus dem vorigen Herbst. Durch ihn wußte ich ungefähr, wo ich dich zu suchen hatte. Bei der Konfusion, die unter euch herrscht, halte ich es für eine merkwürdiges Glück, daß ich dich gefunden. Da ist auch Meister Karl«, rief er, als Karl mit lautem Freudenruf heransprengte. »Jetzt ist die halbe Firma versammelt, und wir können auf der Stelle anfangen, Comtoir zu spielen. Ihr freilich macht euch hier ein anderes Vergnügen.« Er wandte sich zu Lenoren und fuhr fort: »Ich habe mich dem Freiherrn vorgestellt und von der gnädigen Frau erfahren, daß ich die kriegerische Jugend im Freien finden würde. Jetzt möchte ich noch Ihre Fürsprache für mich erflehen. Ich kenne hier diesen Mann ein wenig und würde gern einige Tage in seiner Nähe zubringen; ich fühle lebhaft, wie unbescheiden es ist, in solcher Zeit selbst von Ihrem gastfreien Hause die Aufnahme eines Fremden zu erbitten. Tun Sie um seinetwillen, der doch im ganzen ein guter Junge ist, ein übriges, und gönnen Sie mir die Freude, hierbleiben zu dürfen, bis ich über die Fasson der unerhörten Jagdstiefel ins reine gekommen bin, die der Knabe über seine Knie gezogen hat.«

Ebenso artig erwiderte Lenore: »Mein Vater wird Ihren Besuch stets für eine große Freude halten, in dieser Zeit hat ein guter Freund doppelten Wert. Ich gehe auf der Stelle, unsern Leuten zu sagen, daß sie alle Stiefel von Herrn Wohlfart in Ihrem Zimmer aufstellen, damit Sie recht lange über ihre Fasson nachdenken müssen.« Sie verneigte sich und schritt, den Pony am Zügel führend, dem Schlosse zu.

Fink sah ihr nach und rief: »Beim Zeus! sie ist eine Schönheit geworden, die Haltung ist tadellos, sie versteht sogar zu gehn. Ich bezweifle durchaus nicht mehr, daß sie Verstand hat.« Er ergriff Antons Arm und lenkte den Freund von dem Schießplatz ab bis unter den wilden Birnbaum. Dort schüttelte er ihm herzhaft die Hand und rief: »Noch einmal sei mir gegrüßt, du Treuer. Laß dir sagen, daß ich vor Erstaunen noch nicht zu mir kommen kann. Wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich dich als rot und schwarz bemalten Indianer, eine Streitaxt in der Hand und Skalplocken an der Hosennaht, wiederfinden würde, ich hätte den Mann für[621] wahnsinnig erklärt. Dich, den Ruhigen, Bedächtigen, geboren, eine Berlocke zu tragen, dich finde ich hier auf wüstem Heideland mit Mordgedanken im Busen, und, bei meiner Seele, ohne Halsbinde. Wenn wir uns verändert haben, du hast's nicht am wenigsten getan. Nun, du kannst dir die Veränderung gefallen lassen.«

»Du weißt, wie ich hierhergekommen bin«, erwiderte Anton.

»Ich denke mir's«, sagte Fink, »ich habe die Tanzstunde nicht vergessen.«

Antons Auge umwölkte sich. »Verzeih«, fuhr Fink lachend fort, »und halte einem alten Freund etwas zugut.«

»Du irrst«, entgegnete Anton ernst, »wenn du glaubst, daß mich ein leidenschaftliches Gefühl hierhergetrieben hat. Durch eine Reihe von Zufällen bin ich mit der Familie des Freiherrn in Verbindung gekommen.« Fink lächelte. »Ich gestehe dir, daß sie an mir vorübergegangen wären, wenn nicht mein Gemüt sehr empfänglich für die Eindrücke von dort gewesen wäre. Doch darf ich mit Recht sagen, daß ich durch Zufall in die Lage gekommen bin, ein großes Vertraun zu erhalten. In einer Zeit, wo der Freiherr in schwieriger Lage war, wurde ich von seinen Angehörigen für den Mann angesehn, der wenigstens den guten Willen hatte, ihnen zu nützen. Sie sprachen gegen mich den Wunsch aus, ich möchte eine Zeitlang für ihr Interesse tätig sein. Als ich ihren Vorschlag annahm, ist es erst nach einem innern Kampfe geschehen, den ich selbst dir zu enthüllen kein Recht habe.«

»Das alles ist recht schön«, entgegnete Fink, »aber wenn der Kaufmann sich ein Feuergewehr und einen Säbel kauft, so muß er doch wissen, weshalb er diese Ausgaben macht. Und deshalb verzeihe mir die runde Frage: Was willst du hier?«

»Hierbleiben, solange ich das Gefühl habe, daß ich hier nötig bin, und mir dann einen Platz in einem Comtoir suchen«, erwiderte Anton.

»Bei unserm alten Prinzipal?« fragte Fink schnell.

»Oder woanders.«

»Teufel!« rief Fink, »das sieht nicht aus, wie ein gerader Weg, und auch nicht wie ein offenes Geständnis; indes muß man von dir in der ersten Stunde nicht zuviel verlangen. Ich will ehrlicher gegen dich sein. Ich habe mich dort drüben frei gemacht. Und ich danke dir für deinen Brief und den Rat, welchen deine Weisheit[622] mir gegeben. Ich habe, wie du vorschlugst, die Zeitungspresse benutzt, um meine Westlandkompagnie in die Luft zu sprengen. Natürlich flog ich mit in die Luft. Für einige tausend Dollar erkaufte ich ein halbes Dutzend Federn und ließ die Blätter von New York und mehrere andere unaufhörlich mit haarsträubenden Berichten über die Nichtswürdigkeit der Gesellschaft anfüllen. Aus jeder Tonart ließ ich gegen mich und meine Leute klagen und fluchen. Die Sache machte Aufsehn. Bruder Jonathan wurde aufmerksam, alle unsre Nebenbuhler und Konkurrenten stießen in mein Horn. Und ich hatte das Vergnügen, mich selbst und meine Gesellschaft als blutdürstige Schwindler und Schinder täglich in einem Dutzend Blätter porträtiert zu sehen. Alles für mein schweres Geld. Es war eine tolle Hetzjagd. Nach vier Wochen war die Westlandkompagnie so herunter, daß kein Hund ein Stück Brot von ihr genommen hätte. Da kamen meine Mitdirektoren von selbst zu mir und boten mir an, mich auszuzahlen und von ihrer Gesellschaft zu befreien. Du kannst denken, wie froh ich war. Übrigens habe ich die Freiheit teuer erkauft und habe, nebenbei bemerkt, dort drüben das Renommee hinterlassen, der leibhaftige Teufel zu sein. Bah! es tut nichts, bin ich doch frei! – Und jetzt habe ich dich aufgesucht aus zwei Gründen: erstens, um dich wiederzusehen und mit dir zu plaudern, und zweitens, um mit dir einiges von meiner Zukunft ernsthaft zu besprechen. Und, gradeheraus gesagt, ich wünsche dich dafür zu werben. Du hast mir gefehlt die ganze Zeit. Ich weiß nicht, was ich in dir finde, denn im Grunde bist du ein trockner Bursch, und widerspenstiger, als mir manchmal recht ist. Aber trotz alledem empfand ich in der Fremde eine gewisse Sehnsucht nach dir. Ich habe mich auch mit meinem Vater auseinandergesetzt, es ist nicht ohne heiße Kämpfe, und darauffolgende Kälte abgegangen. Und jetzt wiederhole ich dir den alten Antrag: komm mit mir. An die See, nach England, über das Wasser, je nachdem. Wir wollen uns zusammensetzen und überlegen, was wir anfangen. Wir sind jetzt beide frei, und die Welt steht uns offen.«

Anton schlug den Arm um den Hals des Freundes. »Mein lieber Fritz«, rief er, »nimm an, daß alles Herzliche gesagt sei, was ich bei deinem edelmütigen Antrag fühle. Aber du siehst, ich habe vorläufig hier Verpflichtungen.«[623]

»Nach dem, was du mir soeben offiziell mitgeteilt hast, schließe ich, daß sie nicht ewig dauern werden«, entgegnete Fink. »Das ist wahr, aber wir stehn doch nicht gleich. Sieh«, sagte Anton, die Hand ausstreckend, »so reizlos diese Landschaft ist, und so unangenehm ein großer Teil der Menschen, welche hier leben, so sehe ich sie doch mit andern Augen an, als du. Du bist viel mehr Weltbürger als ich, du wirst kein großes Interesse haben an dem Leben des Staates, von welchem diese Fläche und dein Freund Teile, wenn auch kleine, sind.«

»Nein«, sagte Fink, verwundert auf Anton blickend, »ein großes Interesse habe ich nicht, und was ich jetzt von der Wirtschaft hier bei euch höre und sehe, das macht mir den Staat, als dessen Bruchteil du soviel Selbstgefühl empfindest, durchaus nicht respektabel.«

»Ich aber denke anders«, unterbrach ihn Anton. »Wer nicht gezwungen wird, soll gerade jetzt nicht das Land verlassen.«

»Was höre ich?« rief Fink verwundert.

»Sieh«, fuhr Anton fort, »in einer wilden Stunde habe ich erkannt, wie sehr mein Herz an dem Lande hängt, dessen Bürger ich bin. Seit der Zeit weiß ich, weshalb ich in dieser Landschaft stehe. Um uns herum ist für den Augenblick alle gesetzliche Ordnung aufgelöst, ich trage Waffen zur Verteidigung meines Lebens, und wie ich hundert andere mitten in einem fremden Stamm. Welches Geschäft auch mich, den einzelnen, hierhergeführt hat, ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche für freie Arbeit und menschliche Kultur einer schwächern Rasse die Herrschaft über diesen Boden abgenommen haben. Wir und die Slawen, es ist ein alter Kampf. Und mit Stolz empfinden wir, auf unserer Seite ist die Bildung, die Arbeitslust, der Kredit. Was die polnischen Gutsbesitzer hier in der Nähe geworden sind – und es sind viel reiche und intelligente Männer darunter – jeder Taler, den sie ausgeben können, ist ihnen direkt oder indirekt durch deutsche Intelligenz erworben. Durch unsere Schafe sind ihre wilden Herden veredelt, wir bauen die Maschinen, wodurch sie ihre Spiritusfässer füllen; auf deutschem Kredit und deutschem Vertraun beruht die Geltung, welche ihre Pfandbriefe und ihre Güter bis jetzt gehabt haben. Selbst die Gewehre, mit denen sie uns jetzt zu töten suchen, sind in unsern Gewehrfabriken gemacht,[624] oder durch unsere Firmen ihnen geliefert. Nicht durch eine ränkevolle Politik, sondern auf friedlichem Wege, durch unsere Arbeit, haben wir die wirkliche Herrschaft über dieses Land gewonnen. Und darum, wer als ein Mann aus dem Volk der Eroberer hier steht, der handelt feig, wenn er jetzt seinen Posten verläßt.«

»Du sprichst so stolz auf fremdem Grund«, erwiderte Fink, »und daheim bei euch bebt der eigne Boden.«

»Wer hat diese Provinz zu Deutschland gebracht?« frug Anton die Hand ausstreckend. »Die Fürsten eures Geschlechts, ich leugne es nicht«, sagte Fink.

»Und wer hat die große Landschaft erobert, in der ich geboren bin?« frug Anton weiter.

»Einer, der ein Mann war.«

»Ein trotziger Landwirt war's«, rief Anton, »er und andere seines Geschlechts. Mit dem Schwert oder durch List, durch Vertrag oder mit Überfall, auf jede Weise haben sie den Boden an sich gezogen, in einer Zeit, wo im übrigen Deutschland fast alles tot und erbärmlich war. Als kühne Männer und gute Wirtschafter, die sie waren, haben sie ihren Boden verwaltet. Sie haben Gräben gezogen durch das Moor, haben Menschen hingepflanzt in leeres Gebiet und haben sich ein Geschlecht gezogen, hart, arbeitsam, begehrlich, wie sie selbst waren. Sie haben einen Staat gebildet aus verkommenen oder zertrümmerten Stämmen, sie haben mit großem Sinn ihr Haus als Mittelpunkt für viele Millionen gesetzt und haben aus dem Brei unzähliger nichtiger Souveränitäten eine lebendige Macht geschaffen.«

»Das war«, sagte Fink, »das taten die Ahnen.«

»Sie haben für sich gearbeitet, als sie uns schufen«, fuhr Anton beistimmend fort, »aber wir haben jetzt Leben gewonnen, und ein neues deutsches Volk ist entstanden. Jetzt fordern wir von ihnen, daß sie unser junges Leben anerkennen. Es wird ihnen schwer werden, gerade ihnen, die gewöhnt sind, ihr zusammengebrachtes Land als eine Domäne ihres Schwertes zu betrachten. Wer mag sagen, wann der Kampf zwischen ihnen und uns beendigt sein wird, lange vielleicht werden wir den häßlichen Erscheinungen fluchen, welche dieser Streit hervorruft. Wie er aber auch enden mag, davon bin ich überzeugt, wie von dem Lichte dieses[625] Tages, der Staat, den sie geschaffen, wird nicht wieder in die Trümmer zerschlagen werden, aus denen er herausgewachsen. Wenn du gelebt hättest, wie ich in den letzten Jahren, in verschiedener Tätigkeit, viel unter den kleinen Leuten, du würdest mir glauben. Noch sind wir als Volk arm, noch ist unsere Kraft schwach, aber wir arbeiten uns herauf, mit jedem Jahr wächst mit unserer Arbeit Intelligenz, Wohlstand und das Gefühl, daß einer zum andern gehört. Und in diesem Augenblick fühlen wir in dem Grenzlande uns zueinander wie Brüder. Wenn die weiter drinnen ärgerlich miteinander streiten, wir sind einig, und unser Kampf ist rein.«

»Wohlan«, sagte Fink Beifall nickend, »das war gesprochen, wie ein Deutscher immer sprechen wird. Je dürrer die Zeit, desto grüner die Hoffnung. Aus allem sehe ich, Master Wohlfart, du hast keine Lust, jetzt mit mir zu gehen.«

»Ich darf nicht«, antwortete Anton bewegt; »du zürne mir deshalb nicht.«

»Höre«, lachte Fink, »wir haben seit unsrer Trennung die Rollen getauscht. Als ich vor Jahren von dir fortging, war ich wie ein Gaul in der Wüste, der eine Quelle riecht, ich hoffte aus dem langweiligen Leben bei euch herauszukommen in fröhliches Grün, und was ich fand, war ein garstiger Sumpf. Und jetzt komme ich ermüdet zu dir und sehe dich keck mit Tod und Teufel Karten spielen. Du bist frischer, als du warst. Das kann ich von mir nicht rühmen. Vielleicht kam's deshalb so, weil du eine Heimat hast, und ich keine. Jetzt aber genug der Weisheit, komm, belehre mich, auf welche Weise du hier deinen Krieg führst. Stelle mich den Squattern vor und zeige mir womöglich einen Quadratfuß Land auf dieser reizenden Besitzung, wo man nicht bis an die Knöchel in den Sand versinkt.«

Anton führte den Freund zu den Landleuten, dann durch den Wald bis zu den ausgestellten Posten der Nachbardörfer, er zeigte ihm die Reihe der Lärmstangen und die Alarmhäuser und erklärte ihm die Maßregeln, welche getroffen waren, das Schloß vor einem plötzlichen Überfall zu schützen. Fink ging mit Feuer in die Einzelheiten ein und sagte endlich: »Die Hauptsache habt ihr doch durchgesetzt, ihr erhaltet Ordnung unter euren Leuten und guten Mut.«[626]

Unterdes rüstete man im Schloß für den fremden Gast. Der Freiherr ließ durch den Bedienten nachsehen, ob ein genügender Vorrat von weißem und rotem Wein im Keller war, und schalt auf den Knecht, der einen Schaden am Reitzeug nicht hatte ausbessern lassen; die Baronin ließ ein Kleid hervorsuchen, das sie seit der Ankunft auf dem Gut nicht mehr angesehen hatte; auch Lenore dachte mit geheimem Bangen an den Übermütigen, der ihr schon in der Tanzstunde so gründlich imponiert hatte, und den sie seit dieser Zeit oft wie ein Traumbild vor sich gesehen hatte. Im Souterrain war die Aufregung nicht geringer, außer flüchtigen Geschäftsbesuchen war dies der erste Gast. Die treue Köchin beschloß, eine künstliche Mehlspeise zu wagen, dazu fehlten ihr aber in diesem unglücklichen Lande die wichtigsten Substanzen; sie dachte daran, einige Hühner aus dem Wirtschaftshof zu schlachten, dagegen aber empörte sich Suska, eine kleine Polin, die Vertraute Lenorens, sie vergoß Tränen über den entschlossenen Charakter der Köchin und drohte das Fräulein zu rufen, bis die Köchin zur Besinnung kam und einen barfüßigen Jungen in der größten Eile nach der Försterei schickte, um dort etwas Außergewöhnliches zu erlangen. Gegen Spinnenweben und Staub wurde ein schneller Streifzug angestellt und ein Zimmer neben Anton eingerichtet. Der kleine Diwan Lenorens, der Samtstuhl und Teppich ihrer Mutter wurden hineingetragen, um die Familie repräsentieren zu helfen.

Fink ahnte wenig von der Unruhe, welche seine Ankunft im Schlosse verursachte, er zog neben Anton über die Felder in einer heitern Stimmung, wie er sie lange nicht empfunden hatte. Er erzählte von seinen Erlebnissen, von den raffinierten Geldgeschäften, und von dem riesigen Wachstum der Neuen Welt. Und Anton hörte mit Freude, daß aus den Scherzen des Freundes eine tiefe Empörung über die Schlechtigkeit, die er erlebt hatte, hervorbrach. »Es ist ein mächtiges Leben dort«, sagte er, »aber ich habe in dem Gewühl erst recht deutlich empfunden, daß ihr hier auch etwas wert seid.« So kamen sie in das Schloß zurück, sie wechselten ihre Toilette, Anton warf einen erstaunten Blick auf die Einrichtung des Gastzimmers, bald wurden sie durch den Bedienten zur Baronin hinübergeladen. Jetzt, wo die Sorge der Einrichtung überstanden war und die Lampen ihren milden Glanz[627] über die Zimmer breiteten, fühlte die Familie sich durch den Besuch des reichen Elegants doch heiter angeregt. Es war wieder wie sonst in ihrem Hause, der leichte Ton der flatternden Unterhaltung, die zarte Rücksicht, welche jedem das Gefühl zu geben weiß, daß er das Behagen des andern erhöhe, es waren die alten Formen, die sie gewöhnt waren, zuweilen auch derselbe Gesprächsstoff. Und Fink löste die Aufgabe, welche dem Gast am ersten Abend eines Familienbesuches wird, mit einer Fertigkeit, die dem Schelm wohl zu Gebote stand, sooft er wollte. Allen gab er das Gefühl, wie angenehm ihre Häuslichkeit sei. Er behandelte den Freiherrn mit der achtungsvollen Vertraulichkeit eines jüngern Standesgenossen, die Baronin mit Ehrerbietung, Lenore mit einfacher Offenheit. Gern richtete er das Wort an diese und schnell hatte er ihre Befangenheit überwunden. Die Familie fühlte, daß er einer der Ihrigen war, es war eine stille Freimaurerei unter ihnen. Und auch Anton frug sich, wie es möglich sei, daß Fink, der neue Gast, ganz als ein alter Freund des Hauses erscheine, und er selbst als ein Fremder. Und wieder kam etwas von dem Respekt in seine Seele, den er als Jüngling vor allem gehabt hatte, das elegant, vornehm und exklusiv erschien. Aber diese Empfindung war nur noch ein leichter Schatten, der über sein klares Urteil hinflog.

Als Fink aufbrach, versicherte der Freiherr mit aufrichtiger Wärme, wie gern er ihn als Gast recht lange bei sich halten möchte, und selbst die Baronin sagte nach seiner Entfernung, die englische Art kleide ihn gut, und er mache den Eindruck eines großen Herrn. Lenore dachte nicht über sein Wesen nach, aber sie war redselig geworden, wie lange nicht. Sie begleitete die Mutter in das Schlafzimmer, setzte sich noch auf eine Fußbank neben das Bett der Ermüdeten und fing lustig an zu plaudern, nicht von dem Gast, aber von vielem, was sie sonst interessierte, bis die Mutter ihre Stirn küßte und ihr sagte: »Jetzt ist es genug, mein Kind; geh zu Bett und träume nicht.«

Fink streckte sich behaglich auf dem Diwan aus. »Diese Lenore ist ein prächtiges Weib«, rief er vergnügt. »Einfach, offen, kurz ab, nichts von der weichlichen Schwärmerei eurer Mädchen. – Setze dich noch eine Stunde neben mich, wie sonst, Anton Wohlfart, freiherrlicher Rentmeister in einer slawischen Sahara. Höre,[628] du bist in einer so abenteuerlichen Lage, daß mir vor Verwunderung noch immer die Haare zu Berge stehn. Du hast mir früher bei meinen Streichen manches liebe Mal als verständiger Schutzgeist beigestanden; jetzt steckst du selbst mitten in der Tollheit, und da ich gegenwärtig den Vorzug genieße, bei gesunden Sinnen zu sein, so verbietet mir mein Gewissen, dich in dieser Konfusion zu verlassen.«

»Fritz, lieber Freund«, rief Anton freudig.

»Schon gut«, sagte Fink. »Ich wünsche also die nächste Zeit in deiner Nähe zu bleiben. Überlege, wie sich das machen läßt. Mit den Frauen wirst du wohl fertig werden, aber der Freiherr?«

»Du hast gehört«, erwiderte Anton, »auch er hält für einen günstigen Zufall, daß gerade jetzt ein Ritter wie du in sein einsames Schloß zieht, es ist nur« – er sah sich bedenklich im Zimmer um, »du wirst vorliebnehmen müssen.«

»Hm, ich verstehe«, sagte Fink, »ihr seid genaue Leute geworden.«

»So ist es«, sagte Anton, »wenn ich den gelben Sand im Walde in Säcke füllen und als Weizen verkaufen könnte, ich müßte viele Säcke verkaufen, um in unsere Kasse einen kleinen sicheren Bestand zu bringen.«

»Da du dich hier als Kassenführer eingedrängt hast, konnte ich mir denken, daß die Kasse leer sein würde«, sagte Fink trocken.

»Ja«, erwiderte Anton, »meine Hauptkasse ist ein alter Toilettenkasten, und ich versichere dich, es würde mehr hineingehen, als darin ist. Ich fühle jetzt manchmal einen unbesiegbaren Neid gegen Herrn Purzel und seine Kreide im Comtoir. Wenn ich nur einmal das Glück hätte, eine Reihe grauleinener Beutel zu erblicken, an Banknoten und an eine Mappe mit Aktien wage ich gar nicht zu denken.«

Fink pfiff einen Marsch. »Du armer Junge«, sagte er. »Es sind aber doch große Güter und eine geordnete Wirtschaft, sie müssen entweder bringen oder kosten, wovon lebt ihr denn?«

»Das«, sagte Anton, »ist ein Geheimnis der Frauen, das ich kaum verraten darf. Unsere Pferde kauen Diamanten.«

Fink zuckte mit den Achseln. »Aber wie ist es möglich, daß die Rothsattel so weit gekommen sind?«

Mit Schonung schilderte Anton den Verfall des Freiherrn.[629]

Dann sprach er mit Begeisterung von den Frauen, von der würdigen Resignation der Baronin, der gesunden Kraft Lenorens.

»Ich sehe«, sagte Fink, »daß es noch schlechter steht, als ich annahm. Wie ist es möglich, daß du eine solche Wirtschaft erträgst? Die Vögel auf den Bäumen sind ja Rentiers gegen euch.«

»Wie die Sachen einmal liegen«, fuhr Anton fort, »gilt es, bis zu ruhiger Zeit sich durchzuschlagen, zunächst bis zur Subhastation des Familiengutes. Die Gläubiger werden jetzt nicht drängen, und die Gerichte sind fast ganz außer Tätigkeit. Der Freiherr kann ohne große Kapitalien diesen Besitz nicht behaupten, er kann ihn jetzt nicht aufgeben, sonst wird das wenige verwüstet, was einen Verkauf in Zukunft möglich macht, und die Familie hat kein Obdach für ihr Haupt. Alle meine Versuche, sie in diesen unruhigen Wochen zur Abreise aus dieser Provinz zu bewegen, waren vergeblich, sie sind wie Verzweifelte entschlossen, hier ihr Schicksal zu erwarten. Der Stolz des Freiherrn sträubt sich gegen eine Rückkehr in den Kreis, in dem er einst gelebt; und die Frauen wollen ihn nicht verlassen.«

»So schicke sie doch wenigstens nach einer größeren Stadt in der Nähe und setze sie nicht dem Anfall jedes betrunkenen Bauernhaufens aus.«

»Ich habe getan, was ich konnte, in dem Punkte bin ich machtlos«, entgegnete Anton finster.

»Dann, mein Sohn, laß dir sagen, daß dein kriegerischer Apparat nicht sehr ermutigend ist. Mit dem Dutzend Leute, das du in diesem Dorf erst zusammenblasen mußt, wirst du schwerlich eine Rotte Spitzbuben abhalten. Du kannst damit nicht den Hofraum verteidigen, ja nicht einmal die Flucht der Frauen decken. Habt ihr keine Aussicht, Militär zu erhalten?«

»Keine«, erwiderte Anton.

»Ein recht gemütlicher, trostreicher Zustand!« rief Fink. »Und bei alledem habt ihr Felder bestellt, und die kleine Wirtschaft schnurrt in ihrer Ordnung ab. Ich habe mir von Karl erzählen lassen, wie das Gut aussah, als er herkam, und was ihr bis jetzt gebessert habt. Ihr habt euch respektabel benommen. Das hätte kein Amerikaner und kein anderer Landsmann durchgesetzt, in so verzweifelter Lage lobe ich mir den Deutschen. Die Frauen sowohl, als eure junge Wirtschaft müssen besser geschützt werden.[630]

Miete dir zwanzig Männer mit tüchtigen Fäusten, sie sollen dieses Haus bewachen.«

»Du vergißt, daß wir zwanzig müßige Brotesser ebensowenig beköstigen können wie der Kauz auf dem Turme.«

»Sie sollen arbeiten«, rief Fink, »ihr habt hier eine Bodenfläche, bei der hundert Hände nützliche Beschäftigung finden. Hast du keinen Sumpf zu entwässern und Gräben zu ziehen? Dort unten breitet sich ja eine Reihe trauriger Wasserlachen.«

»Das ist Arbeit für eine andere Jahreszeit«, erwiderte Anton, »der Grund ist jetzt zu naß.«

»Laß einige hundert Morgen Waldland besäen oder bepflanzen. Hält der Bach im Sommer aus?«

»Ich höre, ja«, erwiderte Anton.

»So laß sie irgend etwas schaffen.«

»Vergiß nicht«, sagte Anton lächelnd, »wie schwer es sein wird, zuverlässige Arbeiter, die noch außerdem kriegerische Anlagen haben, gerade jetzt in unserer berüchtigten Gegend zu werben.«

»Zum Henker mit deinen Bedenklichkeiten!« rief Fink, »schicke den Karl in eine deutsche Gegend auf Werbung, er schafft dir Leute genug.«

»Wir haben kein Geld, du hörst's ja. Der Freiherr ist noch nicht imstande, eine größere Melioration durchzuführen, die sich erst in einiger Zeit bezahlt macht.«

»Dann laß mich's tun«, versetzte Fink.

»Du wirst einsehen, Fink, daß das unmöglich ist; der Freiherr kann von seinem Gast ein solches Opfer nicht annehmen.«

»Ihr zahlt mir's zurück, wenn Ihr Geld habt«, sagte Fink.

»Es ist unsicher, ob wir jemals imstande sein werden, die Rückzahlung zu leisten.« – »Nun denn, so braucht er's nicht gerade zu wissen, was die Leute kosten.«

»Er ist blind«, antwortete Anton mit leisem Vorwurf, »und ich stehe in seinem Dienst und bin verpflichtet, ihm Rechnung abzulegen. Er freilich wird ein Darlehn von dir nach einigen Kavalierbedenken wohl annehmen, denn seine Ansichten über seine Lage wechseln mit der Stimmung. Die Frauen aber machen sich solche Täuschungen nicht. Du würdest sie durch jede Stunde deiner Gegenwart demütigen, wenn sie die Empfindung hätten, daß sie deinem Vermögen eine Erleichterung ihres Lebens danken.«[631]

»Und das größere Opfer, das du ihnen gebracht, haben sie doch angenommen«, sagte Fink ernster.

»Vielleicht halten sie meine bescheidene Tätigkeit für kein Opfer«, erwiderte Anton errötend. »Sie haben sich gewöhnt, mich als Rechnungsführer, als Beamten des Freiherrn in ihrer Nähe zu sehen. Du bist ihr Gast, ihr Selbstgefühl wird sie veranlassen, dir das Bedenkliche ihrer Lage nach Kräften zu verhüllen. – Um dir das Zimmer wohnlich einzurichten, haben sie die eigenen Stuben geplündert, der Diwan, auf dem du liegst, ist aus der Schlafstube des Fräuleins.«

Fink sah sich den Diwan neugierig an und legte sich wieder zurecht. »Da es mir nicht gefällt, auf der Stelle abzureisen«, sagte er, »so wirst du die Güte haben, mir einen Weg anzugeben, auf dem ich mit Anstand hierbleiben kann. Erzähle mir schnell einiges über die Hypotheken und Aussichten des Gutes. Nimm an, ich wäre ein unglücklicher Käufer dieses Paradieses.«

Anton berichtete.

»Das wenigstens ist so verzweifelt nicht«, sagte Fink; »jetzt höre meinen Vorschlag: In der bisherigen Weise darf das hier nicht fortgehen, diese knappe Wirtschaft ist zu ungesund für alle Beteiligten, zumeist für dich. Die Güter mögen furchtbar verwüstet sein, aber es scheint mir wohl möglich, etwas daraus zu machen. Ob ihr die Leute seid, das Gut zu behaupten, will ich nicht entscheiden, wenn du Lust hast, noch einige Jahre deines Lebens dranzusetzen und dich fernerhin für die Interessen anderer zu sakrifizieren, so ist auch das nicht unmöglich, vorausgesetzt, daß ihr in ruhigerer Zeit das nötige Betriebskapital schaffen könnt. Unterdes gebe ich einige, vielleicht fünftausend Taler, und der Freiherr gibt mir dafür Hypothek auf dieses Gut. Diese Anleihe wird euch nicht viel schlechter stellen, und sie wird euch leichter machen, dies verrückte Jahr zu überstehen.«

Anton stand auf und ging unruhig in der Stube umher. »Es geht nicht«, rief er endlich aus, »wir können deinen hochherzigen Antrag nicht annehmen. Sieh, Fritz, im vorigen Jahr, ehe ich diese Menschen hier so genau kannte, als jetzt, habe ich lebhaft gewünscht, daß unser Prinzipal ein Interesse an den Verhältnissen des Barons nehmen möchte, ich wäre damals sehr glücklich gewesen, wenn du mir dasselbe Anerbieten gemacht hättest. Wie ich[632] jetzt den Freiherrn und seine Lage kenne, halte ich es für ein Unrecht gegen dich und gegen die Frauen, deinen Antrag anzunehmen.«

»Soll der Diwan aus Lenorens Schlafstube durch die Tabaksasche eurer Gäste beschmutzt werden? Jetzt tu ich's, später werden es die polnischen Sensenmänner tun.«

»Wir müssen es durchmachen«, erwiderte Anton traurig.

»Trotzkopf«, rief Fink, »du sollst mich doch nicht loswerden. Jetzt mache, daß du herauskommst, halsstarriger Tony.«

Seit dieser Unterredung erwähnte Fink sein Anleiheprojekt nicht weiter, dagegen hatte er den nächsten Tag mehrere vertrauliche Unterredungen mit dem Husaren. Und am Abend sagte er zum Freiherrn: »Darf ich Sie für morgen um Ihr Reitpferd bitten, es ist ein alter Bekannter von mir. Ich möchte über Ihre Felder reiten. Zürnen Sie nicht, gnädige Frau, wenn ich morgen mittag nicht erscheine.«

»Er ist reich, er kommt her, um zu kaufen«, sagte sich der Freiherr im stillen. »Dieser Wohlfart hat seinem Freund gemeldet, daß hier ein Geschäft zu machen ist, die Spekulation fängt an, nur vorsichtig!«

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 609-633.
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