1

[725] Traurige Tage kamen über das Schloß, schwer zu tragen für jeden, der in seinen Mauern wohnte. In der Familie des Freiherrn saß das Siechtum, wie der Wurm in einer Pflanze. Nach der schwarzen Stunde, wo man dem Vater den sterbenden Sohn ins Haus getragen hatte, verließ der Freiherr nicht sein Zimmer. Das wenige, was noch von Kraft in ihm gewesen war, jetzt war es zerbrochen, der Schmerz zehrte an seinem Geist mehr als an seinem Körper, er brütete tagelang still vor sich hin, und nicht die Bitten Lenorens, nicht die Nähe seiner Frau vermochten ihn zu beleben. Als der Baronin die Unglücksbotschaft gebracht wurde, zitterte Anton, daß das dünne Band zerreißen müsse, welches das Leben noch an ihrem Körper hielt, und wochenlang ging Lenore nicht von ihrem Lager. Aber zur Verwunderung aller erfolgte das Gegenteil. Der Zustand des Gatten nahm bald ihre Sorge so sehr in Anspruch, daß ihr selbst Schmerz und Schwäche zu schwinden schien. Sie zeigte sich kräftiger, als sie vorher gewesen war, nur auf die Pflege des Freiherrn bedacht, gewann sie über sich, stundenlang neben seinem Stuhl zu sitzen. Der Arzt freilich schüttelte gegen Anton den Kopf und sagte, daß dieser plötzlichen Erhebung wenig zu trauen sei. Lenore wurde in den ersten Wochen nach dem Tode des Bruders kaum von jemandem gesehen. Wenn sie einmal außer dem Krankenzimmer erschien, so waren es fast nur Fragen nach dem Befinden der Kranken, die sie beantwortete, oder Bitten nach dem Arzt, die sie an Anton richtete.

Unterdes zog draußen ein wildes Frühjahr vorüber, ein stürmischer Sommer folgte. Zwar die Schrecken des Bürgerkrieges hatte das Gut nicht mehr zu fürchten. Aber die schweren Lasten der Zeit legten sich erdrückend auf die Wirtschaft. In der stillen Waldinsel tönte jetzt täglich der Trommelschlag des Tambours oder das Signal des Trompeters, Dorf und Schloß hatten Einquartierung, welche häufig wechselte. Anton hatte mit allen Händen zu tun, Mannschaft und Pferde unterzubringen und für[725] ihre Verpflegung zu sorgen. Bald waren die geringen Kräfte des Gutes erschöpft, ohne Finks vorausbezahlte Pachtgelder wäre es unmöglich gewesen, diese Zeit zu überstehen. Auch in der Wirtschaft nahmen die Störungen kein Ende. Mehr als ein Morgen war in den Tagen der Belagerung durch die Fußtritte von Rossen und Menschen zerstampft worden, jetzt hielten requirierte Fuhren die Gespanne auf, die Leute selbst verwilderten in der unruhigen Zeit und verloren die Lust zu regelmäßiger Tätigkeit. Aber im ganzen wurde die Ordnung doch erhalten, die Arbeiten des Jahres nahmen nach dem Plan, der im Frühjahr gemacht war, ihren Fortgang. Noch besser ging es mit dem Wiesenbau. Nicht alle Arbeiter, welche Fink auf das Gut geführt hatte, hielten aus, aber sie wurden durch andere Leute ersetzt, die sich in dieser Zeit bewährten. Ja, die Zahl der grauen Jacken und schwarzen Hüte vermehrte sich, und die Garde des Herrn von Fink wurde in der ganzen Umgegend als eine trotzige Gesellschaft besprochen, mit der nicht gut anzubinden sei. Fink selbst war jetzt oft abwesend, er hatte viele Offiziere kennengelernt, alte Bekanntschaften erneuert, er fuhr im Lande umher, verfolgte mit Eifer die kriegerischen Operationen und machte als Freiwilliger das Treffen mit, welches einige Meilen von dem Gut gegen die Insurgenten gewonnen wurde. Seine Verteidigung des Schlosses hatte ihn in der Umgegend zu einer gefürchteten Person gemacht, welcher aller Haß der feindlichen Partei ebensosehr zufiel, als die Bewunderung der Freunde.

Es war einige Wochen nach dem Entsatz des Schlosses, als Lenore in die Hoftür trat, vor welcher Anton mit dem Förster verhandelte. Lenore sah über den Hof, in welchem jetzt eine Pumpe stand, und über den Zaun, von dem der Erdwall abgefahren war, in die Landschaft, welche jetzt in dem hellen Grün des ersten Sommers glänzte. Endlich sagte sie mit einem Seufzer: »Es ist Sommer geworden, Wohlfart, und wir merken nichts davon.«

Anton sah ihr besorgt in das bleiche Gesicht. »Draußen im Walde ist's jetzt hübsch, ich war gestern beim Förster; nach dem letzten Regen stehn Holz und Blüten in vollem Saft. Wenn Sie sich nur einmal entschließen könnten, hinauszugehen.« Lenore schüttelte verneinend das Haupt. »Was ist an mir gelegen!« rief sie bitter.[726]

»Vor allem hören Sie eine Nachricht, die mir soeben der Förster zugetragen hat«, fuhr Anton fort. »Der Mann, den Ihr Schuß getroffen, war der elende Bratzky. Sie haben ihn nicht getötet. Wenn Sie sich darüber einen Vorwurf machen, von diesem Schmerz kann ich Sie befreien.«

»Gelobt sei Gott!« rief Lenore und faltete die Hände.

»Schon damals, als der Förster über Nacht zu uns ins Schloß kam, sah er, daß der Schurke mit verbundenem Arm in der Schenke saß. Gestern wurde er von dem Militär als Gefangener in Rosmin eingebracht.«

»Ja«, sagte der Förster dazutretend, »eine Kugel tut dem nichts, der denkt höher hinaus.« Er griff mit der Hand an den Hals und machte die Pantomime des Hängens.

»Es lag auf mir bei Tag und Nacht«, sagte Lenore leise zu Anton, »wie verdammt kam ich mir vor; in der Finsternis quälten mich schreckliche Traumgesichter, daß ich aus dem Schlaf auffuhr und schrie; immer sah ich den Mann vor mir, wie er die Faust ballte, hinstürzte und das Blut aus seiner Schulter floß. O Wohlfart, was haben wir erlebt!« Sie lehnte sich an die Tür und starrte mit tränenlosen Augen vor sich nieder. Vergebens suchte Anton sie zu beruhigen, sie hörte kaum seine Worte.

Der Huf eines Pferdes klapperte auf den Steinen, Finks Brauner wurde herausgeführt.

»Wo reitet er hin?« frug Lenore hastig.

»Ich weiß es nicht«, versetzte Anton, »er ist jetzt viel auswärts, ich sehe ihn tagelang nicht.«

»Was soll er auch bei uns?« rief Lenore, »das unglückliche Haus ist kein Ort für ihn.«

»Wenn er sich nur etwas in acht nehmen wollte«, sagte der Förster, »die Tarower sind giftig auf ihn, sie haben geschworen, ihm eine Kugel nachzuschicken, und er reitet immer allein und bei Nacht.« – »Es ist umsonst, ihn zu warnen«, sagte Anton. – »Sei endlich verständig, Fritz«, rief er dem Freunde zu, der aus dem Hause trat, »reite nicht so allein, wenigstens nicht über die Tarower Flur.«

Fink zuckte die Achseln. »Ah, unser Fräulein ist hier. Wir haben so lange nicht die Freude gehabt, Sie zu sehen, daß es uns hier bereits sehr langweilig geworden ist.«[727]

»Hören Sie auf die Warnung des Freundes«, erwiderte Lenore ängstlich, »und hüten Sie sich vor den bösen Menschen.«

»Wozu?« versetzte Fink; »eine respektable Gefahr ist nicht vorhanden, und vor einem dummen Teufel, der hinter einem Baum steht, kann sich in solchen Zeiten niemand bewahren, das würde zu viel Zwang auflegen.«

»Wenn Sie's nicht um Ihretwillen tun, so denken Sie an die Angst Ihrer Freunde«, bat Lenore.

»Habe ich noch Freunde?« frug Fink lachend; »manchmal ist mir's, als wären sie untreu geworden. Meine guten Freunde gehören zu der Klasse, welche sich pflichtgetreu zu beruhigen weiß. Hier unser ehrenwerter Wohlfart wird ein reines Sacktuch in die Tasche stecken und seine feierlichste Miene aufsetzen, wenn ich einmal mein Spiel verliere; und ein anderer Waffenkamerad wird sich noch leichter trösten. Heran mit dem Pferde«, rief er, schwang sich hinauf und sprengte mit kurzem Gruß davon.

»Er reitet gerade auf Tarow zu«, sagte der Förster, welcher ihm nachgesehen hatte, mit Kopfschütteln. Lenore ging schweigend in das Zimmer der Eltern zurück.

Aber am späten Abend, als die Lichter des Schlosses längst verlöscht waren, bewegte sich noch lange eine Gardine, und ein Weib lauschte angstvoll auf den Hufschlag des heimkehrenden Rosses. Stunde auf Stunde verrann, erst gegen Morgen schloß sich der Fensterflügel, als ein Reiter vor der Pforte anhielt, und eine Melodie vor sich hin trällernd, das Pferd selbst in den Stall führte. Nach einer durchwachten Nacht verbarg Lenore ihr schmerzendes Haupt in die Kissen.

So ging es durch Monate fort. Endlich kam der Freiherr, auf den Arm seiner Tochter und auf einen Stab gestützt, wieder manchmal herunter ins Freie, dann saß er entweder schweigsam im Schatten der Schloßmauer oder er hörte mit galliger Laune auf jede Kleinigkeit, die ihm zu schelten möglich machte. In solchen Stunden bogen die Leute gern in weitem Umweg aus, um ihm nicht zu nahe zu kommen, und da Anton dies nicht tat, so war er nicht selten das Opfer, über dem sich die Verstimmung des Freiherrn Luft machte. Antons Verhältnis zu dem Kranken wurde bald so lästig, daß nur ein ungewöhnlicher Grad von Geduld darüber weghelfen konnte. Täglich mußte der Freiherr hören,[728] daß die Leute bei seinen Querfragen sich damit entschuldigten, »Herr Wohlfart hat es so befohlen«, oder, »der Herr Rentmeister hat das nicht gewollt«, mit Eifer suchte er die Aufträge, welche Anton gegeben hatte, durch seine Willensäußerung zu stören; aller Groll, alle Gehässigkeit, die sich in der Seele des Unglücklichen aufgesammelt hatte, konzentrierte sich in ein schwächliches Gefühl des Hasses gegen seinen Bevollmächtigten.

Fink kümmerte sich jetzt wenig um den Freiherrn, wenn er das Gezänk mit Anton bemerkte, verzog er schweigend die Augenbrauen und sagte höchstens: »Es mußte so kommen.« Am besten kam noch Karl mit dem Freiherrn aus; er nannte ihn nie anders, als Herr Rittmeister, und schlug kriegerisch mit den Absätzen zusammen, so oft er ihm eine Meldung machte; das hörte der blinde Herr, und das tat ihm wohl. Und das erste Zeichen von Teilnahme, welches der Freiherr für das Befinden Fremder zeigte, wurde dem Amtmann zuteil. Ein Gartenstuhl war in der Sonne eingetrocknet und drohte auseinanderzufallen, Karl ergriff im Vorübergehn den Stuhl und schlug ihn mit der geballten Hand zusammen. »Sie schlagen doch nicht mit Ihrer rechten Hand, lieber Sturm?« frug der Freiherr.

»Wie's kommt, Herr Rittmeister«, erwiderte Karl.

»Das sollten Sie nicht tun«, ermahnte der Blinde, »eine solche Wunde will geschont sein, es setzt sich manchmal nach Jahren eine Krankheit hinein. Sie sind gar nicht sicher, ob das nicht in späterer Zeit auch bei Ihnen der Fall sein wird.«

»Lustig gelebt und selig gestorben, Herr Rittmeister«, erwiderte Karl, »ich sorge nicht um die Zukunft.«

»Er ist ein sehr brauchbarer Mensch«, sagte der Freiherr zu seiner Tochter.

Die Ähren der Halmfrüchte blühten ab, die grünen Felder überzogen sich mit hellem Gelb, das fröhliche Geräusch der Ernte begann. Als der erste Erntewagen in den Hof rollte, stand Anton bei der Scheuer und überwachte das Einbringen. Da trat Lenore zu ihm: »Wie wird die Ernte?«

»So weit wir in diesem Jahr ernten können, sind die Aussichten nicht schlecht. Wenigstens mit der Garbenzahl ist Karl zufrieden, sie scheint größer zu werden, als unser Anschlag war«, erwiderte Anton vergnügt.[729]

»So haben Sie doch eine Freude, Wohlfart«, sagte Lenore.

»Es ist eine Freude für alle auf dem Hofe, Sie sehen's aus der rührigen Geschäftigkeit der Leute. Auch der Träge arbeitet jetzt mit doppelter Kraft. Wenn aber ich mich freue, so ist's auch über Ihre Frage. Sie sind dem Hofe und allem, was zum Gut gehört, so fremd geworden.«

»Ihnen nicht, mein Freund«, sagte Lenore niedersehend.

»Sie selbst müssen krank werden«, fuhr Anton eifrig fort. »Wenn ich dürfte, möchte ich Sie schelten, daß Sie die ganze Zeit so wenig an sich selbst gedacht haben. Ihr kleines Pferd ist im Stall steif geworden, Karl muß manchmal darauf reiten, damit es das Laufen nicht verlernt.«

»Mag es dahingehn, wie alles andere«, rief Lenore, »ich werde mich nicht wieder darauf setzen. Haben Sie Mitleid mit mir, Wohlfart, mir ist manchmal, als verlöre ich die Besinnung, es ist mir alles auf der Welt gleichgültig geworden.«

»Wozu so hart, Fräulein?« sprach eine spöttische Stimme hinter ihr. Lenore schrak zusammen und wandte sich um. Fink, der länger als eine Woche verreist gewesen, trat zu ihnen. »Mache, daß du den Blasius wegjagst«, sagte er zu Anton, ohne sich weiter um Lenore zu kümmern; »der Schlingel ist schon wieder betrunken, er peitscht in die Pferde, daß die armen Tiere mit Schwielen bedeckt sind. Ich hatte große Lust, seinen Pferden eine Satisfaktion zu verschaffen und ihn vor ihren Augen abzustrafen.«

»Habe Geduld bis nach der Ernte«, erwiderte Anton, »wir können ihn jetzt nicht ersetzen.«

»Ist er nicht sonst ein gutmütiger Mensch?« frug Lenore schüchtern. »Gutmütigkeit ist ein bequemer Titel für alles mögliche Ungesunde«, erwiderte Fink. »Bei den Männern heißt's gutmütig und bei den Frauen gefühlvoll.« Er sah Lenore an. »Was hat das arme Geschöpf der Pony, verschuldet, daß Sie ihn nicht mehr reiten wollen?«

Lenore errötete, als sie zur Antwort gab: »Das Reiten hat mir Kopfschmerz gemacht.«

»Ei«, spottete Fink, »Sie hatten sonst den Vorzug, weniger weich zu sein; ich kann nicht sagen, daß dies larmoyante Wesen Ihnen zuträglich ist, Sie werden den Kopfschmerz dabei nicht verlieren.«[730]

Lenore wandte sich gedrückt zu Anton: »Sind die Zeitungen angekommen? Ich kam, Sie für den Vater darum zu bitten.«

»Der Bediente hat sie in das Zimmer der Frau Baronin getragen.«

Lenore wandte sich mit einer Verbeugung ab und ging nach dem Schlosse zurück.

Fink sah ihr nach und sagte zu Anton: »Schwarz kleidet sie nicht, sie sieht ganz verstört aus. Es ist eins von den Gesichtern, die nur gefallen, wenn sie stattliche Fülle haben.«

Anton blickte finster auf seinen Freund. »Dein Benehmen gegen das Fräulein war in den letzten Wochen so auffallend, daß ich mich oft darüber geärgert habe. Ich weiß nicht, ob es in deiner Absicht liegt, aber du behandelst sie mit einer Nachlässigkeit, die nicht sie allein verletzt.«

»Sondern auch dich, Master Wohlfart«, sagte Fink und sah den Zürnenden groß an. »Ich habe nicht gewußt, daß du auch die Duenna dieses Fräuleins bist.«

»Diese Sprache hilft dir nichts«, versetzte Anton ruhiger. »Ich habe recht, wenn ich dich erinnere, daß du schlimmer als unzart gegen ein ehrliches Gemüt handelst, das jetzt jede Rücksicht mit doppeltem Recht verlangen kann.«

»Habe du die Güte, ihr diese Rücksicht zu gönnen, und kümmere dich nicht um meine Weise«, erwiderte Fink kurz.

»Fritz«, rief Anton, »ich verstehe dies Wesen nicht, es ist wahr, du bist rücksichtslos –«

»Hast du das so oft erfahren?« unterbrach ihn Fink.

»Nein«, erwiderte Anton, »wenn du es gegen andere warst, mir hast du dich immer gezeigt, wie du im Herzen bist, hochgesinnt und voll Teilnahme, aber eben deshalb tut mir weh, mehr als ich sagen kann, daß du gegen Lenore so verändert bist.«

»Darum laß mich«, versetzte Fink, »jeder hat seine eigene Weise, Vögel abzurichten. Nur nebenbei laß dir sagen, wenn dein Fräulein Lenore nicht aus diesem kränklichen Leben aufgerüttelt wird, so geht das Beste an ihr in kurzer Zeit zum Teufel. Der Pony allein wird's nicht tun, das weiß ich, aber du, mein Sohn, mit deiner wehmütigen Teilnahme wirst's auch nicht tun. Und so wollen wir den Dingen ihren Lauf lassen. – Ich gehe heut noch nach Rosmin, hast du etwas zu bestellen?«[731]

Diese Unterredung brachte zwar keine Entfremdung zwischen den Freunden hervor, aber sie wurde wenigstens von Anton nicht vergessen. Er zürnte in der Stille der herrischen Weise des andern und beobachtete unruhig jedes zufällige Zusammentreffen desselben mit Lenore. Fink suchte und vermied das Fräulein nicht. Die Familienabende wurden nicht wieder eingerichtet, auch als der Herbst herankam. Wenn Fink auf dem Gut war, speiste er mit Anton auf seinem Zimmer, und nur im Freien traf er mit Lenoren zusammen. Dann sah man ihrem Benehmen den Zwang an, und Fink behandelte sie seit der Unterredung mit Anton wie eine Fremde.

Anton selbst sollte über seine eigne Stellung Erfahrungen machen. Sosehr er vermied, dem Freiherrn Unangenehmes mitzuteilen, so gab es doch etwas, was er ihm nicht länger ersparen konnte, die Regulierung der Schulden, welche der verstorbene Sohn gemacht hatte. Denn bald nach dem Tode desselben waren zahlreiche Briefe mit eingeschlossenen Forderungen auf dem Schlosse angekommen. Lenore hatte sie Anton übergeben und Anton hatte alle, unter ihnen auch den Schuldschein Sturms, an den Justizrat Horn geschickt und von diesem redlichen Mann ein Gutachten und eine genauere Ermittelung der Forderungen erbeten. Das Gutachten war jetzt angekommen. Der Jurist verbarg ihm nicht, daß der Schuldschein, welchen der junge Rothsattel dem Auflader ausgestellt hatte, in der Form so fehlerhaft war, daß er vor Gericht nur als eine Quittung über empfangenes Geld betrachtet werden konnte. Eine gesetzliche Verpflichtung des Freiherrn, für den Sohn zu zahlen, war nicht vorhanden. Die Summe der Schulden war so groß, daß eine augenblickliche Tilgung ganz unmöglich war. Und Anton selbst hatte dem jungen Verschwender mehr als achthundert Taler geliehen. Als er den Schuldschein Eugens aus seinen Papieren heraussuchte, sah er lange auf die Züge des Verstorbenen. Das war die Summe, durch welche sein eitler Sinn ihn in das Leben der Familie eingekauft hatte. Und was hatte ihm dieser Kauf gebracht? Damals war ihm eine Ehrensache gewesen, seinem vornehmen Freund aus der Verlegenheit zu helfen, jetzt erkannte er, wie vorschnell er es dem Leichtsinnigen leichtgemacht hatte, Geld zu erhalten. Finster verschloß er den eignen Schein wieder in die Schublade.[732]

Mit schwerem Herzen ließ er den Freiherrn um eine Unterredung ersuchen. Schon bei der ersten Erwähnung seines Sohnes geriet der Freiherr in heftige Bewegung, und als Anton in seinem Eifer den Verstorbenen kurzweg beim Vornamen nannte, erhob sich die Galle in dem verletzten Vater. Er unterbrach die Rede Antons durch die heftigen Worte: »Ich verbitte mir diese familiäre Bezeichnung meines verstorbenen Sohnes, lebend oder tot, ist er für Sie immer der Freiherr von Rothsattel.«

Anton erwiderte an sich haltend: »Herr Eugen, Freiherr von Rothsattel, hat bei seinen Lebzeiten etwas über viertausend Taler Schulden gemacht.«

»Das ist unmöglich«, unterbrach ihn der Freiherr.

»Die beglaubigten Abschriften der Schuldscheine und Wechsel, sowie die Einsicht in die Originaldokumente, welche Justizrat Horn gefordert hat, machen die Tatsache selbst unzweifelhaft. Bei neunzehnhundert Talern, dem größten Posten, ist die Wahrheit der vollen Zahlung um so weniger zu bezweifeln, als der Vater des Amtmann Sturm, welcher das Darlehen gemacht hat, ein Mann von der größten Redlichkeit ist. Ein Brief des Verstorbenen an mich erkennt diese Schuld ausdrücklich an.«

»Sie also haben von diesen Schulden gewußt«, rief der Freiherr in steigendem Zorn, »und Sie haben mir ein Geheimnis daraus gemacht? Ist das Ihre vielgepriesene Treue?«

Vergebens setzte ihm Anton die nähern Umstände auseinander, der Freiherr hatte die Herrschaft über seine Empfindungen verloren. »Schon längst habe ich erkannt«, rief er laut, »wie eigenmächtig Ihr ganzes Verfahren ist. Sie benutzen meinen Zustand, um die Disposition über mein Vermögen zu erhalten, Sie machen Schulden, Sie lassen Schulden machen, Sie ziehen Geld ein, Sie verrechnen mir, was Ihnen gut dünkt.«

»Sprechen Sie nicht weiter, Herr Freiherr«, rief Anton mit starker Stimme. »Nur das Mitleid mit Ihrer Hilflosigkeit verbietet mir, Ihnen die Antwort zu geben, welche Sie in diesem Augenblick verdienen. Wie groß dies Mitgefühl ist, mögen Sie daraus sehn, daß ich mich bemühen will, Ihre Rede zu vergessen, und daß ich Sie jetzt um Ihre Erklärung bitte: Wollen Sie die Schulden, welche der Verstorbene gemacht hat, anerkennen, und wollen Sie namentlich dem Auflader Sturm oder seinem Sohn, Ihrem[733] Amtmann, durch diese Anerkennung eine Sicherheit geben, oder wollen Sie es nicht tun?«

»Nichts will ich tun«, rief der Freiherr außer sich, »was Sie mit solcher Prätension von mir fordern.«

»Dann ist es unnütz, jetzt weiter mit Ihnen zu sprechen. Ich bitte Sie, Herr Freiherr, noch einmal die Angelegenheit zu überlegen, bevor Sie Ihren letzten Entschluß aussprechen. Ich werde mir die Ehre geben, heut abend Ihre Entscheidung entgegenzunehmen. Ich hoffe, daß bis dahin Ihr Gerechtigkeitsgefühl den Sieg über eine Verstimmung davontragen wird, deren Gegenstand ich nicht zum zweitenmal zu werden wünsche.«

Mit diesen Worten verließ er den Freiherrn und hörte noch, wie dieser im Zorn einen Stuhl umwarf und an die Möbel stieß. Kaum war er in seinem Zimmer angekommen, so erschien der vertraute Diener und forderte im Auftrage des Freiherrn die Akten und Rechnungsbücher, welche Anton bis dahin in seinem Zimmer aufbewahrt hatte. Schweigend übergab Anton die Papiere dem erschrockenen Mann.

Er war entlassen, in der rohesten Weise entlassen, seine Redlichkeit war bezweifelt, dieser Bruch war unheilbar. Wohl mochte der Freiherr andern Sinnes werden, und Anton wußte, nach wenigen Stunden würden die Vorstellungen der Frauen den kranken Mann umstimmen; aber für ihn selbst gab es keine Rückkehr, er mußte fort. Welche Pflichten er auch gegen die Baronin und Lenore übernommen, jetzt sprach die Pflicht, die er gegen sich selbst hatte, lauter als jede andere. Bitter war diese Stunde. Schon jetzt, wo er zornig in seinem Zimmer auf und ab schritt, fühlte er, daß in der Beleidigung, die ihm zugefügt wurde, auch eine Strafe für ihn selbst lag. Rein war sein Wille, und unsträflich sein Tun gewesen, aber die enthusiastischen Gefühle, die ihn in dieses Haus geführt, hatten nicht vermocht, zwischen ihm und dem Freiherrn ein sittliches Verhältnis, das des Arbeitgebers und des Arbeiters, zu begründen. Nicht der freie Wille beider und nicht verständiger Entschluß hatte sie verbunden, sondern der Zwang unklarer Verhältnisse und seine eigene jugendliche Schwärmerei. Diese gaben ihm selbst Ansprüche, die größer waren, als seine Stellung, und dem andern einen Druck, der ihn einengte und schwächer machte.[734]

In diesen Gedanken wurde er durch Lenore unterbrochen, welche hastig in sein Zimmer trat. »Meine Mutter wünscht Sie zu sprechen«, rief sie. »Was werden Sie tun, Wohlfart?«

»Ich muß gehn«, sagte Anton ernst. »Daß ich Sie verlassen muß in dieser Lage, Ihre Zukunft so unsicher, das hätte ich niemals für möglich gehalten. Nichts gab es, das mich hätte bewegen können, von hier zu scheiden, bevor ich stärkeren Händen die Verwaltung des Gutes übergeben konnte, nichts als eines. Und dies eine ist jetzt eingetreten.«

»Gehen Sie«, rief Lenore außer sich. »Alles stürzt über uns zusammen, es gibt keine Hilfe, auch Sie können uns nicht retten, gehen Sie und lösen Sie Ihr Leben von den Sinkenden.«

Als Anton bei der Baronin eintrat, lag die Leidende auf dem Sofa. »Setzen Sie sich zu mir, Herr Wohlfart«, sagte sie leise. »Es ist die Stunde gekommen, wo ich Ihnen etwas mitteilen muß, was ich um meinetwillen für die Zeit aufgespart habe, wo man am offenherzigsten miteinander spricht, auf die letzte Stunde des Zusammenseins. Der Freiherr ist durch seine Krankheit so weit gekommen, daß er Ihre treue Hilfe nicht mehr versteht. Ja Ihre Gegenwart verschlimmert den unglücklichen Zustand, worin er sich befindet, mit jedem Tage. Er hat in seiner Aufwallung Ihr Zartgefühl so sehr verletzt, daß ich eine Versöhnung nicht mehr für möglich halte. Er würde durch Ihre Anwesenheit von jetzt ab nicht in der Einbildung, sondern in Wahrheit gedemütigt werden. Auch wir würden das Opfer, welches Sie uns von heut ab bringen müßten, für zu groß halten, als daß wir es annehmen könnten, selbst wenn Sie vergessen wollten.«

»Ich habe die Absicht, in den nächsten Tagen dies Gut zu verlassen«, entgegnete Anton.

»Was mein Mann gegen Sie versehen, kann ich nicht gutmachen, aber ich wünsche Ihnen eine Gelegenheit zu geben, sich an dem Freiherrn in der Weise zu rächen, welche Ihrer würdig ist. Der Freiherr hat Ihre Ehre angegriffen; die Rache, welche ich, seine Frau, Ihnen dafür biete, ist die, daß Sie ihm seine eigene Ehre zu retten suchen.«

Sie hatte ruhig gesprochen, die Worte glitten ihr von den Lippen, wie bei der Unterhaltung in großer Gesellschaft, jetzt hielt sie an und suchte die Worte. »Er hat vor Jahren sein Ehrenwort[735] gegeben, eine Verpflichtung zu erfüllen, und hat in einem verzweifelten Augenblick sein Wort gebrochen. Die Beweise, daß er das getan hat, sind wahrscheinlich in der Hand gemeiner Menschen, welche ihr Wissen benutzen können, ihn zu verderben. Daß ich Ihnen dies gerade jetzt mitteile, wird Ihnen ein Beweis sein, wie ich Ihr Verhältnis zu unserm Hause ansehe.« Sie zog einen Brief aus den Kissen. »Mit diesem Brief lege ich seine und unser aller Zukunft in Ihre Hand; wenn einer uns davor schützen kann, daß seine Verfolger diese Waffe gegen ihn gebrauchen, so werden Sie es tun; wenn es noch möglich ist, seinem verstörten Gemüt einigen Frieden zurückzugeben, so werden Sie es tun.« Sie streckte ihre Hand aus und übergab Anton den Brief.

Anton trat an das Fenster und sah mit Erstaunen ein Schreiben Ehrenthals. Zweimal mußte er es durchlesen, bevor er den Sinn erriet. Es war eine zitternde Hand und es war ein ungeordneter Geist, welche die Feder geführt hatten. In einer hellen Stunde war dem kindischen Mann sein Verhältnis zu dem Edelmann in die Seele gefallen. In der Angst um seine Kapitalien erinnerte er ihn an die gestohlenen Schuldscheine, er forderte das Geld von ihm und drohte. Und dazwischen kamen wieder Klagen über die eigene Schwäche und die Bosheit anderer Menschen. Was der verworrene Brief nicht offenbarte, wurde klar durch die Abschrift eines Schuldscheins, wahrscheinlich nach einem Konzept, welches Ehrenthal und der Freiherr zusammen gemacht hatten, denn Ehrenthal erwähnte in dem Briefe, das Original sei von der Hand des Freiherrn, und er werde es gegen ihn benutzen.

Anton faltete den Brief zusammen und sagte: »Die Drohungen wenigstens, welche er an die mitgeteilte Abschrift knüpft, dürfen Sie, Frau Baronin, nicht beunruhigen; es ist gar keine Unterschrift des Freiherrn unter dem Entwurf, und Ehrenthal, so unklar der Brief auch sonst ist, würde die Unterschrift nicht vergessen haben. Auch ist die Summe, zu welcher dieser einzelne Schein den Freiherrn verpflichten könnte, nicht bedeutend.«

»Und glauben Sie, daß der Brief die Wahrheit erzählt?« frug die Baronin.

»Ich glaube daran«, sagte Anton; »dies Schreiben erklärt mir manches, was ich bis jetzt nicht verstand.«

»Ich weiß, daß er Wahres enthält«, sprach die Baronin so leise,[736] daß ihre Worte kaum bis zu Antons Ohr drangen. »Wie ich zu dieser Gewißheit gekommen bin, nach und nach, das gehört nicht hierher.« Ein matter Schimmer von Rot legte sich auf ihre Wangen.

»Und Sie, Herr Wohlfart, wollen Sie übernehmen, für uns die gestohlenen Papiere zurückzuschaffen?« frug sie sich aufrichtend.

»Ich will«, sprach Anton ernst. »Aber meine Hoffnungen sind gering. An die gestohlenen Schuldscheine hat gegenwärtig der Freiherr noch gar kein Recht, sie gehören Ehrenthal, und es ist vor allem eine Verständigung mit diesem notwendig. Sie wird schwierig sein. Außerdem kann ich noch nicht einmal das Sachverhältnis genau übersehen, und ich fürchte, ich werde auch Sie bemühen müssen, mir alles, was Sie etwa über den Diebstahl selbst erfahren können, mitzuteilen.«

»Ich werde versuchen, Ihnen zu schreiben«, sagte die Baronin. »Zeichnen Sie mir genau auf in bestimmten Fragen, was Sie wissen müssen, Sie sollen Antwort haben, so genau ich sie Ihnen geben kann. Welchen Erfolg auch Ihre Mühe haben mag, ich danke Ihnen im voraus aus voller Seele dafür. Wie groß Ihre Tätigkeit für unser Wohl auch hier gewesen ist, die größte können Sie uns jetzt beweisen. Die Schuld, welche unser Haus gegen Sie hat, werden wir Ihnen niemals bezahlen. Wenn der Segen einer Sterbenden ein freundliches Licht auf Ihre Zukunft werfen kann, so nehmen Sie ihn mit auf Ihren Weg.«

Anton erhob sich.

»Wir sehen uns nicht mehr wieder«, sagte die Kranke, »in dieser Stunde nehmen wir Abschied. Leben Sie wohl, Wohlfart, für diese Erde sehe ich Sie zum letzten Male.« Sie hielt ihm ihre Hand hin, Anton beugte sich darauf und verließ bewegt, mit einer tiefen Verbeugung das Zimmer.

Ja, sie verdiente eine Edelfrau zu heißen. Adlig war ihr Sinn, nicht klein ihr Urteil über andere, und vornehm war die Art, wie sie Antons Diensteifer belohnte. Sehr vornehm! Er hatte in ihren Augen immer eine weiße Perücke und silberne Knieschnallen getragen.

Gegen Abend klirrte Finks Tritt auf dem Korridor, gleich darauf trat er in das Zimmer des Freundes. »Hallo! Anton, was ist[737] hier im Hause los? Johann schleicht so scheu herum, als hätte er die größte Porzellanvase zerbrochen, und als die alte Babette mich sah, rang sie die Hände!«

»Ich muß dies Haus verlassen, mein Freund«, sagte Anton finster, »ich habe heut mit dem Freiherrn eine peinliche Szene gehabt.« Er erzählte ihm, was vorgefallen, er erwähnte die Unterredung mit der Baronin, so weit er dies ohne Indiskretion durfte, und schloß mit den Worten: »Nie war die Lage der Familie so verzweifelt, als grade jetzt. Sie braucht jetzt wieder die freie Disposition über zwanzigtausend Taler, um ein neues Unheil abzuwehren!«

Fink warf sich auf einen Stuhl. »Vor allem hoffe ich, daß du diese schöne Gelegenheit, dich zu ärgern, so wenig als möglich benutzt hast. Über die Szene selbst wollen wir untereinander kein Wort verlieren, der Freiherr ist nicht zurechnungsfähig. Und im Vertrauen gesagt, der Vorfall überrascht mich nicht. Daß so etwas kommen würde, war vorauszusehn, daß du in diesem sentimentalen Verhältnis nicht bleiben konntest, habe ich den ganzen Sommer erwartet. Ebenso klar ist, daß du als Beichtvater der Frauen und vertrauter Geschäftsführer der Familie den Leuten hier unentbehrlich bist. Und daß mir dein plötzlicher Abgang einen dicken Strich durch mehrere Rechnungen macht, brauche ich dir nicht zu sagen. Zuerst also die Frage: Was wirst du selbst tun?«

»Ich reise so bald als möglich nach unsrer Hauptstadt«, erwiderte Anton. »Dort werde ich noch einige Monate im Interesse der Rothsattel zu tun haben. Mein Dienstverhältnis ist vom heutigen Tage gelöst; sobald das Familiengut des Freiherrn verkauft ist, betrachte ich auch die moralische Verpflichtung, die ich gegen die Familie eingegangen bin, als völlig aufgehoben.« – »Gut«, sagte Fink, »das ist in der Ordnung. Wenn du überhaupt noch eine Feder für diese Leute ansetzen willst, so kann das jetzt nur so geschehn, daß du ihnen als freier Mann dein Mitgefühl gönnst. Ein anderer Punkt ist, daß Rothsattel durch seine Torheit auch hier in eine Krisis gekommen ist. Denn ohne dich kann es in der alten Weise auf dem Gut nicht vier Wochen fortgehn. Jetzt entsteht die Frage, Meister Anton, was soll hier werden?«

»Ich habe den ganzen Tag darüber gesonnen«, erwiderte Anton,[738] »ich weiß nicht. Es gibt nur eine Möglichkeit: daß du selbst den Teil meiner Geschäfte übernimmst, den Karl nicht besorgen kann.«

»Ich danke«, sagte Fink, »dir für das gute Zutrauen, und im übrigen für das freundliche Anerbieten. Einem Narren, der noch nicht unter Kuratel steht, die Geschäfte besorgen, heißt sich selbst zum Narren machen. Nimm mir das nicht übel. Du bist ein solcher guter Narr gewesen, ich habe nicht das Zeug dazu. Nach acht Tagen würde ich in der unangenehmen Lage sein, den Mann malträtieren zu müssen. Weißt du keinen andern Rat?«

»Keinen«, rief Anton. »Wenn du dich nicht dieses Guts mit aller Kraft annimmst, so verdirbt, was wir in diesem Jahre eingerichtet haben, und unsre deutsche Kolonie geht zu Grunde. Das Gut fällt wahrscheinlich den Seitenverwandten des vorigen Besitzers zu, welche die Hauptforderung darauf haben, und die alte polnische Wirtschaft fängt wieder an.«

»So ist's«, sagte Fink.

»Und du, Fritz«, fuhr Anton fort, »bist durch dein Verhältnis zu mir mit deinem Geld hier hereingezogen worden, auch du bist in Gefahr, Verluste zu erleiden.«

»Richtig«, sagte Fink, »gesprochen wie ein Buch. Du läufst weg und läßt mich mit meiner Bande unter den Schlachtschitzen zurück. – Weißt du was, erwarte mich hier, ich will erst einige Worte mit Lenore sprechen.«

»Was willst du tun?« rief Anton, ihn festhaltend.

»Keine Liebeserklärung machen«, erwiderte Fink lachend, »verlaß dich darauf, mein Junge.« Er klingelte dem Bedienten und ließ Fräulein Lenore zu einer Unterredung in das Gesellschaftszimmer bitten.

Als Lenore eintrat, mit verweinten Augen, nur mit Mühe ihre Fassung behauptend, ging er ihr artig entgegen und führte sie zu dem Sofa.

»Ich enthalte mich gegen Sie jedes Urteils über das, was heut vorgegangen ist«, begann er. »Wir wollen annehmen, daß meines Freundes Aufenthalt in der Hauptstadt in Ihrem Interesse noch wünschenswerter ist, als ein Verweilen im Gut. Nach allem, was ich höre, ist dies in der Tat der Fall. Wohlfart wird übermorgen abreisen.«[739]

Lenore verbarg ihr Gesicht hinter der Hand. Fink fuhr kaltblütig fort: »Unterdes erfordert mein eigner Vorteil, daß ich mich um eine Sicherung der hiesigen Verhältnisse bemühe. Ich habe mehrere Monate hier gelebt und einigen Anteil an dieser Besitzung gewonnen. Deshalb bitte ich Sie, der Bote einer Mitteilung zu werden, die ich in diesem Augenblick am liebsten durch Sie Ihrem Herrn Vater mache. Ich bin bereit, dem Freiherrn dies Gut für mich selbst abzukaufen.«

Lenore fuhr zusammen und stand von ihrem Sitz auf. Mit gerungenen Händen rief sie: »Zum zweitenmal!«

»Haben Sie die Güte, mich ruhig anzuhören«, fuhr Fink fort. »Ich beabsichtige durchaus nicht, gegenüber dem Freiherrn von Rothsattel die Rolle eines rettenden Engels zu spielen, ich habe weniger von einem Flederwisch auf dem Rücken, als unser geduldiger Anton, und vollends jetzt fühle ich mich durchaus nicht veranlaßt, Ihrem Herrn Vater etwas anzubieten, was irgendwie als leichtsinnige Behandlung meines eignen Vorteils erscheinen könnte. Betrachten Sie in dieser Stunde uns als Gegner, und meinen Antrag, wie er ist, als in meinem eignen Interesse gemacht. Mein Anerbieten ist folgendes. Der Kaufpreis dieses Gutes würde, wenn ihn der Freiherr so berechnen wollte, daß er selbst keine Verluste leidet, jetzt mehr als hundertundsechzigtausend Taler betragen. Ich biete Ihnen das Höchste, was das Gut nach meiner Ansicht in der gegenwärtigen Zeit wert sein mag; Übernahme der Gutsschulden und Auszahlung von zwanzigtausend Talern an den Freiherrn binnen vierundzwanzig Stunden; nach Ablauf dieser Frist wird das Gut an mich übergeben. Bis zu nächstem Ostern wünsche ich das Schloß in Ihren Händen zu lassen und würde, wenn dies ohne beiderseitige Inkonvenienz geschehen kann, mich bis dahin gern als Ihren Gast betrachten. Ich werde in der Regel abwesend sein und Ihnen nicht zur Last fallen.«

Lenore sah ängstlich in sein Gesicht, welches in diesem Augenblick hart aussah, wie das eines zähen Yankee; der Rest ihrer Fassung fiel zusammen, sie brach in dem Widerstreit stürmischer Gefühle in Tränen aus.

Fink lehnte sich ruhig in seinen Stuhl zurück, und ohne Rücksicht auf diese Stimmung fuhr er fort: »Sie sehen, ich biete Ihnen[740] einen Verlust, was ich Ihnen nehmen will, ist wahrscheinlich die Hälfte Ihres Erbes, es ist in der Ordnung, daß Sie das verlieren. Der Freiherr hat zu schnell sein Vermögen an dieses Gut gewagt; daß Ihre Familie diesen Mangel an Vorsicht bezahlt, wird nicht zu vermeiden sein. Denn höher, als mein Gebot, ist der Kaufwert des Gutes in seiner gegenwärtigen Verfassung sicher nicht. Ich würde unehrlich sein, wenn ich Ihnen verschweigen wollte, daß das Gut bei zweckmäßiger Behandlung in einigen Jahren das Doppelte wert sein kann, ich habe aber die feste Überzeugung, daß es unter Verwaltung des Freiherrn diesen Wert niemals erhalten wird. Wäre Anton hier geblieben, so hätte nicht er, aber die Verhältnisse hätten es möglich gemacht, Ihnen dies Vermögen zu erwerben. Jetzt ist auch diese Hoffnung für Sie dahin. Ich verberge Ihnen ferner nicht, Wohlfart hat mir soeben die Forderung gestellt, daß ich an seine Stelle treten soll.«

Lenore machte noch in ihrem Schluchzen mit der Hand eine abwehrende Bewegung.

»Es freut mich«, fuhr Fink fort, »daß wir hierin einerlei Meinung sind; ich habe dies Anerbieten sehr bestimmt und für immer zurückgewiesen.« So schwieg er und sah prüfend auf das Mädchen vor ihm, welchem seine Worte das Herz zerrissen. Er sprach so rauh zu ihr, der Mann, für den sie alles getan hätte, um ein Lächeln, einen freundlichen Blick zu erhalten. Mit schlecht verhehlter Verachtung redete er von ihrem Vater, seine Worte waren die eines starren Egoisten. Und doch, als der herbe Ton, in dem er sprach, in der Stube verhallt war, fiel ihr in die Seele, daß sein Anerbieten für ihre hilflose Lage immer noch ein Glück sein konnte. Und mit der Sehergabe eines liebenden Herzens ahnte sie hinter dem Antrag eine Meinung, die sie nicht verstand, die ihr aber wie ein ferner Hoffnungsstrahl in die Tiefe ihres Schmerzes leuchtete. Wie er sich auch stellte, es war kein gemeiner Sinn, der aus seiner Weise hervorbrach. Das krampfhafte Schluchzen löste sich in ein heftiges Weinen, sie versuchte sich vom Sofa zu erheben und glitt hinunter auf den Boden. So lag sie neben seinem Stuhl und stützte ihr Haupt auf die Lehne, ein Bild der leidenden Hingebung. Und unter strömenden Tränen sprach sie: »Sie täuschen mich nicht, machen Sie mit uns, was Sie wollen.«

Das stolze Lächeln flog über das Gesicht des Mannes, er beugte[741] sich zu ihr nieder, schlang seinen Arm um ihr Haupt, drückte einen Kuß auf ihr Haar und sagte: »Mein Kamerad, ich will, Sie sollen frei werden.« Lenorens Haupt glitt an seine Brust, sie weinte ruhig fort, er hielt sie in seinem Arm. Endlich faßte er ihre Hand und schüttelte sie herzlich. »Wir beide wollen von heut ab einander verstehn. Sie sollen frei werden, Lenore, mir gegenüber frei, und frei von allem andern, was Sie hier einengt. Sie verlieren einen Mann, der die aufopfernde Zärtlichkeit eines Bruders für Sie gehabt hat, und mir ist's recht, daß er sich von Ihnen löst. Ich frage heut nicht, wollen Sie als mein Weib sich an mein Leben binden? Denn Sie haben jetzt nicht die Freiheit, nach Ihrem Herzen zu entscheiden. Ihr Stolz soll nicht nein sagen, und das Ja soll Ihre Selbstachtung nicht verringern. Wenn der Fluch gelöst ist, welcher über Ihrem Hause liegt, und wenn es Ihnen freisteht, bei mir zu bleiben oder zu gehn, dann hole ich mir Bescheid. Bis dahin ehrliche Freundschaft, mein Kamerad.«

Lenore erhob sich.

»Und jetzt denken wir an nichts, als an unser Gut«, sagte Fink in verändertem Ton; »trocknen Sie die Tränen, die ich in Ihrem großen Auge sehr ungern sehe, und teilen Sie die offizielle Hälfte meines Antrags dem Freiherrn und Ihrer Mutter mit. Wenn nicht eher, erbitte ich mir morgen um diese Zeit Antwort.«

Lenore ging zur Tür, dort blieb sie stehn, sie wandte sich noch einmal nach ihm um und reichte ihm schweigend die Hand.

Langsam schritt Fink in Antons Zimmer zurück. Er trat zu dem Freund, der mit verschränkten Armen am Fenster stand und auf die Felder sah, welche im Dämmerlicht des Mondes vor ihm lagen. »Erinnerst du dich an das, Anton, was du am Tage meiner Ankunft von deinem Patriotismus erzählt hast?«

»Es war ja seit der Zeit oft die Rede davon«, erwiderte Anton trübe.

»Ich habe mir's gemerkt«, fuhr Fink fort. »Dies Gut soll nicht wieder unter den Zepter eines Herrn Bratzky kommen. Ich kaufe die Herrschaft, wenn der Freiherr will.«

Anton wandte sich überrascht um. »Und Lenore?«

»Sie teilt das Schicksal ihrer Eltern, wir haben das soeben miteinander abgemacht.« Er erzählte dem Freund von seinem Anerbieten.[742]

»Jetzt hoffe ich, daß alles gut wird«, rief Anton.

»Warten wir's ab«, sagte Fink. »Drüben brennt jetzt ein Fegefeuer für den Sünder; es ist mir lieb, daß ich seinen Jammer nicht anhören darf.«

Am nächsten Morgen in der Frühe brachte der Bediente jedem der Freunde einen Brief aus dem Zimmer des Freiherrn; sie waren von Lenores Hand, ihr Vater hatte in zitternden Zügen unterschrieben. In dem Briefe an Anton bat der Freiherr mit sorgfältig gewählten Worten um Vergebung, daß er ihn in einer krankhaften Aufwallung verletzt habe, und sprach seinen Dank für die treuen Dienste aus, die er ihm bis jetzt geleistet; in dem Briefe an Fink nahm er das Anerbieten an und bat ihn, den Schreiber, so schnell als möglich von der Sorge zu befreien, die ihm die Verwaltung des Gutes bei seiner Krankheit machen müsse. Schweigend tauschten die Freunde diese Zuschriften gegen einander aus.

»So ist es entschieden«, rief endlich Fink; »ich bin die halbe Welt durchlaufen und hatte überall etwas auszusetzen, und jetzt wühle ich mich in diese Sandgrube ein, wo ich gegen die polnischen Wölfe allnächtlich ein Feuer anzünden möchte. Du aber, Anton, erhebe dein Haupt und sieh vor dich, denn wenn ich jetzt eine Heimat gefunden habe, auch du gehst dorthin zurück, wo der beste Teil deines Herzens ist.«

»Und deshalb, mein Junge, laß uns noch einmal deine Instruktion überlegen. Du hast die Aufgabe, gewisse gestohlene Papiere zu ermitteln. Denke auch an die zweite. Tu, was du kannst, um der Familie das wenige, was sie hier gerettet hat, zu sichern. Sieh zu, daß das alte Gut der Rothsattel bei der Versteigerung einen Preis erhält, der die Ansprüche aller Hypothekengläubiger deckt. Du mußt fort, ich fordere dich nicht auf, jetzt noch hierzubleiben, aber du weißt, daß unter allen Umständen da, wo ich wohne, auch du zu Hause bist. – Und noch eins. Ich würde den Amtmann ungern entbehren; wende deine Beredsamkeit an, damit dein treuer Sancho hierbleibt, wenigstens über den Winter.«

»Noch weiß niemand«, erwiderte Anton aufstehend, »daß ich dies Gut verlasse, er muß der erste sein, der das erfährt. Ich gehe sogleich zu ihm.«

Das unsaubere Zimmer, in dem einst Herr Bratzky der Verräter[743] gehaust hatte, war durch Karls Hände in einen wohnlichen Raum verwandelt, der nur an dem einen Übelstand litt, daß er zu voll von allerlei nützlichen Dingen war. Karl selbst hatte die Stube mit schöner Rosafarbe angestrichen, an der Wand hing im goldenen Rahmen ein Bild des alten Blücher und daneben eine große Sammlung von Gerätschaften des Krieges und des Friedens, Flinte und Pulverhorn, Säge und Axt, Lineal und Winkelmaß. Am Fenster war eine kleine Hobelbank aufgestellt, eine Anzahl Rotkehlchen flatterte hin und her, es roch stark nach Leim. Oft hatte Anton hier ausgeruht und sich an Karls frischem Mut erholt, wenn ihm in den letzten Monaten das Leben schwer geworden war. Als er heut auf die bekannten Wände sah, fiel ihm mächtig aufs Herz, daß er auch von dem anspruchslosen treuen Mann scheiden müsse. Er lehnte sich an die Hobelbank und sagte: »Lege deine Rechnung beiseite, Karl, und laß uns ein ernstes Wort miteinander reden.«

»Jetzt kommt's«, rief Karl, »es ist schon lange etwas im Werke; ich sehe an Ihrem Gesicht, daß alle Bomben geplatzt sind.«

»Ich gehe fort von hier, mein Freund.«

Karl ließ die Feder aus der Hand fallen und sah stumm in das ernste Antlitz ihm gegenüber.

»Fink übernimmt dies Gut, er hat es heut gekauft.«

»Hurra!« rief Karl, »wenn Herr von Fink der Mann ist, welcher – so ist alles gut. Ich gratuliere von Herzen«, sagte er Antons Hand schüttelnd, »daß es so gekommen ist. In diesem Frühjahr hatte ich schon andere einfältige Gedanken. Jetzt aber ist's in der Ordnung. Und auch unsre Wirtschaft ist gerettet.«

»Das hoffe ich auch«, bestätigte Anton lächelnd.

»Aber Sie«, fuhr Karl fort, und seine Miene wurde plötzlich ernst.

»Ich gehe nach unsrer Hauptstadt zurück«, erwiderte Anton; »dort habe ich für den Freiherrn noch einige Geschäfte abzumachen, dann suche ich einen Stuhl in einem Comtoir.«

»Und wir haben hier ein Jahr zusammen gearbeitet«, sagte Karl betrübt. »Sie haben die Plage gehabt, und ein anderer wird ernten.«

»Ich gehe zurück, wohin ich gehöre. Aber, lieber Karl, nicht um mich, sondern um deine Zukunft handelt sich's jetzt.«[744]

»Ich gehe natürlich mit Ihnen«, rief Karl.

»Ich komme dich bitten, dies nicht zu tun. Könnten wir beide miteinander gemeinsam ein Geschäft beginnen, so würde ich dich mit aller Kraft an meiner Seite festhalten. Aber das ist unmöglich. Ich muß mir eine Stelle suchen. Ich war nie in der Lage, durch mein eigenes Vermögen eine selbständige Stellung zu gewinnen. Ein Teil von dem wenigen, was ich hatte, ist daraufgegangen; ich gehe nicht reicher von hier, als ich hergekommen bin. So würden wir uns trennen, sobald wir nach der Heimat kämen.«

Karl saß mit gesenktem Haupt und dachte nach. »Herr Anton«, sagte er, »kaum wage ich Ihnen von etwas zu reden, wovon ich selbst nichts weiß. Sie haben mir einigemal gesagt, daß mein Alter ein Kauz ist, der auf Geldsäcken sitzt. Wie wär's?« fuhr er zögernd fort und arbeitete mit seinem Stemmeisen in den Stuhl. »Wenn Ihnen nicht zu wenig wäre, was in dem eisernen Kasten liegt – Sie nehmen das, und wenn's etwas mit Produkten sein könnte, – es ist zwar sehr verwegen von mir – vielleicht könnte ich Ihnen dann als Ihr Kompagnon nützlich sein. Es ist nur so ein Gedanke, und Sie müssen mir das nicht übelnehmen.«

Anton erwiderte bewegt: »Sieh, Karl, daß du mir einen solchen Vorschlag machst, ist ganz in deiner uneigennützigen Weise; aber es wäre ein Unrecht, wenn ich ihn annähme. Das Geld gehört deinem Vater, und wenn auch er seine Einwilligung gäbe, und ich glaube, er würde es tun, so würde doch deine eigene Zukunft unsicherer, als sie jetzt ist. Jedenfalls wird dir das Vermögen deines Vaters in dem Berufe, in dem du heimisch bist, ein besseres Leben verschaffen, als in einem andern, in den du dich aus Liebe zu mir erst einarbeiten müßtest. Deshalb ist es besser für dich, mein Freund, daß wir uns trennen.«

Karl griff nach seinem Taschentuch und räusperte sich kräftig, bevor er weiter frug: »Und Sie allein wollten das Geld nicht benutzen? Sie würden uns ja gute Interessen geben.«

»Es ist unmöglich«, erwiderte Anton.

»Dann gehe ich zu meinem Alten zurück und stecke meinen Kopf in einen Heuboden unserer Gegend«, rief Karl ärgerlich.

»Das darfst du nicht«, sagte Anton. »Du hast von diesem Gute mehr kennengelernt, als ein anderer; es wäre unrecht, wenn das verlorengehen sollte. Gerade Fink braucht jetzt einen Mann wie[745] du, die Wirtschaft kann dich bis zum nächsten Sommer gar nicht entbehren. Als wir herkamen, zogen wir nicht in das Land, um uns Gutes zu tun, sondern um etwas zu schaffen. Mein Werk ist zu Ende, du bist mitten in deiner Arbeit. Du tust ein Unrecht gegen dich und deine Arbeit, wenn du jetzt scheidest.« Karl hing wieder den Kopf.

»Was mir deinen Aufenthalt hier bisweilen ängstlich machte, war der geringe Lohn, den das Gut geben konnte, das wird jetzt anders werden.«

»Reden wir nicht davon«, sagte Karl stolz.

»Es ziemt sich davon zu reden«, sagte Anton, »denn der Mensch tut unrecht, wenn er sein Bestes, seine Kraft, auf eine Arbeit verwendet, die ihm nicht in dem Grade lohnt, wie seine Tätigkeit verdient. Das gibt ein ungesundes Leben, und der Mensch kommt dabei in Gefahr, unsicher zu werden. Mir kannst du das glauben. Also ich bitte dich, hierzubleiben, wenigstens bis zum nächsten Sommer, wo bei der großen Ausdehnung, welche die Wirtschaft jetzt erhalten wird, ein erfahrener Inspektor an deine Stelle treten kann.«

»Und dann«, frug Karl, »soll ich auch gehen?«

»Fink wird dich immer festhalten; wenn du aber dann gehen willst, Karl, so denke an das, was wir in diesem Jahre oft miteinander gesprochen haben. Du hast dich an das Leben unter den Fremden gewöhnt, du hast alle Erfordernisse eines Kolonisten auf neuem Grunde. Wenn dich nicht eine größere Pflicht forttreibt, so ist deine Aufgabe, hier im Lande zu bleiben als einer von uns. Wenn du von diesem Gut fortgehst, so kaufe dich unter den Fremden an. Es wird kein leichtes Leben für dich sein, und vieles Behagen wirst du entbehren, aber wir leben nicht in einer Zeit, wo ein tüchtiger Mann sich zur Ruhe setzen soll, um gemächlich seine Garben zu schneiden. Du hast ein mutiges Herz, du bist nicht gewöhnt zu genießen, sondern zu erwerben. Du wirst mit der Pflugschar in der Hand hier ein deutscher Soldat sein, der den Grenzstein unserer Sprache und Sitte weiter hinausrückt gegen unsere Feinde.« – Er wies mit der Hand nach Morgen.

Karl reichte dem Freunde die Hand und sagte: »Ich bleibe.«

Als Anton aus der Wohnung des Amtmanns trat, stand Lenore vor der Tür. »Ich erwarte Sie«, rief sie Anton hastig entgegen,[746] »kommen Sie mit mir, Wohlfart; solange Sie noch hier sind, gehören Sie mir!« – »Wenn Ihre Worte weniger herzlich wären«, erwiderte Anton, »so würde ich glauben, daß Sie sich in der Stille darüber freuen, mich loszuwerden. Denn, liebes Fräulein, seit langem habe ich Sie nicht so mutig gesehn. Aufgerichtet und mit geröteten Wangen treten Sie mir entgegen, auch das schwarze Kleid ist verschwunden.«

»Dies ist das Kleid, das ich trug, als wir zusammen im Schlitten fuhren, damals freuten Sie sich darüber. Ich bin eitel«, rief sie mit trübem Lächeln, »ich will, daß der letzte Eindruck, den ich Ihnen hinterlasse, ein fröhlicher sei. Anton, Freund meiner Jugend, was ist das für ein Verhängnis, daß gerade wir scheiden müssen an dem ersten sorgenfreien Tage, den ich seit langer Zeit verlebe. Das Gut ist verkauft, heut atme ich wieder. – Was war das für ein Leben in den letzten Jahren, immer gequält, gedrückt, gedemütigt von Freund und Feind, immer etwas schuldig zu sein, bald Geld, bald Dank, es war fürchterlich. Nicht Ihnen gegenüber, Wohlfart. Sie sind mein Jugendfreund, und wenn Sie im Unglück wären oder in Not, so würde ich glücklich sein, wenn auch Sie mich riefen und zu mir sagten: Jetzt brauche ich dich, jetzt komm her, du wilde Lenore! – Ich will nicht mehr wild sein. Ich will an alles denken, was Sie mir gesagt haben.« So sprach sie aufgeregt in ihn hinein, und ihr Auge leuchtete. Sie hing sich an seinen Arm, was sie nie getan hatte, und zog ihn durch alle Räume des Hofes. »Kommen Sie, Wohlfart, den letzten Gang durch die Wirtschaft, die unser war! – Diese Kuh mit der Blesse haben wir zusammen gekauft«, rief sie. »Sie frugen mich beim Kauf um meine Meinung, das hat mir sehr wohlgetan.«

Anton nickte. »Wir wußten beide nicht recht Bescheid, und Karl mußte den Ausschlag geben.«

»Ei was! Sie haben das Geld bezahlt, ich habe ihr das erste Heu gegeben, folglich gehört sie uns beiden. – Sehen Sie sich noch einmal das schwarze Kalb an. Es sieht reizend aus. Herr Sturm droht, er will ihm die Ohren rot anstreichen, damit es ganz aussieht, wie ein kleiner Teufel.« Sie kauerte vor dem Kalbe nieder, drückte es an sich und streichelte es; plötzlich stand sie auf und rief: »Ich weiß nicht, warum ich so hübsch mit ihm tue, es ist nicht mehr mein, es gehört einem andern.« Aber hinter ihrem Zorn[747] klang es wie Schelmerei. Sie zog ihn weiter. »Kommen Sie zum Pony«, bat sie. »Mein armes kleines Tier! Es ist alt geworden seit dem Tage, wo ich in unserm Garten hinter Ihnen herritt.«

Anton liebkoste das Tier, und der Pony wandte seinen Kopf bald zu ihm, bald zu Lenore.

»Wissen Sie, wie es damals zuging, daß ich Ihnen auf dem Pony begegnete?« fragte Lenore über den Rücken des Pferdes herüber. »Es war gar kein Zufall. Ich hatte Sie unter dem Strauch sitzen sehen, heut darf ich's Ihnen sagen, und ich hatte gedacht: Wetter! das ist ein hübscher Junge, den wollen wir uns doch einmal ansehen. So war es gekommen, wie's kam.«

»Ja«, sagte Anton, »es kamen die Erdbeeren, es kam der See. Ich stand vor Ihnen und stopfte die Beeren hinein und war etwas weinerlich; aber bei alledem war mein Herz doch voll Freude über Sie, so schön und majestätisch standen Sie vor mir, ich sehe Sie noch im flatternden Gewand mit kurzen Ärmeln, und an dem weißen Arm ein goldenes Armband.«

»Wo ist das Armband hin?« frug Lenore ernst und stützte ihr Haupt auf den Hals des Pferdes. »Sie haben's verkauft, böser Wohlfart.« – Die Tränen rollten ihr aus den Augen, sie faßte mit beiden Händen über den Rücken des Pony nach der Hand des Freundes. »Anton, wir konnten nicht Kinder bleiben.« Dann strich sie mit der Hand über seine Wange und rief: »Mein Herzensfreund, lebe wohl. Ade, ihr Mädchenträume, ade, du leichte Frühlingszeit, ich muß jetzt lernen ohne meinen Schutz durch die Welt laufen. – Ich werde Ihnen nicht Schande machen«, sagte sie ruhiger, »ich werde immer verständig sein, ich werde auch gute Wirtschaft treiben. Von morgen fange ich an, ich gehe jetzt zu Babette in die Küche, ich weiß, daß Ihnen das lieb sein wird. Und ich werde sparen. Ich will wieder das Buch machen mit drei langen Strichen auf jeder Seite, ich werde alles aufschreiben. Wir werden diese Sparsamkeit auch im kleinen brauchen, Wohlfart. Ach, du arme Mutter!« Sie rang die Hände und sah wieder sehr bekümmert aus.

»Kommen Sie hinaus ins Freie«, bat Anton; »wenn es Ihnen recht ist, gehen wir nach dem Walde.«

»Nicht in den Wald, nicht in die Försterei«, sagte Lenore feierlich; »aber auf das neue Vorwerk gehe ich mit Ihnen.«[748]

So zogen beide miteinander über das Feld. »Sie müssen mich heut führen«, sagte Lenore, »ich lasse Sie nicht los.«

»Lenore, Sie wollen mir den Abschied recht schwermachen.«

»Wird er Ihnen schwer?« fragte Lenore erfreut und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Nein, Wohlfart, es ist nicht so, Sie haben sich in der Stille oft von mir fortgesehnt.«

Anton sah sie überrascht an.

»Ich weiß es«, rief sie vertraulich und drückte ihn leise am Arm, »ich weiß es recht gut. Auch wenn Sie mit mir zusammen waren, Ihr Herz war nicht immer bei mir. Manchmal, ja; damals im Schlitten wohl, aber häufiger noch dachten Sie in die Fremde. Wenn Sie gewisse Briefe bekamen, die lasen Sie mit einer Hast – wie heißt doch der Herr?« frug sie.

»Baumann«, erwiderte Anton arglos.

»Gefangen!« rief Lenore und drückte ihm wieder den Arm. »Wissen Sie, daß mich das eine Zeitlang sehr unglücklich gemacht hat? Ich war ein törichtes Kind. – Wir sind klug geworden, Wohlfart, wir sind jetzt freie Leute und deshalb können wir miteinander Arm in Arm gehen, o Sie lieber Freund!«

Als sie auf dem neuen Vorwerk ankamen, sagte Lenore zu der Frau des Vogtes: »Er geht fort von uns. Er hat mir erzählt, daß Sie ihm die erste Freude auf dem Gut gemacht haben durch den Strauß, den Sie für ihn pflückten. Holen Sie ihm jetzt den letzten. Ich selbst habe keine Blumen, in meiner Pflege gedeihn sie nicht. Hier hinter der Scheuer hat alles geblüht, was von Gartenblumen auf dem Gute war.«

Die Vogtin band wieder einen kleinen Strauß zusammen, überreichte ihn Anton mit einem Knicks und sagte dabei wehmütig: »Es ist gerade wieder so wie vor einem Jahre.«

»Er aber geht«, rief Lenore, wandte sich ab und drückte ihr Tuch in die Augen.

Dem Vogt und dem Schäfer schüttelte Anton herzlich die Hand. »Denkt freundlich an mich, ihr braven Leute!«

»Sie haben uns immer ein gütiges Herz gezeigt«, rief die Frau des Vogtes.

»Und Futter für Menschen und Tiere«, sprach der Schäfer seinen Hut abnehmend, »und Überlegung, und Ordnung vor allem.«[749]

»Für Eure Zukunft ist gesorgt«, sagte Anton; »Ihr erhaltet einen Herrn, welcher mehr vermag als ich.« Zuletzt küßte Anton noch den krausköpfigen Knaben des Vogts, hieß ihn seine kleine Sparbüchse holen, die in dem Schrank stand, und steckte ihm ein Andenken hinein. Das Kind hielt ihn am Rock fest und wollte ihn nicht fortlassen.

Auf dem Rückwege sagte Anton: »Wenn mir etwas die Trennung erleichtert, so ist es die Zukunft, welche das Gut jetzt hat. Und ahnend hoffe ich, daß auch in Ihrem Leben sich glücklich lösen wird, was noch unsicher ist.«

Lenore ging schweigend an seiner Seite, endlich frug sie: »Darf ich mit Ihnen über den Mann reden, der jetzt Herr dieses Gutes ist? Ich möchte wissen, wie Sie sein Freund geworden sind.«

»Ich bin es geworden, weil ich mir ein Unrecht, das er mir zufügte, nicht gefallen ließ. Unser Verhältnis ist so fest geblieben, weil ich ihm in allen Kleinigkeiten gern nachgab, in größeren Dingen fest auf meiner eigenen Überzeugung stand. Er hat eine hohe Achtung vor aller Kraft und Selbständigkeit, er wird leicht hart, wo ihm Schwäche des Urteils und des Willens entgegentritt.«

»Wie soll eine Frau Festigkeit gewinnen, gegenüber einem solchen Wesen?« sagte Lenore niedergeschlagen.

»Ja«, erwiderte Anton nachdenkend, »einem Weibe, das sich ihm mit Leidenschaft ergibt, wird das viel schwerer werden. Alles, was aussieht, wie Trotz und Eigensinn, wird er mit herber Strenge brechen, und die Besiegte wird er nicht schonen. Aber wo ihm ein würdiger und gehaltener Sinn entgegentritt, wird er ihn ehren. Und wenn ich jemals in die Lage käme, seiner künftigen Gattin einen Rat zu geben, so wäre es der Rat, daß sie gerade ihm gegenüber sich vor allem hüte, was bei Frauen für gewagt oder keck gilt. Was ihm eine Fremde angenehm macht, weil es ihm schnell leichte Vertraulichkeit gestattet, gerade das wird er an seiner Hausfrau am wenigsten achten.«

Lenore lehnte sich fester an ihn an und senkte ihr Haupt. So kehrten beide in tiefem Schweigen auf das Schloß zurück.

Am Nachmittage ging Anton an Karls Seite noch einmal durch Feld und Wald. Immer hatte er das Leben auf dem Gute als einen[750] Aufenthalt in der Fremde empfunden, und jetzt, wo er scheiden sollte, er schien ihm alles so vertraut, wie in seiner Heimat. Überall fand er etwas, worüber er in dem Jahre gesorgt hatte; an den Ackerstücken, den Häusern, den Tieren und dem Gerät haftete seine Arbeit. Er hatte den Weizen gekauft, der auf diesem Stück stand, er hatte die neuen Pflüge besorgt, womit der Knecht, den er in Dienst genommen, ackerte. Dort hatte er ein Dach gedeckt, hier eine schadhafte Brücke ausgebessert. Und wie jeder, der neu in eine Tätigkeit hineinkommt, hatte er auf das frisch erworbene Wissen gern Pläne gebaut, über allen Teilen des Gutes schwebten Entwürfe, Hoffnungen und Glück verheißende Projekte. Stets hatte er beklagt, daß er zu wenig für die Geschäfte vorbereitet war, die er so schnell übernommen hatte; jetzt, wo er sich von ihnen löste, empfand er nur, wie lieb sie ihm waren. – In der Försterei saß er noch eine Stunde mit dem ehrlichen Alten zusammen. Draußen warf der Herbst die Blätter von den Bäumen und entfärbte das lustige Grün der Natur. Hier um den Alten grünte der Wald, und in der vollen Kraft der späten Mannesjahre saß der trotzige Waldmann ihm gegenüber. Beim Abschied an der Pforte sagte der Förster: »Als Sie zuerst die Hand an diese Tür legten, dachte ich nicht, daß die Bäume über uns so fest stehen würden, und daß ich noch einmal anfangen sollte, mit andern Menschen zu leben. Sie haben einem alten Mann das Sterben schwergemacht, Herr Wohlfart.«

Die Trennungsstunde kam. Anton suchte den Freiherrn in seinem Zimmer auf und nahm von ihm einen kurzen und förmlichen Abschied, Lenore war ganz aufgelöst in weichem Gefühl, und Fink herzlich gegen ihn, wie gegen einen Bruder. Als Anton neben ihm stand und mit Rührung auf Lenore hinsah, sagte Fink: »Sei ruhig, mein Freund, hier wenigstens werde ich versuchen zu sein, wie du warst.« Fink und Lenore begleiteten den Scheidenden zum Wagen, noch einen Blick warf Anton auf das Schloß, das an dem grauen Herbsttage so finster auf der öden Ebene stand, wie damals, wo er eingekehrt war. Dann sprang er in den Wagen, ein letzter Händedruck, ein Lebewohl; Karl ergriff die Zügel, sie lenkten bei der Scheuer in den Dorfweg, das Schloß war verschwunden. Die Reihe der schlechten Dorfhütten, die Brücke am Bach, den Wald, alles sah er zum letztenmal für lange Zeit. Am[751] Ende des Waldes, an der Grenze des Gutes, dort, wo der Weg nach Kunau und Neudorf abgeht, hielt Karl an. Ein Trupp Männer stand am Grenzstein. Es waren die Leute vom Gut, der Förster, der Vogt und der Schäfer, dann der Schmied von Kunau mit einigen Nachbarn, und der Sohn des Schulzen von Neudorf.

Erfreut sprang Anton vom Wagen und begrüßte noch einmal die Genossen.

»Der Vater schickt mich, Sie zu grüßen«, sprach der Schulzensohn; »es geht besser mit seinen Wunden, aber er darf noch nicht aus der Stube«, und der Kunauer Schmied rief ihm als letztes Lebewohl nach: »Grüßen Sie unsere Landsleute da drin im Deutschen, und sie sollen unser niemals vergessen.«

Schweigend, wie am Tage seiner Ankunft, fuhr Anton neben seinem Getreuen auf der Landstraße dahin. Er war jetzt frei, frei von dem Zauber, der ihn hierhergelockt hatte, frei von manchem Vorurteil, aber er war frei wie ein Vogel in der Luft. Er hatte ein Jahr rastlos gearbeitet und er mußte sich jetzt lösen von allem, was ihn hier beschäftigt hatte; er hatte die gerade Linie seines Lebens verlassen, um für andere tätig zu sein, und er ging jetzt, sich selbst neue Arbeit zu suchen, er mußte von vorn anfangen. Ob er seine eigene Zukunft durch dieses Jahr stärker oder schwächer gemacht hatte, das war noch die Frage. Er hatte kennengelernt, wie hohen Wert ein sicheres, geformtes und gesundes Leben in selbständiger Tätigkeit habe, und er fühlte jetzt, daß er diesem Ziel ferner stehe, als vor einem Jahr. Er erkannte, daß er mit seiner eigenen Kraft ein keckes Spiel gewagt, und der Gedanke fiel wie ein trüber Hauch auf den Spiegel, in dem er die Gestalten der letzten Vergangenheit sah. Aber er bereute nicht, was er getan. Er hatte Verluste gehabt, aber auch gewonnen, er hatte durchgesetzt, daß auf unkultivierter Fläche ein neues Leben aufgrünte; er hatte geholfen, eine neue Kolonie seines Volkes zu gründen, er hatte den Menschen, die er liebte, den Weg zu einer sichern Zukunft gebahnt; er selbst fühlte sich reifer, erfahrener, ruhiger. Und so sah er über die Häupter der Pferde, die ihn seiner Heimat zuführten, und sagte zu sich selbst: »Vorwärts! ich bin frei, und mein Weg ist jetzt klar.«[752]

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 725-753.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Soll und Haben
Soll und Haben. Roman in sechs Büchern
Soll und Haben
Soll und Haben. 6 Romane in 1 Buch
Soll Und Haben: Roman in Sechs Büchern, Volume 2 (German Edition)

Buchempfehlung

Hume, David

Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes

Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes

Hume hielt diesen Text für die einzig adäquate Darstellung seiner theoretischen Philosophie.

122 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon