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[792] Außer dem Gips auf Antons Schreibtisch feierten noch andere lebende Wesen des Hauses einen stillen Triumph. Wer dieses Haus und die Menschen darin so von Grund aus kannte, wie zum Beispiel die Tante, der durchschaute die Täuschungen, welche gewisse Leute sich selbst und andern vorspiegelten. Es war möglich, daß Fremde über vieles den Kopf schüttelten, was jetzt in der Familie vorging; die Tante tat das ebensowenig, als die übrigen guten Hausgeister. Daß Anton still, wortkarg, mit bleichen Wangen im Comtoir saß und außer am Mittag niemals in der Familie erschien, daß Sabine jetzt in Gegenwart ihres Bruders eine Neigung zum Erröten zeigte, die sie früher nicht gehabt hatte, daß sie stundenlang, ohne ein Wort zu sprechen, bei ihrer Arbeit saß und danach auf einmal durch das Haus fuhr, übermütig, wie ein kleines Kätzchen, welches mit einem Zwirnknäuel spielt, und daß endlich der Hausherr selbst immer auf Anton hinsah, mochte dieser sprechen oder schweigen, und dabei von Tag zu Tag lustiger wurde, so daß er gar nicht aufhörte, die Tante zu necken: das alles schien allerdings sehr seltsam, aber wer seit vielen Jahren genau wußte, was diese Menschen am liebsten aßen, und was man ihnen alle Monate nur einmal auf den Tisch setzen durfte, ja wer ihre Strümpfe gestrickt hatte und ihre Halskragen eigenhändig stärkte, wie die Tante bei mehreren von diesen dreien tat, der sollte doch wohl hinter ihre Schleichwege kommen. Natürlich kam die Tante dahinter.

Die gute Tante schrieb sich allein das Verdienst zu, daß Anton zurückgekehrt war. Sie hatte dem Comtoir den Herrn zurückgeben wollen, der ihr selbst am liebsten war, weiter hinaus hatte sie nicht gedacht, wenigstens hätte sie das in den ersten Tagen nach Antons Rückkehr jedem abgeleugnet. Denn trotz dem rosafarbenen Futter der Überzüge wußte sie auch, daß das Haus, zu dem sie gehörte, ein stolzes Haus war, welches seinen absonderlichen Willen hatte und sehr subtil behandelt sein wollte. Und als sie erfuhr, daß der niedergeschlagene Anton nur als Gast bei ihnen bleiben sollte, da wurde selbst sie auf einige Wochen recht zweifelhaft. Bald aber erhielt sie das stille Übergewicht über den Kaufmann und ihre Nichte wieder zurück, denn sie machte Entdeckungen. Der zweite Stock des Vorderhauses war seit vielen[792] Jahren unbewohnt. Der Kaufmann hatte zur Zeit seiner Eltern mit seiner jungen Frau dort oben gelebt. Als er kurz hintereinander die Eltern, seine Frau und den kleinen Sohn verloren, war er heruntergezogen, und seit der Zeit hatte sein Fuß den oberen Stock nur ungern betreten. Graue Jalousien hingen das ganze Jahr vor den Fenstern, Möbel und Bilder waren grau überhangen. Ein verzaubertes Schloß Dornröschens war der ganze Stock, und unwillkürlich wurde der Tritt der Frauen leiser, wenn sie über den Flur des schlummernden Reiches gehn mußten.

Jetzt kam die Tante vom Boden herab. Aus dem endlosen Kriege mit Pix hatte sie nur noch einen kleinen Raum für das Trocknen der Wäsche gerettet. Sie dachte eben daran, daß die bürgerliche Stellung den Menschen doch sehr verändert, denn Balbus, der Nachfolger von Pix, auf dessen bescheidnes Wesen sie große Hoffnungen gesetzt hatte, erwies sich in seinem neuen Amt ebenso geneigt zu Übergriffen, als sein Vorgänger. Wieder fand sie einen Haufen Zigarrenkisten außerhalb der drei Kammern aufgestellt, welche Pix gewalttätig in ihr Gebiet hineingebaut hatte, und eben war sie im Begriff, Herrn Balbus deshalb eine Kriegserklärung zu machen. Da sah sie mit Schrecken eine Zimmertür des zweiten Stocks weit geöffnet. Sie dachte einen Augenblick an Diebe und wollte gerade Hilfe schreien, als ihr der verständige Gedanke kam, die auffallende Erscheinung vorher zu untersuchen. Sie schlich sich leise in die verhangenen Zimmer. Aber sie kam in Gefahr, aus Verwunderung zu versteinern, als sie ihren Neffen selbst ganz allein in der Wohnung sah. Er, der seit dem Tode seiner Frau diese Räume nicht betreten hatte, stand jetzt in dem Zimmer, in welchem die Verstorbene gewohnt hatte. Mit gefalteten Händen, in tiefen Gedanken, stand der Mann da und sah auf ein Bild, welches seine Frau als Braut darstellte, im weißen Atlaskleide, den Myrtenkranz im Haar. Die Tante konnte sich nicht enthalten, mitfühlend zu seufzen. Überrascht wandte sich der Kaufmann um. »Ich will das Bild in meine Stube herunternehmen«, sagte er weich.

»Aber du hast ja das andere Bild von Marie darin, und dieses hat dich immer verstimmt«, rief die Tante.

»Die Jahre machen ruhiger«, erwiderte der Kaufmann, »und hierher wird doch mit der Zeit ein anderes kommen.«[793]

Die Augen der Tante glänzten wie Leuchtkugeln, als sie frug: »Ein anderes?«

»Es war nur so ein Gedanke«, sagte der Kaufmann ausweichend und schritt mit musterndem Blick durch die Reihe der Zimmer. Stolz und mit innerm Achselzucken ging die Tante hinter ihm her. Diese Leute mochten sich verstellen, soviel sie wollten, es half ihnen nichts mehr.

Und der vorsichtigen Sabine ging es nicht besser.

Anton hatte am Mittag schweigsam neben der Tante gesessen. Als er seinen Stuhl rückte und sich erhob, sah die Tante, daß Sabinens Auge mit leidenschaftlicher Sorge auf seinem bleichen Gesicht ruhte und sich mit Tränen füllte. Nachdem er das Zimmer verlassen, stand auch Sabine auf und trat an das Fenster, welches in den Hof führte. Die Tante zog sich in ihre Nähe und spähte hinter der Gardine durch. Sabine blickte mit großer Spannung in den Hof, plötzlich lächelte sie und sah ganz verklärt aus. Behutsam schlich die Tante näher und sah ebenfalls in den Hof hinab. Dort war aber gar nichts zu schauen, als Anton, der ihnen den Rücken zukehrte und den Pluto liebkoste. Er gab dem Hund einige Semmelbrocken, und Pluto bellte um ihn herum und sprang lustig nach seinem Rock.

»Oho«, dachte die Tante, »der Pluto ist's nicht, über den sie in einem Atem weint und lacht.«

Und kurz darauf, als einmal der Neffe die Tür des Damenzimmers öffnete, sah die Tante im Vorsaal einen Mann mit einem großen Paket stehn. Ihr scharfer Blick erkannte den Ausläufer der großen Schnittwarenhandlung. Der Kaufmann rief seine Schwester in die Nebenstube, die Tante horchte. Zuerst sprach der Neffe, dann Sabine, aber ganz leise, dann hörte die Tante ein Gemurmel, welches große Ähnlichkeit mit unterdrücktem Schluchzen hatte. »Was dieses Mädchen weinerlich wird«, dachte sie verwundert. Sie war gerade im Begriff, in das Zimmer einzudringen, als die Geschwister ihr entgegentraten. Sabine hing im Arm des Bruders, ihre Wangen und ihre Augen waren stark gerötet, und doch sah sie glücklich und sehr verschämt aus. Als die Tante nach einer längeren Pause, wie sie der Anstand nötig machte, in das Nebenzimmer ging, um etwas zu suchen, fand sie das große Paket auf einem Stuhl liegen. Sie stieß zufällig mit der Hand daran, und[794] da das Papier nicht zugebunden war, ging es natürlich auseinander, und sie erblickte prachtvolle Möbelstoffe, und unten noch eine andere Erfindung, die so heftig auf ihre Nerven wirkte, daß auch sie sich hinsetzte und auf der Stelle einige Tränen vergießen mußte. Es war die weiße Robe vom schwersten Stoff, welche das Weib nur einmal in ihrem Leben, an einem feierlichen Tag voll Andacht und frohen Schauers zu tragen pflegt.

Fortan behandelte die Tante ihre Umgebung mit der Sicherheit einer Hausfrau, welche andern verzeiht, wenn sie sich eine Weile närrisch gebärden, weil sie recht gut weiß, daß das letzte Ende von solchem künstlichen Wesen eine starke Bewegung in ihrem eigenen Gebiet sein wird, heftige Arbeit in der Küche, ein langer Speisezettel, großartiges Schlachten von Geflügel und ein vernichtender Angriff auf alle Gefäße mit eingemachten Früchten. Auch sie wurde geheimnisvoll. Alle Tönnchen und Töpfe mit Konfitüren wurden plötzlich einer außerordentlichen Revision unterworfen, und bei der Mittagstafel erschienen zuweilen ausgezeichnete Versuche von neuen Speisen. Die Tante kam an solchen Tagen mit geröteten Wangen aus der Küche und war sehr empfindlich, wenn nicht jedermann das neue Gericht vortrefflich fand, obgleich sie nie verfehlte, hinzuzusetzen: »Es ist nur ein vorläufiger Versuch der Köchin.« Und dabei sah sie ihren Neffen und Sabine mit einem triumphierenden Ausdruck von Überlegenheit an, welcher deutlich sagte: »Ich habe alles erraten«, so daß der Kaufmann die Brauen zusammenziehen und der Tante einen strengen Blick zuwerfen mußte.

Aber der Kaufmann selbst sah in der Regel nicht strenge aus. Sabine und Anton wurden mit jedem Tag stiller und verschlossener, er wurde zusehends heiterer. Er war jetzt gesprächiger als seit Jahren und wurde nicht müde, bei Tische Anton in die Unterhaltung zu ziehen. Er zwang ihn, zu erzählen, und hörte mit Spannung auf jedes Wort, das von Antons Lippen kam. In den ersten Wochen sah er oft prüfend auf Antons Pult, nach kurzer Zeit tat er auch im Geschäft, als wäre sein Verhältnis zu Anton noch das alte. Mit munterem Schritt ging er durch die vordern Comtoire. Noch war im Geschäft viel Flauheit, ihn kümmerte das wenig. Wenn Herr Braun, der Agent, sein belastetes Herz ausschüttete, lachte er dazu und ließ einen kurzen Scherz fallen.[795]

Anton gewahrte diese Veränderung nicht. Wenn er im Comtoir arbeitete, saß er einsilbig Herrn Baumann gegenüber und mühte sich, an nichts zu denken, als an die Briefe. Die Abende brachte er häufig allein auf seinem Zimmer zu, dann senkte er sein Haupt in die Bücher, welche Fink ihm vermacht hatte, und versuchte seinen finstern Gedanken zu entrinnen.

Er fand die Handlung nicht so wieder, wie er sie verlassen. Durch viele Jahre war hier alles fest gewesen, jetzt war das Geschäft in unruhiger, schwankender Bewegung. Viele von den alten Verbindungen des Hauses waren abgeschnitten, mehrere neue waren angeknüpft. Er fand neue Agenten, neue Kunden, mehrere neue Artikel und neue Arbeiter.

Auch im Hinterhause war es still geworden. Außer den Würdenträgern des zweiten Comtoirs, Herrn Liebold und Herrn Purzel, welche niemals aufregende Elemente der bürgerlichen Gesellschaft gewesen waren, traf er von seinen nähern Bekannten nur noch den treuen Baumann und Specht; und auch diese dachten daran, das Geschäft zu verlassen. Baumann hatte gleich nach Antons Rückkehr dem Prinzipal gestanden, daß er zum nächsten Frühjahr fort müsse, und auch Antons ernstliche Vorstellungen prallten diesmal von dem festen Entschluß des Missionars ab. »Ich kann den Termin nicht verlängern«, sagte er; »mein ganzes Gewissen schreit dagegen. Ich gehe von hier auf ein Jahr nach London in die Missionsanstalt, und von dort, wohin man mich schickt. Ich gestehe, daß ich eine Vorliebe für Afrika habe. Es sind dort einige Könige«, – er nannte schwer auszusprechende Namen – »die ich nicht für ganz schlecht halte. Dort muß mit der Bekehrung etwas zu machen sein. Noch ist bei ihnen eine elende Wirtschaft. Den heidnischen Sklavenhandel hoffe ich ihnen abzugewöhnen. Sie können ihre Leute zu Hause brauchen, um Zuckerrohr zu pflanzen und Reis zu bauen. In ein paar Jahren schicke ich Ihnen über London die ersten Proben von unserm Plantagenbau.«

Und auch Herr Specht kam zu Anton. »Sie haben mir immer gute Freundschaft gezeigt, Wohlfart. Ich möchte Ihre Meinung wissen. Ich soll heiraten, ein ausgezeichnetes Mädchen, sie heißt Fanny und ist eine Nichte von C. Pix.«

»Ei«, sagte Anton, »und lieben Sie die junge Dame?«[796]

»Ja, ich liebe sie«, rief Specht begeistert. »Aber ich soll auch in das Geschäft von Pix treten, wenn ich sie heirate, und deshalb wollte ich Sie fragen. Meine Geliebte hat etwas Vermögen und Pix meint, das würde am besten in seinem Geschäft angelegt. Nun wissen Sie, Pix ist im Grunde ein guter Kerl, aber ein anderer Kompagnon wäre mir doch lieber.«

»Ich dächte nicht, mein alter Specht«, sagte Anton. »Sie sind ein wenig zu eifrig, und es wird immer gut für Sie sein, einen sichern Kompagnon zu haben. Pix wird Sie zwingen, seinen Willen zu tun, und das wird kein Schade sein, denn Sie werden sich gut dabei stehn.«

»Ja«, sagte Specht, »aber denken Sie, die Branche, die er gewählt hat. Kein Mensch hätte es für möglich gehalten, daß unser Pix sich zu so etwas entschließen könnte.«

»Was hat er denn alles?« frug Anton.

»Vieles durcheinander«, rief Specht, »was er vorher niemals angesehen hätte; außer Fellen und Häuten jede Art von Pelzwerk, vom Zobel bis zum Maulwurf, und außerdem Filz und dergleichen, ganz nach seiner Natur, alles, was haarig und borstig ist. – Es sind gemeine Artikel darunter, Wohlfart.«

»Seien Sie kein Kind«, versetzte Anton, »heiraten Sie, mein guter Junge, und begeben Sie sich unter die Vormundschaft des Schwagers, es wird Ihr Schade nicht sein.«

Den Tag darauf trat Pix selbst in Antons Zimmer. »Ich habe Ihre Karte gefunden, Wohlfart, und komme Sie auf Sonntag zum Kaffee einladen. Kuba und eine Manila. Sie sollen meine Frau kennenlernen.«

»Und Sie wollen Specht zum Kompagnon nehmen?« frug Anton lächelnd. »Immer hatten Sie einen großen Widerwillen, sich zu assoziieren.«

»Ich tät's auch mit keinem andern als mit ihm. Im Vertrauen gesagt, ich bin in einer Schuld gegen den armen Kerl, und ich kann für mein Geschäft die zehn tausend brauchen, die er sich erheiratet. Ich habe ein Detailgeschäft mit übernommen, verdammte Kürschnerwaren, da stecke ich ihn hinein. Das wird ihm Spaß machen. Er kann alle Tage gegen die Weiber artig sein, die in den Laden kommen, und alle Jahre einen neuen Pelz um sich hängen. Er wird dort brauchbarer sein, als hier im Comtoir.«[797]

»Wie kommt's, daß Sie gerade dies Geschäft gewählt haben?« frug Anton.

»Ich mußte«, erwiderte Pix, »ich fand noch ein großes Warenlager von meinem Vorgänger vor; in traurigem Zustand, das versichere ich Ihnen; und ich sah mich auf einmal in einer großen Gesellschaft von Leuten, welche Hasenfelle und Schweinsborsten für preiswürdig hielten.«

»Das allein hat Sie doch nicht bestimmt«, erwiderte Anton lachend.

»Vielleicht war's auch noch etwas anderes«, sagte Pix. »Hier am Orte mußte ich bleiben, wegen meiner Frau, und Sie werden einsehen, Anton, daß ich, der ich in diesem Hause Disponent des Provinzialgeschäfts gewesen bin, mich nicht an diesem Platz in derselben Branche auftun konnte. Ich kenne das ganze Provinzialgeschäft besser, wie der Prinzipal, und alle kleinen Kunden kennen mich besser, als den Prinzipal. Ich hätte diesem Geschäft geschadet, obgleich meine Mittel kleiner sind; ich hätte leicht gute Geschäfte machen können, aber dies Haus hätte den Schaden gehabt. So mußte ich etwas anderes ergreifen. Ich ging deshalb zu Schröter, sobald ich mich entschlossen hatte, und besprach das mit ihm. Ich werde mit Euch nur in einem konkurrieren, und das sind Pferdehaare, und darin werde ich Euch totmachen. Ich habe auch das dem Prinzipal gesagt.«

»Das wird die Handlung ertragen«, sagte Anton und schüttelte dem Borstenhändler Pix die Hand.

Aber nicht im Comtoir allein, auch unter den Arbeitern an der großen Waage war eine Veränderung eingetreten. Vater Sturm, der treue Freund des Hauses, drohte die Handlung und diese kleine Erde zu verlassen.

Eine der ersten Fragen Antons nach seiner Rückkehr war Vater Sturm gewesen. Sturm war seit einigen Wochen unpaß und verließ das Zimmer nicht. Voll Besorgnis eilte Anton am zweiten Abend nach seiner Ankunft zu der Wohnung des großen Mannes.

Schon auf der Straße hörte er ein merkwürdig tiefes Gesumm, als wenn ein Schwarm Riesenbienen sich in dem rosafarbenen Haus häuslich niedergelassen hätte. Als er in den Flur trat, klang das Summen wie das ferne Gemurr einer Löwenfamilie. Verwundert[798] klopfte er an, niemand antwortete. Als er die Tür geöffnet hatte, mußte er auf der Schwelle anhalten, denn im ersten Augenblick sah er in dem Zimmer nichts, als einen grauen undurchdringlichen Rauch, in welchem ein gelber Lichtpunkt mit bleichem Dunstkreis schwebte. Allmählich unterschied er in dem Rauch einige dunkle Globusse, welche um das Licht herum wie Planeten aufgestellt waren, zuweilen bewegte sich, was ein Männerarm sein konnte, aber einem Elefantenbein sehr ähnlich war. Endlich brachte die Zugluft der offenen Tür den Dampf in Bewegung, und ihm gelang, durch die Wolken einzelne Blicke in die Tiefen der Stube zu tun. Nie war eine Menschenwohnung einer Tabagie von Zyklopen ähnlicher. An dem Tisch saßen sechs riesige Männer, drei auf der Bank, drei auf Eichenstühlen, alle hatten Zigarren im Mund, und auf dem Tisch hölzerne Bierkrüge; das dröhnende Brummen war ihre Sprache, die so klang, weil sie leise sprachen, wie sich für eine Krankenstube schickt.

»Ich rieche etwas«, rief endlich eine mächtige Stimme, »ein Mensch muß hier sein, es kommt eine kühle Luft, die Tür steht offen. Wer hier ist, der melde sich.«

»Herr Sturm!« rief Anton von der Schwelle.

Die Globusse gerieten in rotierende Bewegung und verfinsterten das Licht.

»Hört Ihr's«, rief die Stimme wieder, »ein Mensch ist gekommen.«

»Ja«, erwiderte Anton, »und ein alter Freund dazu.«

»Diese Stimme kenne ich«, rief es hastig hinter dem Tisch hervor.

Anton trat näher an das Licht, die Auflader erhoben sich und riefen laut seinen Namen. Vater Sturm fuhr auf seiner Bank bis auf die äußerste Ecke und hielt Anton beide Hände entgegen. »Daß Sie hier sind, wußte ich schon durch meine Kameraden. Daß Sie gesund zurückgekommen aus diesem Lande, von diesen Sensenmännern und von diesen Schreihälsen, welche ihre Tonne mit Sauerkraut in der Stube stehn haben, dieses ist mir eine angenehme Freude.« Antons Hand ging zuerst in die Hände des alten Sturm über, der sie kräftig drückte und dann wieder zurechtstreichelte, und dann in die Hände der fünf anderen Männer, und kam wieder heraus, gerötet, aufgelaufen, im Gelenk erschüttert,[799] so daß Anton sie sogleich in die Rocktasche steckte. Während die Auflader einer nach dem andern ihre Begrüßungen mit Anton austauschten, frug Sturm plötzlich dazwischen: »Wann kommt mein Karl?«

»Haben Sie ihm denn geschrieben, daß er kommen soll?« frug Anton.

»Geschrieben?« wiederholte Sturm kopfschüttelnd, »nein, dies habe ich nicht getan, von wegen seiner Stellung als Amtmann darf ich es nicht tun. Denn wenn ich ihm schreibe: Komm, so würde er kommen, und wenn eine Million Sensenmänner zwischen ihm und uns aufmarschiert wäre, aber er könnte dort nötig sein bei den Herrschaften. Und deswegen, wenn er nicht von selber kommt, soll er nicht kommen.«

»Er kommt zum Frühjahr«, sagte Anton und sah prüfend auf den Vater.

Der Alte schüttelte wieder den Kopf: »Zum Frühjahr wird er nicht kommen, zu mir nicht; es ist möglich, daß mein kleiner Zwerg dann herkommt, aber zu seinem Vater nicht mehr.« Er setzte den Bierkrug an und tat einen langen Zug, klappte den Deckel zu und räusperte sich kräftig; dann sah er Anton mit einem entschlossenen Blick an und drückte die Faust als Stempel auf den Tisch. »Fünfzig«, sagte er, »noch vierzehn Tage, dann kommt's.«

Anton legte seinen Arm um die Schultern des Alten und sah fragend den andern ins Gesicht, welche ihre Zigarren in der Hand hielten und vor der Gruppe standen, wie ein griechischer Chor in der Tragödie. »Sehen Sie, Herr Wohlfart«, begann der Chorführer, der, als Mensch betrachtet, groß, als Riese kleiner war, denn sein Oberster: »das will ich Ihnen erklären. Dieses Mannes Meinung ist, daß er schwächer wird, und daß er immer schwächer werden wird, und daß in einigen Wochen der Tag kommt, wo wir Auflader eine Zitrone in die Hand nehmen müssen und einen schwarzen Schwanz an unsre Hüte stecken. Solches ist unser Wille nicht.« Alle schüttelten den Kopf und sahen mißbilligend auf ihren Obersten. »Es ist nämlich ein alter Streit zwischen uns und zwischen ihm wegen der fünfzig Jahre. Jetzt will er recht behalten, das ist das Ganze, und unsre Meinung ist, daß er nicht recht hat. Er ist schwächer geworden, dieses ist möglich. Manchmal[800] hat einer mehr Kraft, manchmal weniger. Was braucht der Mann aber deshalb daran zu denken, diesen Platz zu verlassen? Ich will Ihnen sagen, Herr Wohlfart, was es ist, es ist eine Ausschweifung von ihm.«

Alle Riesen bestätigten durch Kopfnicken die Worte des Sprechers.

»Also er ist krank?« frug Anton besorgt. »Wo sitzt die Krankheit, alter Freund?«

»Es ist hier und dort«, erwiderte Sturm, »es schwebt in der Luft, es kommt langsam heran, es nimmt zuerst die Kraft, dann den Atem; von den Beinen fängt's an, dann steigt es herauf.« Er wies auf seine Füße.

»Wird Ihnen das Aufstehn sauer?« frug Anton.

»Gerade das ist es«, erwiderte der Riese, »es wird mir sauer, und mit jedem Tag mehr. Und ich sage dir, Wilhelm«, fuhr er gegen den Sprecher fort, »in vierzehn Tagen wird auch das aufhören; dann wird nichts sauer sein, als Eure Zitronen, und ich hoffe, auch Eure Gesichter, ein paar Stunden, bis zum Abend; dann sollt Ihr wieder hierher kommen und Euch an dieser Stelle niedersetzen. Ich werde dafür sorgen, daß die Kanne hier steht, wie heut, dann könnt Ihr von dem alten Sturm reden, als von einem Kameraden, welcher sich zur Ruhe gelegt hat, und der nichts mehr heben wird, was eine Last ist; denn ich denke mir, da, wo wir hinkommen, wird nichts mehr schwer sein.«

»Da hören Sie's«, sagte Wilhelm bekümmert, »er schweift wieder aus.«

»Was sagt der Arzt zu Ihrer Krankheit?« frug Anton schnell.

»Ja, der Doktor«, sagte der alte Sturm, »wenn man den fragen wollte, er würde genug sagen; aber man fragt ihn nicht. Es ist, unter uns gesprochen, auf die Ärzte kein Verlaß. Sie können wissen, wie es in manchem Menschen ist, das leugne ich nicht ab; aber woher wollen sie wissen, wie es in einem von uns ist? Es kann keiner ein Faß heben.«

»Wenn Sie keinen Arzt haben, lieber Herr Sturm, so will ich sogleich anfangen, Ihr Arzt zu sein«, rief Anton, eilte an die Fenster und öffnete alle Flügel. »Wenn das Atmen Ihnen schwer wird, so ist diese dicke Luft Gift für Sie, und wenn Sie an den Füßen[801] leiden, so sollen Sie auch nicht mehr trinken.« Er trug die Bierkanne auf den andern Tisch.

»Ei, ei, ei«, sagte Sturm, dem geschäftigen Anton zusehend, »die Meinung ist gut, aber es nutzt nichts. Etwas Rauch hält warm, und an das Bier sind wir einmal gewöhnt. Wenn ich den ganzen Tag allein sitze auf dieser Bank, ohne Arbeit, ohne einen Menschen, so ist es mir eine Freude, wenn meine Kameraden des Abends ihre Bequemlichkeit bei mir haben. Sie reden dann zu mir, und ich höre doch ihre Stimme wie sonst und erfahre etwas vom Geschäft, und wie es in der Welt zugeht.«

»Aber Sie selbst sollen dann wenigstens das Bier meiden und sich vor Tabakrauch hüten«, erwiderte Anton. »Ihr Karl wird Ihnen dasselbe sagen, und da er nicht hier ist, so erlauben Sie mir, seine Stelle zu vertreten.« Er wandte sich zu den andern Aufladern. »Ich will ihm zu beweisen suchen, daß er unrecht hat, lassen Sie mich eine halbe Stunde mit ihm allein.«

Die Riesen entfernten sich, Anton setzte sich dem Kranken gegenüber und sprach über das, was dem Vater am meisten Freude machte, über seinen Sohn.

Sturm vergaß seine finstern Ahnungen und geriet in die glücklichste Stimmung. Endlich sah er Anton mit zugedrückten Augen an und sagte, sich zu ihm herüberlegend, vertraulich: »Neunzehnhundert Taler. Er ist noch einmal hier gewesen.«

»Sie haben ihm doch nichts gegeben?« frug Anton besorgt.

»Es waren nur hundert Taler«, sagte der Alte entschuldigend. »Er ist jetzt tot, der arme junge Herr, er sah so lustig aus mit seinen Schnüren am Rocke. So lange ein Mensch Sohn ist, muß er nicht sterben, das macht zu großes Herzeleid.«

»Wegen Ihres Geldes habe ich mit Herrn von Fink gesprochen«, sagte Anton, »er wird vermitteln, daß man die Schuld an Sie bezahlt.« – »An den Karl«, verbesserte der Alte auf seine Kammer sehend. »Und Sie, Herr Wohlfart, werden es übernehmen, meinem Karl das in die Hände zu geben, was dort in dem Kasten ist, wenn ich selber den Kleinen nicht mehr sehen sollte.«

»Wenn Sie diesen Gedanken nicht aufgeben, Sturm«, rief Anton, »so werde ich Ihr Feind, und ich werde von jetzt ab mit größter Härte gegen Sie verfahren. Morgen früh komme ich wieder und bringe Ihnen den Arzt des Herrn Schröter mit.«[802]

»Er mag ein guter Mann sein«, sagte Sturm, »seine Pferde haben sehr gutes Futter, sie sind stark und dick, aber mir kann er doch nicht helfen.«

Am andern Morgen besuchte der Arzt den Patienten. »Ich kann seinen Zustand noch nicht für gefährlich halten«, sagte er, »seine Füße sind geschwollen, auch das mag sich wieder geben, aber das untätige, sitzende Leben ist für diesen starken Körper so ungesund, und seine Diät ist so schlecht, daß die schnelle Entwickelung einer gefährlichen Krankheit leider sehr wahrscheinlich ist.«

Anton schrieb dies sogleich an Karl und fügte hinzu: »Unter diesen Umständen macht mir der Glaube Deines Vaters, daß er seinen fünfzigsten Geburtstag nicht überleben wird, große Sorge. Am besten wäre, wenn Du selbst um diese Zeit herkommen könntest.«

Seit Anton dies an Karl geschrieben, war längere Zeit vergangen, er hatte unterdes den Kranken täglich besucht. In dem Befinden Sturms war keine auffallende Änderung eingetreten, aber er hielt hartnäckig an seinem Entschluß fest, den Geburtstag nicht zu überleben. An einem Morgen kam der Bediente in Antons Zimmer und meldete, der Auflader Sturm wünsche ihn dringend zu sprechen.

»Ist er kränker?« frug Anton erschrocken, »ich gehe sogleich zu ihm.«

»Er ist selbst mit einem Wagen vor der Tür«, sagte der Diener. Anton eilte vor das Haus. Dort hielt ein Fuhrmannswagen, über das Weidengeflecht waren große Tonnenreifen gespannt und über diese eine weiße Decke gezogen. Ein Zipfel der Leinwand schlug sich zurück und der Kopf des Vater Sturm fuhr mit einer ungeheuren Pelzmütze heraus. Der Riese blickte auf Anton und die Hausknechte, welche sich um den Wagen drängten, von der Höhe herunter, wie der große Knecht Ruprecht auf die erschrockenen Kinder. Aber sein eigenes Gesicht sah sehr bekümmert aus, dem herantretenden Anton hielt er ein Blatt Papier entgegen: »Lesen Sie dieses, Herr Wohlfart. Einen solchen Brief habe ich von meinem armen Karl bekommen. Ich muß sogleich zu ihm. – Auf das Gut hinter Rosmin«, erklärte er dem Kutscher, einem stämmigen Fuhrmann, der neben dem Wagen stand.[803]

Anton sah in den Brief, es waren die ungeschickten Buchstaben des Försters; erstaunt las er den Inhalt: »Mein lieber Vater, ich kann nicht zu Dir kommen, denn ein Sensenmann hat mir jetzt abgehauen, was von der Hand noch übrig war. Deshalb bitte ich Dich, sogleich nach Empfang dieses Briefes zu Deinem armen Sohn zu reisen. Du nimmst einen großen Wagen und fährst damit bis Rosmin. Dort hältst Du vor dem roten Hirsch. Im Hirsch wartet ein Wagen und ein Knecht vom Gut auf Dich. Der Knecht versteht kein Wort Deutsch, ist aber sonst ein guter Kerl, er wird Dich schon erkennen. Zu der Reise kaufst Du Dir einen Pelz, auch Pelzstiefel, diese müssen bis über die Knie gehn und unten mit Leder besetzt sein. Wenn Du für Deine großen Beine keine Stiefel findest, so muß der Gevatter Kürschner Dir noch in der Nacht über Deine Füße einen Pelz nähen. Grüße Herrn Wohlfart. Dein getreuer Karl.«

Anton hielt den Brief in seiner Hand und wußte nicht gleich, was er daraus machen sollte.

»Was sagen Sie zu diesem neuen Unglück?« frug der Riese traurig.

»Jedenfalls müssen Sie sogleich zu Ihrem Sohn«, erwiderte Anton.

»Natürlich muß ich hin«, sagte der Auflader. »Das Unglück trifft mich hart, gerade jetzt, übermorgen sind's fünfzig.«

Anton merkte den Zusammenhang. »Sind Sie denn aber auch vorbereitet, wie Karl will?«

»Ich bin's«, sprach der Riese und schlug die Leinwanddecke zurück, »es ist alles in Ordnung, der Pelz und auch die Stiefel.« Anton sah in den Wagen und hatte Mühe, ernst zu bleiben. In einen großen Wolfspelz eingewickelt nahm Sturm die ganze Breite des Wagens ein. Auch seine Füße waren mit einem Wolfsfell übernäht; wenn er jemals einem Ungeheuer ähnlich gewesen, so war er es jetzt. Er stieß mit seiner Mütze oben an die weiße Leinwand, und die Säulen seiner Füße füllten den ganzen Wagenraum zwischen Vorder- und Rücksitz. Er saß auf einem Bettsack und hatte einen Futtersack zur Rücklehne. Das wenige, was noch von leerem Raum in dem Wagen übrig war, wurde in Anspruch genommen durch allerlei Ballen und Eßkober, welche die Kameraden ihrem scheidenden Obersten kunstvoll zusammengeschnürt[804] und angebunden hatten, kleine Tonnen und Kisten waren um ihn herum eingestaut und gerade vor ihm hing eine geräucherte Wurst und eine Reiseflasche von dem Reifen herab. So saß er wie ein Bär der Urwelt in seinem Winterlager. Ein großer Säbel lehnte an seiner Seite: »Gegen diese Sensenmänner«, sagte er und schüttelte ihn zornig. – »Jetzt habe ich noch eine große Bitte an Sie. Den Schlüssel zu meinem Hause verwahrt der Wilhelm, diese Kiste bitte ich Sie zu übernehmen, hierin steckt, was unter meinem Bett stand; heben Sie's auf für den Karl.«

»Ich werde die Kiste Herrn Schröter übergeben«, erwiderte Anton, »er ist nach dem Bahnhof gefahren und muß jeden Augenblick zurückkehren.«

»Grüßen Sie ihn«, sagte der Riese, »ihn und Fräulein Sabine, und sagen Sie beiden, daß ich ihnen von Herzen danke für alle Freundlichkeit, die sie in meinem Leben mir und dem Karl bewiesen haben.« – Bewegt sah er in den Hausflur hinein. »Manches liebe Jahr habe ich dort drinnen hantiert; wenn die Ringe an Ihren Zentnern glatt sind wie poliert, meine Hände haben redlich dazu geholfen. Was dieses Geschäft durchgemacht hat seit dreißig Jahren, das habe ich mit durchgemacht, Gutes und Trauriges; aber ich kann wohl sagen, Herr Wohlfart, wir waren immer tüchtig. Ich werde Eure Fässer nicht mehr rollen«, fuhr er zu den Hausknechten gewandt fort, »und ein anderer wird Euch helfen, die Leiterbäume an den Wagen setzen. Denkt manchmal an den alten Sturm, wenn Ihr ein Zuckerfaß anbindet. Es kann nichts ewig bleiben auf der Welt, auch wer stark ist, geht zum Ende; aber diese Handlung, Herr Wohlfart, soll stehen und blühen, so lange sie einen Chef hat, wie diesen, und Männer, wie Sie, und ehrliche Hände an der Waage. Dieses ist meines Herzens Wunsch.« Er faltete seine Hände auf dem Weidengeflecht und Tränen rollten über seine Wangen. »Und jetzt leben Sie wohl, Herr Wohlfart, geben Sie mir Ihre Hand.« Er zog einen großen Fausthandschuh aus und steckte seine Hand aus dem Wagen heraus. »Und Ihr, Peter, Franz, Gottfried, Ihr Hausknechte alle, lebt wohl und denkt freundlich an mich.« Der Hund Sabinens kam wedelnd an den Wagen und sprang an dem Weidenkorb herauf. »Da ist auch der alte Pluto«, rief Sturm und fuhr mit der Hand auf den Kopf des Hundes. »Pluto, adjes.« Der Hund leckte ihm die Hand.[805]

»Adjes alle!« rief der Scheidende. »Nach Rosmin, Kutscher!« So zog er sich in den Wagen zurück. Der Frachtwagen rasselte über das Pflaster, nach einer Weile öffnete sich noch einmal die weiße Leinwand, der große Kopf Sturms sah noch einmal zurück, und seine Hand winkte.

Anton war durch mehrere Tage in lebhafter Besorgnis um das Schicksal Sturms. Endlich kam ein Brief von Karls Hand.

Lieber Herr Wohlfart, schrieb Karl, Sie werden wohl gemerkt haben, weshalb ich die letzten Zeilen an meinen Goliath schrieb. Er mußte fort aus seiner Stube, und ich mußte ihn von seinem Eigensinn wegen des Geburtstages abbringen. Deshalb erdachte ich in meiner Angst eine Notlüge. Es kam also folgendermaßen.

Am Tage vor seinem Geburtstag erwartete ihn der Knecht zu Rosmin im Hirsch. Ich selber war in die Schenke gegenüber geritten, um zu sehn, wie der Vater ankam und wie er aussah. Ich hielt mich versteckt. Gegen Mittag kam der Wagen langsam angerasselt. Der Fuhrmann half dem Vater vom Wagen, denn das Absteigen wurde ihm sehr sauer, so daß ich wegen der Beine große Furcht bekam, es war aber mehr der Pelz und das Schütteln des Wagens schuld. Der Alte nahm auf der Straße einen Brief in die Hand und las darin, dann stellte er sich vor den Jasch, der zum Wagen gelaufen war und der tun sollte, als verstehe er kein Wort Deutsch, und machte vor ihm verschiedene Zeichen und erschreckliche Bewegungen mit den Händen. Er hielt seine Hand zwei Fuß vom Steinpflaster, und als der Knecht mit dem Kopf schüttelte, duckte der Alte sich selbst auf die Erde. Dies sollte so viel bedeuten, als »mein Zwerg«, aber der Jasch konnte es nicht verstehn, dann packte der Vater das Gelenk seiner einen Hand mit der andern und schüttelte die Hand heftig vor Jaschs Nase, so daß der Knecht, der ohnedies schon über den großen Mann erschrocken war, beinahe weggelaufen wäre. Endlich aber wurde der Vater mit seinen Sachen in unseren Korbwagen geschafft, nachdem er noch einigemal um unseren Wagen herumgegangen war und ihn mit Mißtrauen befühlt hatte. So fuhr er ab. Dem Knecht hatte ich gesagt, er sollte auf geradem Weg nach der Försterei fahren, und hatte mit dem Förster alles verabredet. Ich ritt auf einem Seitenwege vor, und als der Wagen gegen Abend ankam,[806] sprang ich in des Försters Bett und ließ mir die Hand unter der Bettdecke festbinden, um sie nicht in der Freude herauszustecken. Als der Alte zu meinem Bett trat, war er so sehr gerührt, daß er weinte, und es tat mir in der Seele weh, daß ich ihn täuschen mußte. Ich erzählte ihm, daß es schon wieder besser wäre, und daß mir der Arzt erlaubt hätte, am nächsten Tag aufzustehn. Darauf wurde er ruhiger und sagte mir mit wichtiger Miene, das wäre ihm lieb, denn morgen wäre für ihn ein großer Tag, morgen müßte ich an sein Bett. Somit fing er wieder von seinem Unsinn an. Aber nicht lange, so wurde er lustig, der Förster kam dazu, und wir aßen, was das gnädige Fräulein mir vom Schloß geschickt hatte. Ich setzte dem Alten Bier vor, welches er sehr schlecht fand, darauf machte der Förster Punsch, und wir tranken alle drei recht tapfer, der Vater mit seinen verzweifelten Gedanken, ich mit der abgehauenen Hand, und der Förster.

Von der langen Reise, der warmen Stube und dem Punsch wurde der Vater bald schläfrig. Ich hatte für eine große Bettstelle gesorgt, die in des Försters Stube aufgestellt war. Er küßte mich beim Gutenachtgruß noch auf den Kopf, klopfte auf die Bettdecke und sagte: »Also morgen, mein Zwerg.« Gleich darauf war er eingeschlafen. Und wie fest schlief er. Ich fuhr aus des Försters Bett und wachte die Nacht bei ihm in der Stube, es war eine bangsame Nacht, und ich mußte immer wieder auf seinen Atemzug hören. Spät am anderen Morgen wachte er auf. Sobald der Alte sich im Bett rührte, trat der Förster in die Stube, und schon an der Tür schlug er die Hände zusammen und rief einmal über das andere: »Aber Herr Sturm, was haben Sie gemacht!« »Was habe ich denn gemacht?« frug mein Goliath noch halb im Schlaf und sah sich ganz erstaunt in der Stube um. Es war ein großes Geschrei der Vögel, und die ganze Wirtschaft kam ihm so fremd vor, daß er gar nicht wußte, ob er noch auf der Erde war. »Wo bin ich denn?« rief er, »dieser Ort steht nicht in der Bibel.« Der Förster aber rief immerzu: »Nein, so etwas ist noch nicht erhört worden!« bis der Alte ganz erschrocken wurde und ängstlich frug: »Na, was denn?« – »Was haben Sie gemacht, Herr Sturm?« rief der Förster, »Sie haben eine Nacht, und einen Tag und wieder eine Nacht geschlafen.« »Warum nicht gar«, sagte mein Alter, »heut ist der dreizehnte, es ist Mittwoch.« »Nein«, sagte der Förster,[807] »heut ist der vierzehnte, es ist Donnerstag.« So zankten die beiden miteinander. Endlich holte der Förster seinen Kalender, in welchem er alle vergangenen Tage ausgestrichen hatte und auch den gegenwärtigen Mittwoch mit einem dicken Strich, und hatte zum Dienstag unter seine Bemerkungen geschrieben: »Heut 7 Uhr ist der Vater des Amtmann Sturm angekommen, ein großer Mann, kann viel Punsch vertragen«, und Mittwoch: »Heut hat dieser Vater den ganzen Tag über geschlafen.« Mein Alter sah hinein und sagte endlich ganz verwirrt: »Es ist richtig. Hier haben wir's schriftlich. Dienstag um sieben Uhr bin ich gekommen, die Größe und der Punsch, alles stimmt, der Mittwoch ist quittiert, es ist heut Donnerstag, es ist der vierzehnte.« Er legte den Kalender hin und saß ganz betreten in seinem Bett. »Wo ist mein Sohn Karl?« rief er endlich. Jetzt trat ich in die Stube, ich hatte meine Hand unter den Rock gebunden und verstellte mich ebenso wie der Förster, bis der Alte endlich rief: »Ich bin wie behext, ich weiß nicht, was ich denken soll.« »Siehst du denn nicht«, sprach ich, »daß ich außer Bett bin? Gestern, als du schliefst, war der Doktor hier und hat mir erlaubt, aufzustehn. Jetzt bin ich schon so stark, daß ich den Stuhl hier mit steifem Arm heben kann.« »Nur nichts Schweres mehr«, sagte der Alte. »Und auch deinetwegen habe ich mit dem Doktor gesprochen«, redete ich weiter, »er ist ein kluger Mann und hat uns gesagt, entweder – oder; entweder er geht drauf, oder er schläft sich durch. Wenn er den ganzen Tag schläft, hat er's überstanden. Es ist gefährlich für ihn, es kommen manchmal solche Zufälle bei den Menschen vor.« »Bei uns Aufladern«, sagte darauf der Alte. So brachten wir ihn dazu, daß er aus dem Bett aufstand. Und er war recht munter. Aber ich hatte doch den ganzen Tag große Sorge und ging ihm nicht von der Tasche. Er durfte nicht aus dem Hof heraus. Und doch wäre am Nachmittag bald alles verloren gewesen, als der Vogt ankam, mich zu sprechen. Glücklicherweise hielt der Förster die Hoftür verschlossen, er ging hinaus und unterwies den Vogt. Als dieser hereinkam, rief ihm mein Vater schon von weitem entgegen: »Welcher Tag ist heut, Kamerad?« »Donnerstag«, sagte der Vogt, »der vierzehnte.« Da lachte der Vater über das ganze Gesicht und rief: »Jetzt ist's sicher, jetzt glaub' ich's.« Noch eine Nacht schlief er beim Förster, bis der Geburtstag überstanden war.[808]

Am nächsten Morgen ließ ich den Wagen kommen und fuhr ihn nach dem Hof und führte ihn in die Stube, gegenüber der meinen, wo der Techniker gewohnt hat. Ich hatte ihm die Stube schnell eingerichtet, Herr von Fink, welcher von allem wußte, hatte handfeste Möbel aus dem Schloß herüberschaffen lassen, ich hatte dem Vater den alten Blücher hereingehängt, hatte die Rotkehlchen hereingelassen, die Hobelbank hereingestellt und einiges Werkzeug dazu, damit die Stube für ihn bequem war. Und jetzt sagte ich ihm: »Dies ist deine Wohnung, Alter. Du mußt jetzt bei mir bleiben.« »Oho«, sagte er, »dieses geht nicht, mein Zwerg.« »Es wird nicht anders sein«, sagte ich wieder, »ich will es, Herr von Fink will es, Herr Wohlfart will es, Herr Schröter will es. Du mußt dich ergeben. Wir werden uns jetzt nicht mehr trennen, so lange wir beide noch zusammen auf dieser Erde sind.« Und darauf zog ich meine Hand aus dem Rock und hielt ihm eine tüchtige Strafrede, wie ungesund sein Leben gewesen sei, und daß er seiner Einbildungen wegen mich verlassen wolle, so lange, bis er ganz weichherzig wurde und mir alles mögliche Gute versprach. Darauf kam Herr von Fink herüber und begrüßte den Vater in seiner lustigen Weise, und am Nachmittag kam das Fräulein und brachte den Herrn Baron geführt. Der blinde Herr freute sich außerordentlich über den Vater, seine Stimme gefiel ihm sehr, und er fühlte oft nach der Größe, und beim Abschied nannte er ihn einen Mann nach seinem Herzen. Und das muß wohl sein, denn der Herr kommt seitdem alle Nachmittage zum Vater in die kleine Stube und hört zu, wie der Vater schnitzt und pocht.

Noch ist der Vater verwundert über alles, was er hier sieht, auch mit dem Tage, den er verschlafen hat, ist er noch nicht ganz im reinen, obgleich er's wohl merkt, denn er faßt mich manchmal mitten in der Unterredung beim Kopf und nennt mich einen Spitzbuben. Dieses Wort wird er jetzt wohl für den alten Zwerg in seiner Rede einführen, obgleich es für einen Amtmann noch schlimmer ist. Er wird sich auf die Stellmacherei legen, er hat heut schon über Radspeichen geschnitzt. Ich fürchte nur, er wird sehr ins Schwere arbeiten. Ich bin froh, daß ich ihn hier habe, und daß alles so abgelaufen ist, wenn er nur erst den Winter überstanden hat, wird er die Schwäche in seinen Füßen schon auslaufen. Das[809] kleine Haus will er verkaufen, aber nur an einen Auflader. Er läßt Sie bitten, dasselbe dem Wilhelm anzutragen, welcher zur Miete wohnt, er soll's billiger haben, als ein Fremder.

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 792-810.
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