6

[810] Acht Tage nach dem Untergang des Advokaten saß Anton in seinem Zimmer und schrieb an Fink. Er teilte diesem mit, daß man den Leichnam des Advokaten am Ende der Stadt beim Wehr aus dem Wasser gezogen habe, die Ursache seines Todes sei nicht klar. Ein Kind aus dem Hause, in welchem der Mann wohnte, hatte erzählt, daß es ihm am Abende der Haussuchung nahe bei seiner Wohnung auf der Straße begegnet war; seitdem war der Tote nicht wieder erblickt worden. Unter diesen Umständen sei ein Selbstmord nicht unmöglich. Der Polizeibeamte jedoch halte die Ansicht fest, daß der herabgeschlagene Hut eine fremde Hand indiziere. Beim Durchsuchen der Wohnung habe man die Papiere nicht gefunden. Die weitern Nachforschungen der Polizei seien bis jetzt ohne Erfolg gewesen. Seine eigene Meinung über den furchtbaren Zwischenfall gehe dahin, daß Itzig auch hierbei eine Schuld habe.

Da wurde die Tür geöffnet, der Galizier trat hastig in das Zimmer und legte, ohne zu sprechen, eine alte Brille mit rostiger Stahleinfassung vor Anton auf den Tisch. Anton sah in das verstörte Gesicht des Mannes und sprang auf.

»Seine Brille«, flüsterte Tinkeles in heiserem Tone, »ich habe sie gefunden beim Wasser. Gerechter Gott, daß man muß erleben solchen Schreck!«

»Wessen ist die Brille, und wo habt Ihr sie gefunden?« frug Anton; ihm ahnte, was der Galizier zu sagen nicht die Kraft hatte, und sein Auge sah scheu nach den trüben Gläsern. »Faßt Euch, Tinkeles, und sprecht.«

»Es kann nicht bleiben verborgen, es schreit zum Himmel«, rief der Galizier in heftiger Bewegung. »Sie sollen hören alles, wie es verlaufen ist. Zwei Tage, nachdem ich habe gesprochen mit Ihnen wegen der hundert Taler, bin ich gegangen des Abends zu Löbel Pinkus in die Schlafstelle. Wie ich bin in das Haus getreten, ist ein Mann im Finstern an mich angerannt. Ich habe gedacht,[810] ist das der Itzig, oder ist er's nicht? Ich habe mir gesagt, es ist der Itzig; es ist sein Laufen, wie er läuft, wenn er in Eile ist. Als ich bin gekommen hinauf in die große Stube, ist alles gewesen leer, und ich habe mich gesetzt zum Tisch und habe nachgesehen in meiner Brieftasche. Und wie ich sitze, geht draußen der Wind, und es klopft an das Geländer, und es klopft immerfort, als wenn einer draußen steht, der herein will, und kann nicht öffnen die Tür. Ich habe mich erschreckt und habe meine Briefe eingepackt und habe gerufen: Ist jemand hier, so soll er sagen, daß er hier ist. Es hat keiner geantwortet, aber es hat an der Türe geklappert ohne Aufhören. Da habe ich mir gefaßt ein Herz, ich habe genommen die Lampe und bin gegangen an das Geländer und habe geleuchtet in alle Winkel. Ich habe niemand gesehen. Und wieder hat's geklopft dicht vor mir und hat gegeben einen großen Krach; da ist aufgeflogen eine Tür, welche niemals offen gewesen ist, und von der Tür hat eine Treppe hinuntergeführt ins Wasser. Als ich nun habe geleuchtet auf der Treppe, habe ich gesehen, daß ein nasser Fuß hat getreten auf die Stufen und ist heraufgekommen; die Spuren von dem Fuße sind gewesen zu sehen bis in die Stube, nasse Flecke auf dem Boden. Und ich habe mich gewundert und habe zu mir gesagt: Schmeie, habe ich gesagt, wer ist gegangen bei der Nacht aus dem Wasser herauf in die Stube, und hat offengelassen die Tür, wie ein Geist? Es kümmert dich nicht, habe ich mir gesagt, es ist nicht dein Geschäft. Und ich habe mich gefürchtet.

Und eh' ich zuschließe die Tür, habe ich mit der Lampe noch einmal auf die Treppe geleuchtet, und da habe ich unten am Wasser auf der letzten Stufe etwas gesehen, das gefunkelt hat im Licht. Und ich habe mich hinuntergewagt eine Stufe nach der andern, weh, ich kann Ihnen sagen, Herr Wohlfart, es ist gewesen eine schwere Arbeit. Der Wind hat geheult und hat geblasen um meine Lampe, und der Weg die Treppe hinunter ist gewesen so finster wie ein Brunnen. Und was ich aufgehoben habe, ist gewesen dieses da«, - er wies auf die Brille - »das Glas, das er vor seinen Augen getragen hat.«

»Und woher wißt Ihr, daß es die Brille des Toten ist?« fragte Anton gespannt.

»Sie ist zu erkennen an dem Gelenk, das verbunden ist mit[811] schwarzem Zwirn. Ich habe ihn mit dieser Brille beim Pinkus in der Stube gesehn mehr als einmal. Darauf habe ich die Brille zu mir gesteckt, und ich habe gedacht, ich will dem Pinkus nichts sagen von der Geschichte und will das Glas geben dem Hippus selbst und sehen, ob es mir kann nützen für unser Geschäft. Und ich habe die Brille bei mir getragen bis heut und habe auf den Hippus gewartet, und als er nicht gekommen ist, habe ich den Pinkus gefragt, und dieser hat mir geantwortet: ›Weiß ich doch auch nicht, wo er steckt.‹ Und heute zum Mittag, als ich gekommen bin in die Herberge, ist mir der Pinkus entgegengelaufen und hat mir gesagt: ›Schmeie, hat er gesagt, wenn Ihr den Hippus noch sprechen wollt, so müßt Ihr gehn ins Wasser; er ist gefunden worden im Wasser.‹ Das ist mir gewesen wie ein Schuß in mein Herz, als er mir gesagt hat: geh ins Wasser und such dir ihn. Und ich habe mich halten müssen an die Wand.«

Anton eilte an den Schreibtisch, schrieb einige Zeilen an den Beamten, der erst vor kurzem das Zimmer verlassen hatte, klingelte und gab dem Diener den Auftrag, das Billett eiligst abzugeben.

Unterdes war Tinkeles wie gebrochen auf einen Stuhl gesunken, er starrte auf die Tischplatte und murmelte vor sich in unverständlichen Tönen.

Anton ging nicht weniger ergriffen im Zimmer auf und ab. Es war ein trauriges Schweigen. Nur einmal wurde es unterbrochen, als der Galizier von seinem Gemurmel zu lauten Tönen überging und fragte: »Glauben Sie, daß die Brille wert sein wird die hundert Taler, die Sie für mich haben in Ihrem Schreibtisch?«

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Anton kurz und setzte seinen Weg durch die Stube fort.

Schmeie verfiel wieder in Abspannung und Seufzen, schlug manchmal seine zitternden Hände ineinander und gurgelte vor sich hin. Endlich blickte er wieder auf und sagte: »Aber zum wenigsten doch fünfzig?«

»Schweigt jetzt mit Eurem Schacher«, erwiderte Anton streng.

»Was soll ich schweigen«, rief Tinkeles entrüstet, »ich stehe aus eine große Angst, soll das sein um gar nichts?« Und wieder versank er in seinen Schmerz.[812]

Die Unterhaltung wurde durch die Ankunft des Beamten unterbrochen. Der gewandte Mann ließ den Händler noch einmal seinen Bericht wiederholen, nahm die Brille, bestellte einen Wagen für sich und den widerstrebenden Tinkeles und sagte beim Abschiede zu Anton: »Machen Sie sich gefaßt auf eine schnelle Entwickelung; ob ich meinen Willen durchsetze, ist noch zweifelhaft; für Sie ist aber jetzt einige Aussicht da, die Dokumente, welche Sie suchen, aufzufinden.«

»Um welchen Preis!« rief Anton schaudernd.

Die Zimmer im Hause Ehrenthals waren hell erleuchtet, durch die herabgelassenen Vorhänge fiel ein trüber Schimmer in den Sprühregen, der aus der dicken Nebelluft auf die Straße sank. Mehrere Räume waren geöffnet, schwere silberne Leuchter standen umher, glänzende Teekannen, bunte Prozellanschalen, alles Schaugerät war gebürstet, gewaschen und aufgestellt, der dunkle Fußboden war neu gebohnt, sogar die Küchenfrau trug eine neugeplättete Haube; das ganze Haus hatte sich gewaschen und gereinigt. Die schöne Rosalie stand mitten unter dieser Herrlichkeit in einem Kleid von gelber Seide mit purpurroten Blüten geschmückt, schön wie eine Huri des Paradieses, und bereit wie diese, den Auserwählten zu empfangen. Die Mutter strich ihr die Falten des schweren Stoffes zurecht, sah triumphierend auf ihr Werk und sagte in einer Anwandlung von mütterlichem Gefühl: »Was du heut schön bist, Rosalie, mein einziges Kind.« Aber Rosalie war zu sehr gewöhnt an diese Huldigungen der Mutter, sie achtete wenig auf das Lob und nestelte unwirsch an einem Armband, welches auf ihrem vollen Arm durchaus nicht festhalten wollte. »Daß der Itzig mir Türkise gekauft hat, war wieder recht unpassend von ihm, er hätte auch wissen können, daß sie nicht in der Mode sind.«

»Sie sind gut gefaßt«, sagte die Mutter beruhigend, »es ist ein schweres Gold, und die Fasson ist nach dem neusten Geschmack.«

»Und wo bleibt Itzig? Heut sollt' er doch kommen zur rechten Zeit; die Familie wird da sein, und der Bräutigam wird fehlen«, fuhr Rosalie schmollend fort.

»Er wird zur Stunde kommen«, antwortete Itzigs Patronin, »du weißt, wie er sich müht und arbeitet, damit du ein glänzendes[813] Haus machen kannst. Du bist glücklich«, schloß sie seufzend. »Du trittst jetzt in das Leben, und wirst eine angesehene Frau. Ihr werdet nach der Trauung zuerst auf einige Wochen nach der Residenz reisen, wo der Itzig dich vorstellen wird meiner Familie, und wo Ihr miteinander in aller Ruhe die Flitterwochen verleben könnt. Unterdes werde ich euch dieses Quartier einrichten, und ich werde hinaufziehn in den obern Stock. Ich werde den Rest meines Lebens den Ehrenthal pflegen und mit ihm sitzen in der leeren Stube.«

»Soll der Vater heut in die Gesellschaft kommen?« frug Rosalie.

»Es muß sein wegen der Familie, daß er herein kommt; er muß als Vater den Segen über euch sprechen.«

»Er wird uns einen Affront machen und wieder törichtes Zeug reden«, sagte die kindliche Tochter.

»Ich habe ihm gesagt, was er sprechen soll«, antwortete die Mutter, »und er hat mir zugenickt zum Zeichen, daß er es hat verstanden.«

Es klingelte, die Tür öffnete sich, die Verwandtschaft erschien. Bald füllten sich die Zimmer. Damen in schweren seidenen Kleidern mit Goldschmuck, blitzenden Ohrringen und Ketten besetzten das große Sofa und die Stühle der Runde. Es waren meist volle Gestalten, hier und da ein brennendes dunkles Auge, eine imposante Gestalt. Sie saßen in getrennter Versammlung wie ein buntes Tulpenbeet, in welches der Gärtner vermieden hat, eine dunkle Blüte zu setzen. Und wieder in Gruppen standen die Männer, schlaue Gesichter, die Hände in den Hosentaschen, weniger feierlich und weniger behaglich. So harrte die Verwandtschaft des Bräutigams, der immer noch zu kommen säumte.

Endlich erschien er, der gezeichnet war. Argwöhnisch fuhr sein Auge umher, unsicher klang sein Gruß an die Braut. Er strengte sich an bis aufs äußerste, nur einige Redensarten zu finden, die er dem schönen Mädchen hinwerfen konnte, und er selbst hätte grimmig lachen mögen über die Leere, die er in sich fühlte. Er sah nicht ihr glänzendes Auge, nicht den schönen Hals und die Pracht des Leibes; als er zu ihr trat, mußte er auf einmal an etwas anderes denken, woran er jetzt immer dachte. Er wandte sich schnell von Rosalie ab und trat in den Haufen der Herren, der nach seiner[814] Ankunft gesprächiger wurde. Einige gleichgültige Redensarten der Jüngern wurden gehört, als: »Fräulein Rosalie sieht bezaubernd aus« und: »Ob der Ehrenthal kommen wird?« und: »Dieser lange Nebel ist ungewöhnlich, er ist ungesund, man muß Jacken von Flanell tragen«, bis aus einem Munde die Worte kamen: »Viereinhalbprozentige.« Da hörten die Fragen auf, es war ein Gespräch gefunden. Itzig war einer der lautesten, er gestikulierte nach allen Seiten. Man redete von den Kursen, von der Wolle und von dem Unglück eines Geschäftsmannes, der in Papieren so viel gemacht hatte, daß er gefallen war. Die Frauen waren vergessen, und an solche Isolierung gewöhnt, hielten sie feierlich die Teetassen in der Hand, strichen die Falten an ihren Gewändern zurecht und bewegten anmutig Hals und Arm, daß ihre Ketten und Armbänder im Kerzenlicht blitzten.

Da ward die Unterhaltung durch ein Geräusch unterbrochen, eine Tür ging auf, allgemeine Stille entstand, ein schwerer Armstuhl wurde in das Zimmer gerollt.

Auf diesem Armstuhl saß ein alter Mann mit weißem Haar, ein dickes aufgedunsenes Gesicht, zwei glotzende Augen, welche vor sich hin starrten, der Leib gekrümmt, die Arme schlaff über die Lehne herabhängend. Das war Hirsch Ehrenthal, ein blödsinniger Greis. Als der Stuhl in die Mitte der Versammlung niedergesetzt war, sah er sich langsam um, nickte mit dem Kopf und wiederholte die eingelernten Worte: »Guten Abend, guten Abend.« Seine Frau beugte sich zu ihm herab und rief mit lauter Stimme in sein Ohr: »Kennst du die Herrschaften, welche hier sind? Es ist die Verwandtschaft.«

»Ich weiß«, nickte die Gestalt, »es ist eine Soiree. Sie sind alle gegangen zu einer großen Soiree, und ich bin allein geblieben in meiner Stube. - Und ich habe gesessen an seinem Bett. Wo ist der Bernhard, daß er nicht kommt zu seinem alten Vater?« Die Anwesenden, welche den Lehnstuhl umringt hatten, traten verlegen zurück, und die Hausfrau schrie dem Alten wieder ins Ohr: »Bernhard ist verreist, aber deine Tochter Rosalie ist hier.«

»Verreist ist er?« frug der Alte traurig, »wohin kann er doch sein verreist? Ich habe ihm wollen kaufen ein Pferd, daß er kann darauf reiten, ich habe ihm kaufen wollen ein Gut, damit er soll leben als ein anständiger Mensch, was er immer ist gewesen. Ich[815] weiß«, rief er, »als ich ihn habe gesehn das letzte Mal, ist er gewesen auf einem Bett. Auf dem Bett hat er gelegen, und er hat seine Hand erhoben und hat sie geschüttelt gegen seinen Vater.« Er sank in den Stuhl zurück und wimmerte leise.

»Komm her, Rosalie«, rief die Mutter, geängstigt durch diese Phantasie des Schwachsinnigen. »Wenn dich der Vater sieht, mein Kind, kommt er auf andere Gedanken.« Die Tochter trat heran und kniete, ihr Taschentuch unterbreitend, vor dem Stuhl des Vaters. »Kennst du mich, Vater?« rief sie.

»Ich kenne dich«, sprach der Alte, »du bist ein Weib. Was braucht ein Weib zu liegen auf der Erde? Gebt mir meinen Gebetsmantel und sprecht die Gebete. Ich will knien an deiner Stelle und beten, denn es ist gekommen eine lange Nacht. Aber wenn sie wird vorüber sein, dann werden wir anzünden die Lichter und werden essen. Dann wird es Zeit sein, daß wir die bunten Kleider anziehn. - Was trägst du einen bunten Rock, jetzt, wo der Herr zürnt auf die Gemeinde?« – Er begann ein Gebet zu murmeln und sank wieder in sich zusammen.

Rosalie erhob sich unwillig; die Mutter sagte in großer Verlegenheit: »Es ist heut ärger mit ihm, als es jemals gewesen ist. Ich habe gewollt, daß der Vater gegenwärtig sein sollte beim Ehrentage der Tochter, aber ich sehe, daß er die Pflichten des Hausherrn nicht erfüllen kann. So werde ich als Mutter der Gesellschaft eine frohe Mitteilung machen.« Sie faßte feierlich die Hand ihrer Tochter: »Treten Sie näher, Itzig.«

Itzig hatte bis dahin stumm unter den andern gestanden und auf den Alten gestarrt. Er hatte zuweilen mit den Achseln gezuckt und mit dem Kopfe geschüttelt über den Unsinn des Kranken, weil er fühlte, daß das bei seiner Stellung in der Familie schicklich war. Aber vor seinem Auge schwebte eine andere Gestalt, er wußte besser als die andern, wer jammerte und stöhnte, er wußte auch, wer gestorben war und nicht verziehen hatte. So trat er mechanisch neben die Frau vom Hause, den Blick stier auf den Alten gerichtet. Die Gäste umringten im Kreise ihn und Rosalie, die Mutter ergriff seine Hand.

Da fing der Alte in seinem Lehnstuhl wieder an zu schwatzen. »Seid still«, sagte er vernehmlich, »dort steht er, der Unsichtbare. Wir gehn heim vom Begräbnis, und er tanzt unter den Weibern.[816]

Wen er ansieht, dem schlägt er die Glieder. Dort steht er«, schrie er laut und erhob sich aus seinem Stuhl. »Dort – dort. – Stürzt Eure Wasserbecken um und flieht in die Häuser. – Denn der da steht, er ist verflucht vor dem Herrn. Verflucht!« schrie er und ballte die Hände und wankte wie rasend auf Itzig zu.

Itzigs Gesicht wurde fahl, er versuchte zu lachen, aber seine Züge verzogen sich in grimmiger Angst. Da wurde schnell die Tür aufgerissen, sein Laufbursche sah ängstlich herein. Itzig warf nur einen Blick auf den Knaben, und er wußte alles, was der andere ihm sagen wollte. Er war entdeckt, er war in Gefahr. Er sprang zur Tür und war verschwunden.

Lege deinen Brautschmuck ab, schöne Rosalie, wirf das goldene Armband mit Türkisen in die finstere Ecke des Hauses, wo der Moder an den Wänden sitzt und nie ein Lichtstrahl auf Gold und Edelsteine blitzt. Die Steine sollen verbleichen und das Gold unscheinbar werden im Laufe der Jahre, die Kellerasseln sollen in den Gliedern des Armrings ihr Lager aufschlagen und durch das goldene Kettengelenk schlüpfen. Langbeinige Spinnen werden darüberkriechen und werden ihre Röhre daran spinnen, um einfältige Fliegen in der Finsternis zu überraschen. Wirf das Armband weit weg von dir, denn jeder Gran Gold daran ist durch eine Schurkerei bezahlt. Zieh dein hochzeitlich Gewand aus und hülle deinen schönen Leib in Trauerkleider, und von den Blumen in deinem Haar pflücke die Blätter ab und wirf sie hinaus in die Nacht, dem kalten Nachtwind zum Spiele. Sieh ihnen nach, wie sie im Lichtscheine des Fensters flattern und in dem Dunkel verschwinden; sie fallen hinab in den Schmutz der Straßen, und der Fuß der Vorübergehenden bedeckt sie mit Schlamm. Du wirst keine Verlobung, kein Hochzeitsfest feiern mit deinem vielversprechenden Bräutigam; du wirst in den nächsten Tagen mit gesenktem Haupt über die Straßen eilen, und wo du vorübergehst, werden die Leute einander anstoßen und flüstern: »Das ist seine Braut.« Und wenn die Zeit kommt, wo die Hoffnung der Mutter dich in der Residenz sah, in lustigen Flitterwochen, da wirst du in einer fremden Stadt sitzen, wohin du fliehst, um dem Spott der Boshaften zu entrinnen. Du gehst nicht im Schmerz unter, und deine Wange erbleicht nicht; du hast ein glänzendes Aussehen, und dein Vater hat viel Geld zusammengescharrt; du findest[817] mehr als einen, der bereit ist, der Nachfolger von Itzig zu werden. Dein Los ist, einem heimzufallen, der dein Kapital heiratet und deine Glieder mit vergnügtem Lachen in Kauf nimmt, und du wirst ihn vom ersten Tage deiner Ehe an verachten, und wirst ihn ertragen, wie man einen Schaden trägt, den der Arzt nicht wegschaffen kann. Neue Gewänder von glänzender Seide wirst du tragen, und ein anderer Goldschmuck wird an deinem Arm klirren, und der Inhalt deines Lebens wird sein, als geschmückte Puppe umherzuwandeln und deinen Mann höhnisch mit andern Männern zu vergleichen. Das Geld aber, welches der alte Ehrenthal durch Wucher und Schlauheit mit tausend Sorgen für seine Kinder zusammengebracht hat, das wird wieder rollen aus einer Hand in die andere, es wird dienen den Guten und Bösen, und wird dahinfließen in den mächtigen Strom der Kapitalien, dessen Bewegung das Menschenleben erhält und verschönert, das Volk und den Staat groß macht und den einzelnen stark oder elend, je nach seinem Tun.

Draußen war finstere Nacht, durch die dicke Luft rieselte ein kalter Sprühregen, und die Haut der Fußgänger schauerte unter den dichten Herbstkleidern. Itzig sprang die Treppe hinab. Er hörte noch auf den Stufen eine bebende Stimme: »Die Polizei ist in der Wohnung, sie stehn im Hofe, sie lauern auf der Treppe, sie brechen die Stubentür auf.« Dann hörte er nichts mehr, eine furchtbare Angst überschüttete seine Seele. Mit rasender Schnelligkeit fuhren die Gedanken durch sein Haupt. Flucht, Flucht, schrie alles in ihm. Er fühlte nach seiner Tasche, worin er seit der letzten Woche einen Teil seines Vermögens herumtrug. Er dachte an die Züge der Eisenbahn, es war nicht die Stunde, wo ein Zug abging, der ihn zum Meere führen konnte. Und auf allen Bahnhöfen fand er Verfolger, die auf ihn lauerten. So rannte er hinein in die Nacht durch enge Gassen in entlegene Stadtteile. Wo eine Laterne brannte, fuhr er zurück. Immer flüchtiger wurde sein Gang, immer verworrener der Zug seiner Gedanken. Endlich verließ ihn die Kraft, er kauerte in eine Ecke und preßte die Hände an seinen Kopf, um die Gedanken zusammenzuhalten. Da hörte er das dumpfe Horn des Wächters in seiner Nähe, wenige Schritte von ihm stand der Mann, und seine Hellebarde klapperte an den Schlüsseln, die er am Gürtel trug. Tief zur Erde[818] beugte sich der Flüchtige, die Angst schnürte ihm die Brust zusammen, daß er stöhnte, obgleich es sein Leben galt. Auch hier war die Gefahr. Wieder stürzte er zwischen den Häuserreihen vorwärts auf den einzigen Ort zu, der noch deutlich vor seiner Seele stand, vor dem er sich graute, wie vor dem Tode, und zu dem es ihn doch hinzog, als zu dem letzten Versteck, das er auf Erden noch hatte. Als er in die Nähe der Herberge kam, sah er einen dunklen Schatten vor der Tür. Dort hatte der kleine Mann oft in der Dunkelheit gestanden und auf den heimkehrenden Veitel gewartet. Auch heute stand er dort und wartete auf ihn. Der Unselige fuhr zurück und wieder näher heran, die Tür war frei. Er fuhr mit der Hand nach einem verborgenen Drücker und schlüpfte hinein. Aber hinter ihm hob sich wieder drohend der Schatten aus dem Dunkel eines vorspringenden Kellers, er glitt hinter ihm an die Tür und blieb dort regungslos stehn. Der Flüchtling zog seine Stiefel aus und huschte die Treppe hinauf. Er fühlte sich im Finstern an eine Stubentür, öffnete sie mit zitternder Hand und griff nach einem Schlüsselbund an der Wand. Mit den Schlüsseln eilte er durch den Saal auf die Galerie, wie in weiter Ferne hörte er die Atemzüge schlafender Menschen. Er stand vor der Treppentür. Ein heftiger Schauer schüttelte seine Glieder, wankend stieg er hinunter, Stufe auf Stufe. Als er den Fuß in das Wasser setzte, hörte er ein klägliches Stöhnen. Er hielt sich an die Holzwand, wie der andere getan, und starrte hinunter. Wieder stöhnte es aus tiefster Brust, er merkte, daß er es selbst war, der so Atem holte. Mit dem Fuß suchte er den Gang im Wasser. Das Wasser war gestiegen seit jener Zeit, es ging ihm hoch über das Knie, er hatte Grund gefunden und stand im Wasser.

Finster war die Nacht, immer noch rieselte der Regen durch die schwere Luft, der Nebel überzog Häuser und Galerien längs dem Flusse, nur undeutlich trat eine Wassertreppe, ein stützender Pfeiler oder das Giebeldach eines Hauses aus der dunkelgrauen Masse hervor. Das Wasser staute sich an den alten Pfählen, den Treppen und den Vorsprüngen der Häuser und murmelte eintönig. Es war der einzige Laut in der finstern Nacht, und er drang wie Donnergetös in das Ohr des Mannes. Alle Qual der Verdammten fühlte er jetzt, wo er watend, mit den Händen fühlend, durch Wasser und Regen seinen Weg suchte. Er klammerte sich[819] an das schlüpfrige Holz der Pfähle, um nicht zu sinken. Er stand an der Treppe des Nachbarhauses, er fühlte nach den Schlüsseln in seiner Tasche, noch ein Schwung um die Ecke, und sein Fuß berührte die Stufen der Treppe. Da, als er sich wenden wollte, fuhr er kraftlos zurück, der gehobene Fuß sank in das Wasser, vor sich auf dem Pfahlwerk über der Flut sah er eine dunkle, gebückte Gestalt. Er konnte die Umrisse des alten Hutes erkennen, er sah trotz der Finsternis die häßlichen Züge eines wohlbekannten Gesichts. Unbeweglich saß die Erscheinung vor ihm. Er fuhr mit der Hand an seine Augen und in die Luft, als wollte er sie wegwischen. Es war keine Täuschung, das Gespenst saß wenige Schritt vor ihm. Endlich streckte das Schreckliche eine Hand aus nach Itzigs Brust. Mit einem Schrei fuhr der Verbrecher zurück, sein Fuß glitt von dem Wege herunter, er fiel bis an den Hals ins Wasser. So stand er im Strom, über ihm heulte der Wind, an seinem Ohr rauschte das Wasser immer wilder, immer drohender. Er hielt die Hände in die Höhe, sein Auge starrte noch immer auf die Erscheinung vor ihm. Langsam löste sich die fremde Gestalt von dem Balken, es rauschte auf dem Wege, den er selbst gegangen war, das Gespenst trat ihm näher, wieder streckte sich die Hand nach ihm aus. Er sprang entsetzt weiter ab in den Strom. Noch ein Taumeln, ein lauter Schrei, der kurze Kampf eines Ertrinkenden, und alles war vorüber. Der Strom rollte dahin und führte den Körper des Leblosen mit sich.

An dem Rand des Flusses wurde es lebendig, Pechfackeln glänzten am Ufer, Waffen und verhüllte Uniformen blinkten im Schein der Lichter. Der Zuruf suchender Menschen wurde gehört, und vom Fuß der Treppe watete ein Mann längs dem Ufer und rief hin auf: »Er ist fortgetrieben, bevor ich ihn erreichen konnte, morgen wird er am Wehr zu finden sein.«

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 810-820.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Soll und Haben
Soll und Haben. Roman in sechs Büchern
Soll und Haben
Soll und Haben. 6 Romane in 1 Buch
Soll Und Haben: Roman in Sechs Büchern, Volume 2 (German Edition)

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Die Reise nach Braunschweig

Die Reise nach Braunschweig

Eine Reisegruppe von vier sehr unterschiedlichen Charakteren auf dem Wege nach Braunschweig, wo der Luftschiffer Blanchard einen spektakulären Ballonflug vorführen wird. Dem schwatzhaften Pfarrer, dem trotteligen Förster, dem zahlenverliebten Amtmann und dessen langsamen Sohn widerfahren allerlei Missgeschicke, die dieser »comische Roman« facettenreich nachzeichnet.

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon