5

[706] Nach einer Stunde weckte der Förster den Schlafenden. Anton fuhr auf und sah verdutzt in die fremdartige Umgebung.

»Es ist fast Sünde, Sie zu stören«, sagte der ehrliche Alte; »draußen ist alles ruhig, nur die Reiterei der Feinde ist auf dem Wege nach Rosmin abgezogen.«

»Abgezogen?« rief Anton, »so sind wir frei.«

»Bis auf das Fußvolk«, sagte der Förster, »es kommen immer noch zwei auf einen von uns. Sie halten uns fest. – Und noch etwas habe ich zu sagen. In der Tonne ist kein Wasser mehr. Die Hälfte haben unsere Leute ausgetrunken, das übrige ist ins Feuer gegossen. Ich für meinen Teil mache mir nichts aus dem Getränk, aber das Schloß ist voll Menschen, ohne einen Trunk werden sie schwerlich den Tag aushalten.«

Anton sprang auf. »Das war ein schlechter Morgengruß, mein Alter.«

»Der Brunnen ist kassiert«, fuhr der Alte fort, »aber wenn wir jetzt eine von den Frauen an den Bach schickten? Die Wachen[706] würden den Weibern nicht viel tun, vielleicht würden sie ihnen nicht wehren, einige Eimer Wasser zu holen.« – »Einige Eimer«, sagte Anton, »die werden uns wenig nützen.«

»Es ist doch etwas fürs Herz«, erwiderte der Alte, »man müßte es einteilen. Wenn die Rebekka hier wäre, die schaffte uns Wasser. So müssen wir es mit einer andern wagen. Die Sakermenter dort sind nicht schlecht gegen Frauenzimmer, wenn nämlich diese Dreistigkeit haben. Wenn es Ihnen recht ist, will ich's mit einem von unsern Bälgern versuchen.«

Der Förster rief in die Küche hinunter: »Suska!« Das Polenkind sprang aus dem Souterrain herauf.

»Höre, Suska«, sagte der Förster bedächtig, »wenn der Herr Baron aufwacht, wird er frisches Wasser verlangen; das Wasser im Schlosse ist zu Ende, zum Trinken haben wir Bier und Schnaps genug, aber welcher Christenmensch kann sich in Bier die Hände waschen? Nimm schnell die Eimer und hole uns Wasser, lauf hinunter zum Bach, du wirst schon mit den Nachbarn dort fertig werden. Schwatze aber nicht lange mit ihnen, sonst kriegen wir ein Donnerwetter vom Herrn. – Und hör, frage die Nachbarn doch, wozu sie noch mit ihren Spießen dastehn, ihre Reiter sind ja schon abgeritten. Wir haben nichts dawider, wenn die dort unten sich auch fortmachen.«

Willig ergriff das Mädchen die Wassereimer, der Förster öffnete die Hoftür und die Kleine trabte dem Wasser zu. Mit unruhiger Erwartung sah ihr Anton nach. Das Mädchen kam bis an den Bach, ungehindert und ohne sich um den Posten zu kümmern, der etwa zwanzig Schritt von ihr stand und ihr neugierig zusah. Endlich ging einer der Sensenmänner auf sie zu, das Mädchen setzte die Eimer zu Boden, schlug die Arme übereinander, und beide fingen eine friedliche Unterhaltung an. Zuletzt ergriff der Sensenmann die Eimer, bückte sich selbst zum Wasser hinunter und reichte die gefüllten dem Mädchen. Langsam brachte die Kleine ihre vollen Eimer zurück, der Förster, öffnete wieder das Tor und sagte schmunzelnd: »Brav, Susanne. Was hat denn die Wache mit dir gesprochen?«

»Dumme Dinge«, erwiderte das Mädchen errötend, »er hat mir gesagt, ich soll ihm und seinen Kameraden das Tor aufmachen, wenn sie wieder an das Schloß kommen.«[707]

»Wenn's weiter nichts war«, sagte der Förster schlau. »Also sie wollen wieder an das Schloß!«

»Freilich wollen sie«, sagte die Kleine, »die Reiter sind gegen das Militär nach Rosmin gezogen, wenn sie zurückkehren, laufen sie alle zusammen gegen das Schloß, sagte der Mann.«

»Wir werden sie schwerlich hereinlassen«, erwiderte der Förster, »keiner soll zum Tor herein, als dein Schatz dort unten. Du hast's ihm doch versprochen, wenn er allein kommt und bei der Nacht?«

»Nein«, antwortete Susanne aufgebracht, »aber ich durfte doch nicht böse sein.«

»Vielleicht können wir's zum zweitenmal probieren«, fragte der Förster auf Anton blickend.

»Ich zweifle«, erwiderte dieser; »dort reitet einer der Offiziere an den Posten heran, der arme Bursch wird für seinen Diensteifer einen rauhen Morgengruß erhalten. Kommt her, wir teilen den kleinen Vorrat. Der erste Eimer zur Hälfte für die Herrschaft, zur Hälfte für uns Männer, der zweite zu einer Morgensuppe für die Frauen und Kinder.« Er goß selbst das Wasser in die verschiedenen Gefäße und stellte den Schmied als Wächter dazu. Beim Eingießen sagte er zu dem Förster: »Das ist die schwerste Arbeit, die wir während der Belagerung gehabt haben. Noch weiß ich nicht, wie wir den Tag aushalten wollen.«

»Es geht vieles«, erwiderte tröstend der Förster.

Ein heller Frühlingstag begann, wolkenlos stieg die Sonne hinter dem Wirtschaftshofe herauf, bald erwärmte ihr milder Strahl die Luft, welche feucht um die Mauern des Schlosses lag. Die Leute suchten die sonnige Ecke des Hofes, in kleinen Gruppen saßen die Männer mit ihren Frauen und Kindern zusammen, alle zeigten gute Zuversicht. Anton trat unter sie: »Wir müssen uns gedulden bis Mittag, vielleicht bis Nachmittag, dann kommen unsere Soldaten.«

»Wenn die drüben nicht mehr tun als jetzt, so können wir's ruhig ansehn«, erwiderte der Schmied, »sie stehn so hölzern wie eingegrabene Zaunpfähle.«

»Sie haben gestern ihre Courage verloren«, sagte ein anderer verächtlich.

»Es war Strohfeuer, der Schmied hat ihnen die Bündel vom[708] Wagen geworfen, sie haben nichts mehr zuzusetzen«, rief ein Dritter.

Der Schmied schlug die Arme übereinander und lächelte stolz, und vergnügt sah seine Frau zu ihm auf.

Jetzt wurde es in dem oberen Stock lebendig, der Freiherr klingelte und forderte Bericht. Anton eilte hinauf, ihm und den Damen zu erzählen, dann trat er in Finks Zimmer und weckte den Freund, der noch im festen Schlummer lag.

»Guten Morgen, Tony«, rief Fink und dehnte sich behaglich; »ich komme im Augenblick hinunter. Wenn du mir durch deine Konnexionen etwas Wasser verschaffen könntest, würde ich dir sehr dankbar sein.«

»Ich will dir eine Flasche Wein aus dem Keller holen«, erwiderte Anton; »du mußt dich heut mit Wein waschen.«

»Hui!« rief Fink, »steht es so? Es ist doch wenigstens kein Rotwein?«

»Wir haben überhaupt nur wenige Flaschen«, fuhr Anton fort.

»Du bist ein Unglücksrabe«, sagte Fink seine Stiefel suchend, »um so mehr Bier wird in euern Kellern sein.«

»Gerade so viel, als zu einem Trunk für die Mannschaft reicht; ein Fäßchen Branntwein ist jetzt unser größter Schatz.«

Fink pfiff die Melodie des Dessauers. »Siehst du wohl, mein Sohn, daß deine Zärtlichkeit für die Frauen und Kinder ein wenig sentimental war? Ich sehe dich im Geiste vor mir, wie du mit aufgestreiften Hemdsärmeln die magere Kuh schlachtest und mit deiner alten Gewissenhaftigkeit dem hungernden Volk bissenweis in den Mund steckst. Du in der Mitte, fünfzig aufgesperrte Mäuler um dich herum. Binde dir nur gleich ein Dutzend Birkenruten, in wenig Stunden wird ein Geschrei hungernder Kinder zum Himmel aufsteigen, und du wirst genötigt sein, trotz deiner Menschenliebe die ganze Bande auszuhauen. Übrigens denke ich, wir haben uns gestern nicht schlecht gehalten, ich habe ausgeschlafen, und so mögen heut die Dinge gehn, wie sie können. Und jetzt laß uns nach dem Feinde sehn.« Die Freunde stiegen auf den Turm, Anton berichtete, was er erfahren hatte, Fink untersuchte sorgfältig die Postenkette und sah mit dem Fernrohr die hellen Bänder der Feldwege entlang, bis dahin, wo der dunkle Wald sie[709] verdeckte. »Unsere Lage ist zu friedlich, um trostreich zu sein«, sagte er endlich, das Rohr zusammenschiebend.

»Sie wollen uns aushungern«, sagte Anton ernst.

»Ich traue ihnen diese Schlauheit zu, und sie kalkulieren nicht schlecht, denn im Vertraun, ich habe starken Zweifel, ob wir überhaupt Entsatz hoffen dürfen.«

»Auf Karl können wir uns verlassen«, sagte Anton.

»Auf meinen Braunen auch«, erwiderte Fink; »aber es ist wohl möglich, daß mein armer Blackfoot in diesem Augenblicke bereits das Unglück hat, das Gesäß irgendeines Insurgenten zu tragen. Ob Junker Karl nicht einem der Haufen, welche sicher in der ganzen Gegend umherschwärmen, in die Hände gefallen ist, ob er überhaupt die Regulären aufgefunden hat, ob diese ferner Lust haben, uns zu Hilfe zu marschieren, ob sie endlich den Witz haben, zu rechter Zeit anzukommen, und ob sie zuallerletzt stark genug sind, die Schar, welche ihnen den Weg zu uns verlegt, zu zerstreuen, das, mein Junge, sind alles Fragen, welche wohl aufgeworfen werden dürfen, und ich will lieber alle Brombeeren der Welt aufessen, als eine fröhliche Antwort darauf geben.«

»Wir könnten's mit einem Ausfall versuchen, freilich er würde blutig werden«, erwiderte Anton.

»Bah«, sagte Fink. »Aber was schlimmer ist, er würde nichts nutzen. Einen Haufen werfen wir vielleicht, die nächste Stunde ist ein anderer da. Nur siegreicher Entsatz kann uns aus der Klemme helfen. Solange wir in diesen Mauern unser Hausrecht wahren, sind wir stark, auf freiem Feld mit Weibern und Kindern werden wir von einem Dutzend Reitern überrannt.«

»Warten wir's also ab«, sagte Anton finster.

»Weise gesprochen, der ganze Witz des Lebens ist zuletzt der, daß man sich und andern keine Fragen vorlegt, die nicht zu beantworten sind. Die Sache droht langweilig zu werden.«

So stiegen die Freunde wieder herab, und so verstrich Stunde auf Stunde, langsame Stunden bleierner Untätigkeit. Bald sah Anton, bald Fink mit dem Fernrohr nach den Öffnungen des Waldes, es war wenig Auffallendes zu sehn, Patrouillen der Feinde kamen und gingen, bewaffnete Haufen von Landleuten zogen dem Dorfe zu und wurden nach verschiedenen Richtungen wieder abgesandt, die Postenkette wurde regelmäßig revidiert[710] und alle zwei Stunden abgelöst. Es war richtig, die Belagerer waren beschäftigt, die Dörfer der Umgegend zu durchsuchen und zu entwaffnen, um die im Schloß zuletzt mit vereinter Kraft anzugreifen. Die Deutschen waren in ihrem Steinbau umstellt wie ein wildes Tier in seinem Lager, und die Jäger warteten mit ruhiger Sicherheit die Stunde ab, wo der Hunger oder Feuer und Waffen die Bezwungenen heraustreiben mußten.

Unterdes versuchte Fink die Leute zu beschäftigen, die Männer mußten Waffen und Armatur reinigen und putzen, sie mußten antreten und Fink untersuchte selbst die einzelnen Gewehre; darauf wurde Pulver und Blei verteilt, Kugeln gegossen und Patronen gemacht. Die Frauen wies Anton an, Haus und Hof zu reinigen, soweit dies ohne Wasser möglich war. Das hatte die gute Wirkung, die Eingeschlossenen durch einige Stunden in Tätigkeit zu erhalten.

Die Sonne stieg höher und die Luft trug von dem nächsten Dorf das leise Bimmeln der Glocke herüber. »Die erste Mahlzeit ist spärlich genug ausgefallen«, sagte Anton zu seinen Kameraden, »die Kartoffeln sind in der Asche gebraten, auch Fleisch und Speck sind zu Ende, die Köchin kann das Mehl nicht mehr verbacken, es fehlt wieder an Wasser.«

»Solange wir die Milchkuh im Stalle haben«, erwiderte Fink, »besitzen wir immer noch einen Schatz, den wir dem hungrigen Volk vorzeigen können. Dann bleiben noch die Mäuse des Schlosses und zuletzt unsere Stiefel. Wer in diesem Lande verurteilt war, bisweilen Beefsteak zu essen, der kann Stiefelleder für kein zähes Gericht halten.«

Der Förster unterbrach das Gespräch mit der Meldung: »Ein einzelner Reiter kommt vom Wirtschaftshof auf das Schloß zu, hinter ihm geht ein Frauenzimmer; ich wette, es ist die Rebekka.«

Der Reiter näherte sich, ein weißes Taschentuch schwenkend, der Tür in der Vorhalle, er hielt neben den verkohlten Trümmern des Erntewagens und sah nach den Fenstern des Oberstocks. Es war der Parlamentär vom Tage zuvor. »Wir wollen nicht so unhöflich sein, den Herrn warten zu lassen«, sagte Fink, schob den Riegel zurück und trat unbewaffnet auf die Schwelle. Der Pole grüßte schweigend, Fink lüftete seine Mütze.[711]

»Ich habe Ihnen gestern abend gesagt«, begann der Reiter, »daß ich heut das Vergnügen haben würde, Sie wiederzusehn.«

»Ei«, erwiderte Fink, »Sie selbst waren der Herr, der uns den Rauch verursachte. Es war schade um den Erntewagen.«

»Sie haben gestern Ihre Leute verhindert, auf mich zu feuern«, fuhr der Pole in deutscher Sprache mit hartem Akzent fort, »ich bin Ihnen dankbar dafür und möchte Ihnen meine Erkenntlichkeit beweisen. Wie ich höre, sind Damen in diesem Hause, das Mädchen bringt ihnen Milch. Wir wissen, daß man hier im Schloß kein Wasser hat, und ich wünsche nicht, daß die Damen durch unsern Streit zu Entbehrungen genötigt werden.«

»Du Racker«, murmelte der Förster.

»Wenn Sie mir erlauben, Ihnen für die Milch einige Flaschen Wein aus unserem Keller zurückzugeben, so nehme ich Ihr Geschenk mit Dank an«, erwiderte Fink. »Ich setze voraus, daß Ihnen in der Schenke diese Flüssigkeit ebenfalls nicht im Überfluß zu Gebote stehn wird.«

»Es ist gut«, sagte der Pole lächelnd. Rebekka eilte mit ihrem Krug nach der Pforte des Hofraums, gab die Milch ab und empfing durch den brummenden Förster die Flaschen mit Wein. Der Pole aber fuhr fort: »Wenn Sie auch mit Wein versehen sind, so kann dieser doch nicht das Wasser ersetzen, Ihre Garnison ist zahlreich, und wir hören, daß Sie viele Frauen und Kinder im Hause haben.«

»Ich werde es für kein Unglück halten«, erwiderte Fink, »wenn die Frauen und Kinder einige Tage mit uns Männern Wein trinken, bis Sie uns den Gefallen erweisen, um den ich Sie schon gestern ersuchte, dies Gut und den Brunnen drüben zu verlassen.«

»Hoffen Sie darauf nicht, mein Herr«, sagte der Pole ernst, »wir werden jede Gewalt anwenden, Sie zu entwaffnen; wir wissen jetzt, daß Sie keine Artillerie haben, und es ist uns jede Stunde möglich, den Eingang in dies Haus zu erzwingen. Sie haben sich aber als tapfere Männer gehalten, und wir wünschen nicht weiter zu gehn, als wir müssen.«

»Vorsichtig und verständig«, versetzte Fink beistimmend.

»Deshalb mache ich Ihnen einen Vorschlag, der Ihr Ehrgefühl nicht verletzen wird. Sie haben auf keinen Entsatz zu hoffen. Zwischen Ihrem Militär und diesem Dorf steht ein starkes Korps[712] unserer Truppen, ein Zusammenstoß beider Armeen ist an den nächsten Tagen einige Meilen von hier zu erwarten, und Ihre Kommandeure sind deshalb außerstande, einzelne Korps zu detachieren. Ich sage Ihnen keine Neuigkeit, denn Sie wissen das so gut als wir selbst. Und so verbürge ich Ihnen und allen, welche in diesem Hause sind, bei meinem Ehrenwort freien Abzug, wenn Sie Ihre Waffen und das Schloß übergeben. Wir sind bereit, Sie und die Damen durch eine Eskorte in jeder Richtung, welche Sie wünschen, so weit zu geleiten, als wir das Terrain behaupten.«

Fink erwiderte ernsthafter, als er bis dahin gewesen: »Darf ich Sie fragen, aus wessen Munde das Ehrenwort kommt, das mir soeben gegeben wurde?«

»Obrist Zlotowsky«, erwiderte der Reiter sich leicht verneigend.

»Ihr Vorschlag, mein Herr«, entgegnete Fink, »verpflichtet uns zu Dank. Ich setze keinen Zweifel in die Aufrichtigkeit Ihres Anerbietens und will auch annehmen, daß Ihr Einfluß auf die Männer, welche Sie begleiten, groß genug ist, um diese Bedingungen aufrechtzuerhalten. Da ich aber nicht selbst Herr dieses Hauses bin, so muß ich diesem Ihre Vorschläge mitteilen.«

»Ich warte«, erwiderte der Pole, ritt auf eine Entfernung von dreißig Schritt zurück und hielt der Tür gegenüber still.

Fink schloß die Tür und sagte zu Anton: »Schnell zum Freiherrn! Was ist deine Meinung?«

»Aushalten«, erwiderte Anton.

Sie trafen den Freiherrn in seinem Zimmer, den Kopf in seine Hände gestützt, mit verstörtem Gesicht, ein Bild des Leidens und nervöser Unruhe. Fink trug ihm das Anerbieten des Polen vor und bat um seine Entscheidung.

Der Freiherr erwiderte: »Ich habe bis jetzt vielleicht mehr gelitten, als irgendeiner der Braven, welche in diesem Hause ihr Leben gewagt haben. Es ist ein furchtbares Gefühl, hilflos dazusitzen, wo die Ehre gebietet, in der vordersten Reihe zu stehn. Aber eben deshalb habe ich kein Recht, Ihnen Vorschriften zu machen. Wer außerstande ist, zu kämpfen, hat auch kein Recht, zu bestimmen, wann der Kampf aufhören soll. Ja ich habe kaum das Recht, Ihnen meine Ansicht zu sagen, weil ich fürchte, daß sie für[713] Ihren hochherzigen Sinn bestimmend sein würde. Außerdem kenne ich Unglücklicher nicht die Leute, welche mich verteidigen, ich habe kein Urteil über ihre Stimmung und über ihre Kraft. Ich überlasse Ihnen alles, und lege das Schicksal der Meinen vertrauend in Ihre Hand. Der Himmel möge Ihnen vergelten, was Sie für mich tun. Nicht für mich, um Gottes willen nicht für mich, das Opfer wäre zu groß«, rief der erregte Mann, erhob seine gefalteten Hände und starrte mit den glanzlosen Augen in die Höhe; »denken Sie an nichts als an die Sache, welche wir verteidigen.«

»Wenn Sie uns ein so hohes Vertrauen schenken«, sagte Fink mit ritterlicher Haltung, »so sind wir entschlossen, Ihr Schloß zu halten, solange wir noch eine schwache Hoffnung auf Entsatz haben. Unterdes sind ernste Zufälle möglich, die Weigerung unserer Leute, sich ferner zu schlagen, oder das gewaltsame Eindringen der Feinde.«

»Meine Frau und Tochter bitten, wie ich, daß Sie in dieser Stunde auf ihr Wohl keine Rücksicht nehmen. Gehen Sie, meine Herren«, rief der Freiherr, seine Arme ausstreckend, »die Ehre eines alten Soldaten liegt in Ihrer Hand.«

Beide Männer verneigten sich tief vor dem Blinden und verließen das Zimmer. »Es ist doch Ehre in den Leuten«, sagte Fink auf dem Wege mit dem Kopfe nickend. Er öffnete die Tür, der Offizier ritt heran.

»Der Freiherr von Rothsattel dankt Ihnen für Ihr Anerbieten, er ist entschlossen, sein Haus und das Eigentum derer, welche sich ihm anvertraut haben, gegen Ihre Angriffe zu verteidigen bis zum äußersten. Wir nehmen Ihren Vorschlag nicht an.«

»So tragen Sie die Folgen«, rief der Reiter zurück, »und die Verantwortung für alles, was jetzt geschehen muß.«

»Ich übernehme die Verantwortung«, sagte Fink. »An Sie aber noch eine Bitte. Es sind außer den Frauen und Kindern der Landleute zwei Damen in diesem Schloß, die Gemahlin und Tochter des Freiherrn von Rothsattel, wenn ein Zufall Ihnen doch Gelegenheit geben sollte, die Räume dieses Hauses zu betreten, so empfehle ich die Wehrlosen Ihrem ritterlichen Schutz.«

»Ich bin eine Pole«, rief der Reiter stolz, sich auf seinem Pferde erhebend. Er nahm den Hut ab und ritt in kurzem Galopp nach dem Wirtschaftshof zurück.[714]

»Er sieht aus wie ein kühner Bursch«, sagte Fink sich umwendend zu den Leuten, welche aus der Wachstube herzugeeilt waren. »Aber meine Männer, wenn man die Wahl hat, ob man sich verlassen soll auf die Versprechungen eines Feindes, oder auf dies kleine Rohr von Eisen, so bin ich allemal der Meinung, daß man lieber dem vertraut, was man in der Hand hält.« Er schüttelte sein Gewehr. »Der Pole verspricht uns freien Abzug, weil er weiß, daß in ein paar Stunden seine Bande vor unsern Soldaten auseinanderlaufen wird. Wir wären für ihn ein guter Bissen, an die dreißig Gewehre! Und wenn die Reiter kämen und uns nicht in dem Hause fänden, zu dem wir sie gerufen, sondern dies Gesindel mit seinen Krötenspießen, sie würden uns ein schönes Donnerwetter nachschicken, und wir hätten den Schimpf für immer.«

»Ob er es ehrlich gemeint hat?« frug einer der Leute zögernd.

Fink faßte den Mann vertraulich an der Klappe seines Rockes: »Ich glaube, daß er es ehrlich meint, mein Junge, aber ich frage euch, wie weit reicht bei diesem Volk der Gehorsam? Wir wären noch nicht hinter der Waldecke dort unten, so käm' ein anderer Haufe über uns, und die Weiber und Eure Sachen würden vor unsern Augen malträtiert. Und deswegen kalkuliere ich, tun wir am besten, wenn wir ihnen die Zähne zeigen.«

Lebhafte Beistimmung der Hörer erfolgte, und einige Hoch! auf die jungen Herren im Schlosse wurden ausgebracht.

»Wir danken«, sagte Fink, »und jetzt alle auf Posten, ihr Männer, denn es kann wohl kommen, daß sie sich wieder blutige Köpfe holen. – Das hält sie wieder auf eine Stunde hin«, fuhr er zu Anton gewandt fort, »bei alledem ist quer, daß die Leute diese Verhandlung angehört haben. Ich glaube nicht an einen Angriff bei Tage, aber auf Posten stehn ist besser für sie, als die Köpfe zusammenstecken.«

Auch der strenge Dienst, den Fink jetzt einrichtete, vermochte nicht die Entmutigung aufzuhalten, welche allmählich, je weiter die Sonne am Himmel stieg, über die kleine Garnison kam. Die Worte des Polen waren von vielen gehört worden, auch die Weiber hatten neugierig ihre Tür geöffnet und sich in die Halle gedrängt. Leise, nach und nach fiel die Furcht in die Herzen und ansteckend wie eine Krankheit erfaßte sie einen nach dem andern.[715]

In der Frauenstube brach sie aus. Plötzlich empfanden einzelne eine große Sehnsucht nach Wasser, sie klagten über Durst, zuerst schüchtern, dann lauter, sie drängten sich an der Tür der Küche zusammen und begannen laut zu schluchzen. Nicht lange, so schrien alle Kinder nach Wasser, und viele, die unter andern Umständen nicht an Trinken gedacht hätten, fühlten sich unsäglich elend. Anton ließ die letzten Flaschen Wein aus dem Keller holen, zerschnitt das letzte Brot in Bissen, tauchte jedem einzelnen einige Bissen in den Wein ein, bis sie ganz durchgeweicht waren, und verteilte sie mit der ernsthaften Versicherung, dies sei das beste Mittel gegen Durst, wenn man das in den Mund stecke, sei man einen ganzen Tag lang nicht imstande, Wasser zu trinken, und wenn man Geld dafür bekomme. Das half auf eine Weile, aber die Angst fand andere Türen, durch welche sie sich einschlich. Manche überlegten, was sie denn zu verlieren hätten, wenn sie ein altes Gewehr abgäben und dafür die Freiheit erhielten und das Recht, überall hinzugehn, wohin sie wollten. Diese Ansicht wurde vorläufig durch den Förster bekämpft, der sich in die Mitte der Wachstube stellte und entschlossen erwiderte: »Ich will Euch sagen, Gottlieb Fitzner, und Euch, Ihr dicker Bökel, daß das Weggeben des Gewehrs für uns alle eine Kleinigkeit ist, es ist nur der Übelstand dabei, daß der von Euch, der auf diesen kanailleusen Gedanken käme, ein ganz gemeiner feiger Schuft wäre, vor dem ich alle Tage ausspucken würde, sooft ich ihn träfe.« Darauf gaben Fitzner und Bökel dem Förster eifrig recht, und Bökel erklärte, er werde es mit jedem solchen Kerl ebenso machen, wie der Förster. Und auch diese Gefahr war beseitigt. Aber die abgelösten Wachen blieben in unruhiger Unterhaltung. Die Streitkräfte des Schlosses wurden mit denen des Feindes verglichen; endlich wurde die geringe Stärke des Pfahlwerks im Hofe der herrschende Gegenstand einer furchtsamen Kritik. Es war klar, daß dort der nächste Angriff erfolgen würde, und auch die Beherzten nahmen an, daß der Bohlenzaun nur geringen Widerstand leisten könnte. Sogar der treue Schmied schüttelte mit der Hand an dem Zaun und fand keinen Gefallen an der Art, wie er zusammengenagelt war. In den Mittagstunden waren diese Anfälle von Zaghaftigkeit noch nicht gefährlich, denn der größte Teil der Männer erwartete, das Gewehr in der Hand, jeden Augenblick[716] den Anmarsch des Feindes. Als sich aber die Sonne von ihrer Höhe neigte, ohne daß ein Angriff erfolgte und ohne daß der Posten auf dem Turm den Entsatz meldete, da wirkten Tatlosigkeit und Abspannung zusammen, das Leiden allgemein zu machen. Die Mittagskost war ungenügend, Kartoffeln mit verkohlter Rinde und etwas Salz dazu. Natürlich fingen die Leute wieder an zu dursten, wieder kamen die Frauen jammernd zu Anton und klagten, sein Mittel habe nur auf kurze Zeit geholfen. Und auch unter den Männern flog die Angst um Hunger und Durst von einem Pfeiler zum andern, aus der Wachstube in den Hof bis hinauf in den Turm. Anton hatte die doppelte Ration Branntwein ausgeteilt, auch das half nicht bei allen. Die Männer wurden nicht aufsässig, es war zuviel gute Art in ihnen, sie wurden nur kleinlaut und schwächer. Fink sah mit verächtlichem Lächeln auf diese Symptome eines Zustandes, der seinem elastischen Geist und seinen stählernen Nerven unbegreiflich war. Aber Anton, den alle mit Bitten und Klagen überliefen, fühlte die ganze Verlegenheit dieser Stunden. Etwas mußte geschehen, um gründlich zu helfen, oder alles war verloren. So trat er in den Hof, entschlossen, die Kuh zu opfern. Er stellte sich vor die Milchkuh, klopfte sie auf den Hals: »Liese, armes Tier, du mußt jetzt daran.« Als er sie am Strick herauszog, fiel sein Blick auf die leere Wassertonne, und ihn überkam ein glücklicher Gedanke. Die Erhebung des Bodens über das Wasser des Baches betrug nur wenige Fuß, die ganze Gegend war quellenreich, es war wahrscheinlich, daß man in geringer Tiefe Wasser finden würde. Es war für die Besatzung eine leichte Sache, ein Brunnenloch auszugraben. Wenn man die ausgegrabene Erde an das Pfahlwerk stampfte, so wurde die Festigkeit desselben beträchtlich vermehrt. Und was die Hauptsache war, die Arbeit setzte alle müßigen Hände in Bewegung, sie konnte stunden-, ja tagelang fortgesetzt werden. Aus früheren Versuchen wußte er, daß das Wasser um das Schloß schlammig und in gewöhnlicher Zeit nicht zu brauchen war, aber darauf kam es heut nicht an. Anton sah nach der Sonne, es war keine Minute zu verlieren.

Er rief den Techniker in den Hof, und als dieser freudig beistimmte, alle freien Hände des Schlosses, auch die Weiber und stärkeren Kinder. Das Werkzeug der Arbeiter wurde herzugeholt,[717] nach wenig Augenblicken waren zehn Männer mit Hacke und Spaten beschäftigt, in der Mitte des Hofes ein großes Loch mit schräger Böschung nach unten zu graben, die Frauen und Kinder mußten unter Aufsicht des Technikers die aufgegrabene Erde an dem Pfahlwerk feststampfen. Einige Männer, und was von Frauen noch zur Hand war, rief Anton zum Schlachten der armen Kuh, welche noch einmal dem Volk gezeigt wurde, bevor sie dem Verhängnis des Tages erlag. Schnell war alles in eifrigster Tätigkeit. Das Brunnenloch, an der Oberfläche viel weiter, als für eine regelmäßige Röhre notwendig gewesen wäre, vertiefte sich zusehends, und an dem Bohlenzaun stieg ein Wall in die Höhe, wie durch die Kraft hilfreicher Gnomen aus dem Boden gehoben. Die Leute griffen an, wie sie in ihrem Leben nicht getan hatten, im Wettkampf flogen die Spaten der Männer, barfüßige Beinchen sprangen begeistert über die Erde, Holzschuhe und Pantoffeln stampften ihre Spuren tief hinein. Jeder wollte mit angreifen, es waren mehr Hände zur Stelle, als der Raum zu bewegen erlaubte. Alle Bangigkeit war verschwunden, lustige Scherze flogen hin und her. Auch Fink kam herbei und sagte zu Anton: »Du bist ein Heidenbekehrer, du verstehst für das Seelenheil deiner Gemeinde zu sorgen.«

»Die Gemeinde arbeitet«, erwiderte Anton fröhlicher, als er in den letzten vierundzwanzig Stunden gewesen war.

Das Brunnenloch vertiefte sich, daß man mit einer kurzen Leiter hineinsteigen mußte, der Grund wurde feucht, die Männer arbeiteten in einem Sumpf, zuletzt mußte der Schlamm in Kübeln heraufgereicht werden, aber die Leute drängten sich zum Tragen, die Eimer flogen aus einer Hand in die andere. Mit lautem Gelächter, wie Kinder, begrüßten sie jeden Schmutzfleck, der aus den Eimern auf die Kleider der Ungeduldigen spritzte. Der Wall erhob sich bereits fußhoch über das Pfahlwerk, und da es an Rasen fehlte, schlugen die Leute an der innern Böschung Holz und Steine mit einer Kraft hinein, welche die Masse festmachte, wie Stuck. Kaum, daß Anton die schmale Seitenpforte frei erhielt. Unter den feindlichen Posten am Bach zeigte sich eine unruhige Bewegung, Reiter sprengten die Postenkette entlang und sahen auf das neue Festungswerk, zuweilen wagte sich einer näher heran, zog sich aber zurück, wenn der Förster sein Gewehr über[718] den Wall erhob. So verrann Stunde auf Stunde, die Sonne sank hinab, und der rote Schein der Abendröte flog über den Himmel. Die Leute im Hof achteten nicht darauf, unten im finstern Brunnenloch standen die Männer bis an den Leib im Wasser. Es war eine gelbe schmutzige Flüssigkeit, aber die Leute starrten in die Öffnung, als ob dort ein Schatz von flüssigem Gold heraufquölle. Endlich, als schon die Schatten des Abends dunkel auf der Öffnung lagen, befahl Anton den Arbeitern, aus der Grube zu steigen. Ein großes Tuch wurde gebracht und über den Wasserbottich gelegt, man schöpfte das Wasser in Eimern herauf und seihte es durch das Tuch.

»Zuerst meine Pferde«, rief ein Knecht und riß die Eimer für die dürstenden Tiere an sich. »Wenn sich der Trank gesetzt hat, wird er so gut wie Bachwasser«, rief der Schmied vergnügt, die Arbeiter wurden nicht müde, sich eine Probe auszuschöpfen, und jeder bestätigte siegesfroh die Meinung des angesehenen Mannes. Unterdes ließ Anton oben auf dem Wall, der bis zum Fußboden des oberen Stockwerks heraufgewachsen war, neue Pfähle einschlagen und die starken Bretter der Kartoffelwagen als Schutzwehr daran befestigen. Als die Finsternis der Nacht sich über das Schloß legte, war das Werk vollendet. Die Frauen klärten unermüdlich über dem Bottich, große Stücke Fleisch wurden nach der Küche geschafft, dort knisterte ein großes Feuer, und die anmutige Aussicht auf ein kräftiges Nachtessen zog in die Seele aller Belagerten.

Da rasselte draußen im Felde wieder die feindliche Trommel, und der schrille Ruf der Knochenpfeife zitterte durch die Räume des Hauses. Einen Augenblick standen die Männer im Hofe erschrocken, sie hatten in den letzten Stunden nur wenig an den Feind gedacht, dann stürmte alles nach der Wachstube und ergriff die Gewehre. Schnell wurde der Unterstock mit doppelter Mannschaft besetzt, der Förster eilte mit einer starken Abteilung nach dem Hofe und kletterte auf den neuen Wall.

»Die Entscheidung naht«, sagte Fink leise zu Anton, »in den letzten Stunden sind starke Banden im Dorf eingerückt, im letzten Abendlicht ein Haufe Reiter. Wir vermögen eine zweite Nacht nicht zu widerstehn. Sie werden auf allen Seiten zugleich angreifen, mit einem Schock kurzer Leitern dringen sie in das[719] Schloß. Und sie wissen das, denn sieh, jede Rotte, die aus dem Dorf heranzieht, ist mit Axt und Leiter versehen. Laß uns gemütlich durchmachen, was nicht zu ändern ist, dein ist das Verdienst, wenn wir als Männer unterliegen, und nicht als Memmen. Ich war bei dem Freiherrn, er und die Frauen sind vorbereitet; sie werden sich zusammen in seinem Zimmer halten. Hast du noch einige Worte in der Kehle, wenn einer von den Messieurs der Bande über dich wegsteigt, so erinnere ihn an die Frauen. Gott befohlen, Anton, ich nehme die Hofseite, du die Front.«

»Mir ist's unmöglich«, rief Anton, »daß wir unterliegen sollen, ich habe nie so frohe Hoffnung gehabt, als in dieser Stunde.«

»Hoffnung auf Entsatz?« frug Fink die Achseln zuckend und wies durch das Fenster auf die feindlichen Haufen, »und wenn er in einer Stunde kommt, er kommt zu spät. Seit Rebekkas Kanone abgefahren ist, sind wir in den Händen des Feindes, sobald dieser einen ernstlichen Sturm wagt. Und er wird ihn wagen. Man muß sich keine Illusionen machen, die nicht länger glimmen, als eine Zigarre. Deine Hand, mein lieber Junge, lebe wohl!« Er drückte kräftig Antons Hand, und das stolze Lächeln glänzte wieder auf seinem Antlitz. So standen die beiden nebeneinander, jeder sah liebevoll auf die Gestalt des andern, ungewiß, ob er sie je wieder erblicken werde. »Fahre wohl!« rief Fink und erhob die Büchse, seine Hand aus der des Freundes lösend; aber er blieb wie eingewurzelt stehn und lauschte, denn über dem Trommelwirbel der Feinde und dem Lärm der anrückenden Haufen fuhr ein heller Klang durch die Nachtluft, eine fröhlich schmetternde Fanfare, und als Antwort klang von dem Dorfe her der regelmäßige Sturmschlag eines Tambours der Linie, darauf eine starke Gewehrsalve und ein fernes Hurra.

»Sie kommen«, rief es aus allen Ecken des Schlosses, »unsre Soldaten kommen.« Der Förster stürzte in die Halle: »Die Rotmützen«, schrie er, »sie reiten am Bach herauf zur Brücke, hinten im Dorf stürmt die Infanterie.«

»Alle in den Hof«, rief Fink, »zum Ausfall, ihr Männer, vorwärts!« Die Verrammelung der Pforte wurde weggerissen, die Mannschaft war im Augenblick außerhalb der Verschanzung, kaum daß Anton den Techniker und einige Knechte als Besatzung des Hauses in den Hof zurücktrieb. Der Förster schritt die[720] Reihe entlang und ordnete die Leute. Fink sah nach dem Stand des Gefechts. Die Infanterie-Kolonne drang im Dorfe vor, das unaufhörliche Knattern des Gewehrfeuers verriet die Erbitterung des Kampfes, aber das Feuer kam langsam näher, die Feinde wichen, schon rannten einzelne Flüchtlinge derselben aus dem Wirtschaftshof hervor. Unterdes passierte eine Abteilung Husaren gegenüber dem Schlosse den Bach, sie trieb kleine Haufen der Belagerer vor sich her. Fink führte seine Bewaffneten um das Haus herum und stellte sie an der Ecke auf, die dem Dorfe zunächst lag. »Geduld«, rief er, »und wenn ich euch vorführe, vergeßt euren Kriegsruf nicht, sonst werdet ihr in der Dunkelheit überritten und zerstampft, wie die Feinde.« Nur mit der größten Mühe waren die Ungeduldigen im Gliede zu halten.

Vom Bache her flog ein einzelner Reiter auf sie zu. »Hurra, Rothsattel!« rief er schon aus der Ferne. »Sturm!« schrie ihm ein Dutzend Stimmen entgegen, Anton sprang aus dem Gliede auf den treuen Mann zu. »Wir haben die Feinde«, rief Karl, »der Feind hat die Straße von Rosmin besetzt, ich aber führte unsere Leute auf Umwegen durch den Wald.«

Ein dunkler Haufe wurde an den letzten Häusern des Dorfes sichtbar, Berittene sprengten vor, der feindliche Trupp machte halt und sammelte sich am Wirtschaftshofe. Dort setzte sich der Kampf, die Führer trieben ihre Leute wieder zurück ins Gefecht. »Jetzt gilt's«, rief Fink. Im Schnellschritt zog die Schar über den Anger, stellte sich seitwärts vom Wege an der ersten Scheuer auf, und eine Salve aus fünfundzwanzig Gewehren drang in die Seite des Feindes. Dadurch kam Verwirrung in die gedrängte Schar der Feinde, die Masse löste sich auf und stürzte in wilder Flucht über die Ebene. Wieder klang hinter denen vom Schloß die Trompete, im vollen Rosseslauf stürmten die Husaren vor und hieben in einen Haufen ein, der noch standhielt. Karl warf sich zu ihnen und verschwand im Getümmel. So trieben sie den Feind in die Felder.

Aus dem Dorf aber sprengten jetzt die polnischen Reiter, ihnen voran der Parlamentär, der seine Leute mit lautem Zuruf auf die Husaren trieb.

»Rothsattel«, rief eine jugendliche Stimme vom Pferde dicht neben Anton, und vor einem Zug Husaren stürmte ein schlanker[721] Offizier den polnischen Reitern entgegen. Fink richtete seine Büchse gegen den polnischen Oberst.

»Ich danke«, rief dieser, auf seinem Pferde wankend, und schoß mit letzter Kraft seine Pistole in die Brust des Husars ab, der auf ihn einritt. Getroffen sank der Husar vom Pferde, mit dem Körper des Polen jagte das Pferd von dannen.

Nach wenigen Minuten war die Umgebung des Schlosses von Feinden gereinigt; die Nacht deckte die Flüchtigen, schützend breiteten die Waldbäume ihre Äste über die Söhne des Landes. In kleinen Abteilungen verfolgten die Sieger den letzten Haufen der Feinde.

Vor dem Schlosse kniete Anton am Boden und stützte das Haupt des gefallenen Reiters mit seinen Armen. Mit Tränen im Auge sah er von dem Sterbenden zu dem Freund auf, welcher mit einer Gruppe von Offizieren teilnehmend zur Seite stand. Der Siegesjubel war verstummt, die Landleute umgaben in düsterem Schweigen die Stätte. Langsam wurde der Regungslose auf den Händen der Männer nach dem Hause getragen.

In der Vorhalle stand an der Treppe der Freiherr mit seiner Tochter, bereit, die willkommenen Gäste zu begrüßen. Als Lenore den wunden Mann erblickte, stürzte sie unter die Träger, welche schweigend den Körper vor dem Freiherrn niederlegten, und sank mit einem Schrei zu Boden.

»Wer ist es?« stöhnte der blinde Mann und griff mit den Händen vor sich in die Luft. Niemand antwortete, scheu traten alle zurück.

»Vater«, murmelte der Verwundete, und ein Blutstrom quoll aus seinem Mund. »Mein Sohn, mein Sohn!« schrie der Blinde wie rasend, und seine Knie brachen zusammen.

Den Sohn hatte es aus seiner Garnison fortgetrieben zu dem Heere, welches sich nahe bei seinen Eltern zusammenzog. Er hatte es durchgesetzt, ein anderes Regiment zu begleiten, er hatte Erlaubnis erhalten, die Eskadron zu begleiten, welche dem Vater zu Hilfe entsendet wurde. Er wollte seine Eltern überraschen und brachte ihnen mit dem Entsatz seine blutende Brust in das Haus und den Tod in die Herzen.

Jetzt lag eine unheimliche Stille auf dem hohen Slawenschloß. Der Sturm hatte ausgetobt, von den Blütenbäumen im Felde fielen[722] lautlos die weißen Blätter und lagen im Sternenlicht am Boden, rein, wie ein weißes Totentuch. Wo seid ihr, lustige Pläne des blinden Mannes, der gebaut, gesündigt, gelitten hat, um euch lebendig zu machen? Horche, du armer Vater, mit verhaltenem Atem; es ist still geworden im Schloß und auf den Gipfeln der Bäume, und doch vermagst du nicht mehr zu hören den einen Ton, an den du immer gedacht hast bei deinen Luftschlössern, unter deinen Pergamenten, den Herzschlag deines einzigen Sohnes, des ersten Majoratsherrn der Rothsattel.[723]

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 706-725.
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