An Clemens Brentano.

Ich gieng in Waldes Nacht, den Bach entlang, es rauschte der Strom so gar gesprächig.

Was habt ihr Wellen mir zu sagen, habt in tiefen Klüften Wunderbares ihr gesehen, das ihr mir vertrauen mögtet?

Da steht der alte graue Fels, dem ihr entquollen seyd, ein dunkeles Geheimniß liegt her um ihn, könnt ihr das Wort mir geben?

Es rauschten die Wellen stärker, aber ich verstand ihr Rauschen nicht. Euere Stimme hör ich wohl, aber Zungen habt ihr keine, die Elementensprache kenn ich nicht!

Da ward der Bach gar zornig, er sog mehr Wasser an, und zog reissend nun einher, seine Stimme war ein gewaltig Brausen. Aber ich verstand die Elementensprache nicht!

Ich war gar bestürzt, und gieng an der zürnenden Creatur hinauf, bis da, wo die Silberschlange ihre Höhle im dunkeln alten Felsen hatte.

Da saß ein Mönch, in sich versenkt, und blickte in die klare Welle nieder. Der Bach glitt ruhig hin, und wand sich schmeichelnd um seine Füße her.

Kannst du, lieber Mönch, mir nicht des Baches dunkele Töne deuten? Viel Menschenweisheit tausch ich gegen der Elemente Wissen um.

Es sah der Mönch mich schweigend an. Ich kannte wohl schon eher dich, was ist's das deine Seele treibt?

Das dunkele Wort, das Leben hat, und nimmer bleibende Gestalt, treibt meine Seele um!

Das Wort ist gut, aber wo ist dein Streben hingerichtet?

Die Pforten des Aufgangs such ich immerdar, wo die starken Geschlechter wohnen! Wo steht Phosphorus, ich such' ihn lange schon vergebens?

Der Mönch stand auf, und winkte ernst, ich folgte ihm von ferne nach. Es öffnete der alte Fels sich, wie er angeklopft, wir standen an dem Thor von Erz, vor der Springwurzel wich es prasselnd auseinander.

Ein weiter Dom war uns geöffnet, dunkel glimmte Lampenschein, spiegelglatt zog der Crystallboden in die ferne Dämmerung sich hin.

Tritt auf den Spiegel, sprach der Mönch, sind deine Sünden dir vergeben, und ist dein Streben rein, dann wird der Crystall dich tragen, sonst sinkst du unten in die Grabgewölbe nieder.

Ich trat zagend auf die Spiegelbahn, es krachte unter meinen Füßen sehr, der Mönch gieng neben hin, und sah mich forschend an; ich ermannte mich, mein Streben war ja rein: wir schritten hin, der Crystall war nicht gebrochen.[170]

Wir kamen, tief in des Domes Grund, in die dämmernde Capelle, wo Friedrich Barbarossa saß; der Bart war durch den Tisch ihm durchgewachsen. Um ihn drängten sich die alten Helden Alle.

Es grüste sie der Mönch, ich neigte mich; sie sahen verwundert auf.

Reinold. Wer bringt uns Diesen her?

Siegfried. Er meldet uns Bottschaft aus Alberich's Reich.

Carolus magnus. Monjoye S. Denis, sie haben große Männer oben!

Octavianus. Hornvilla hat, wie man sagt, ein zahlreich Geschlecht erzielt, das auf den Burgen wohnt.

Lionell. Es sind die Löwen Katzen wohl geworden, und spinnen und mausen sehr geschickt?

Florenz. Er soll mir meine Ochsen wiedergeben, der Kauf ist nichtig, ich war nicht majorenn!

Heinrich der Löwe. Sie haben Feuer in meinem Hause angelegt, des Teufels Drohung will in Erfüllung gehen, weil ich den Fährlohn ihm nicht entrichtet.

Herzog Ernst. Eben hat der alte Greiff die Meinigen, in Ochsenhäute eingenäht, den Jungen zum Futter hingetragen.

Wolfdieterich. Steht der Klee recht fett im Rosengarten, das Vieh muß schöne Wampen haben?

Hagene. Sie müssen den Nibelungen-Hort, den ich in den Strom versenkt, jetzt doch aufgefunden haben, es ist viel Geld und Geldeswerth?

Ich sah beschämt am Boden nieder. »Es ist nicht gastlich von euch Ritter, daß ihr so den Fremdling grüst, der euch ehrt und liebt«.

Aengstigt ihn nicht, sprach der Mönch, es ist eben der Heillosen Keiner.

Da sah Barbarossa auf. Was suchst du bei den Todten, Fremdling?

Ich suche das Leben, man muß tief die Brunnen in der Dürre graben, bis man auf die Quellen stößt.

Das Leben ist nicht mehr bei uns, wir haben es als Erbe euch zurückgelassen, ihr habt übel damit hausgehalten.

Dann laßt aus euern Thaten von neuem den Lebensgeist mich ziehen.

Von unsern Thaten sind die Schatten nur uns hinabgefolgt, willst du mit ihnen sprechen, lies in diesen Büchern.

Der Mönch schlug die Bücher auf und deutete, ich las. Die Ritter sprachen fort, aber mit Geisterstimmen, Geistersprache, die Worte gestaltlos, vernehmlich dem Ohre aber unverständlich.

Ich las lange, lange fort; es schien keine Sonne unten, unter den Helden war unaufhörlich unruhige Bewegung. Endlich schien, was sie rührt und regte, vorübergegangen, sie wurden still und ruhig, da schloß der Mönch des Buches Krempen.

Ich sah auf und blickte an der ehrwürdigen Versammlung hin. Im Kreiße saßen die edeln Gestalten traurig da, sie waren nicht mehr zornig.

Geh hin, du wirst Vieles anderst finden. Erzähle was du gesehen und vernommen hast! sprach Friederich.[171]

Ich neigte mich, über den Crystallboden führte mich der Mönch zurück, die Pforten fuhren von neuem prasselnd auseinander, wir giengen durch den Berg dahin, es schien die Sonne wieder, der Mönch verschwand.

Ich sah mich außen um, wie war Alles anderst da geworden! Die alten Bilder waren aus den Nischen herausgeworfen, sie lagen in schmählicher Verstümmlung umhergestreut; die alten Eichen waren hohl geworden von der Zeit, und vom Sturme umgeweht; es würfelten Krieger um Purpurmäntel: alle Marksteine waren ausgegraben.

Wollen die Jahrhunderte im Sturmschritt vorübereilen? Haben sie unten den Becher mir gereicht, in dem man das Leben in einem Zuge schnell vertrinkt; hab' ich in der Vergangenheit meine Zukunft vorweggelebt?

Deckt mir graues Haar den Scheitel, kennen mich denn Jene die mich lieben nicht, ist mein väterlich Haus denn auch in Schutt zerfallen, und stehen verwundert die Nachbarn um den suchenden Wandrer her, der sich in der Zeit verspätet hat, und nach der längst versunknen Jugend fragt?

Wanderer, die du suchst, sind nicht mehr hienieden, dort weht Gras über ihren und ihrer Kinder Gräber!

O wie bin ich alt geworden, wie schlägt das Herz mir zögernd in der Brust, mir ist Alles um mich her so alt geworden, o Knabe auf raschem Roße mit dem Wunderhorn, wie bist du alt geworden!

Es sieht die junge Generation mich so altklug und verständig an, geht nur, ihr seyd wackere Kinder, der Himmel wird euch Ruhe und Ueberfluß verleihen und ein gemächlich Leben.

So muß ich denn für die Enkel niederschreiben, was die Unterirdischen mir aufgetragen, und was mein flimmernd Gedächtniß mir nicht versagt.[172]


Die Schriften, von welchen hier die Rede ist, begreifen weniger nicht als die ganze eigentliche Masse des Volkes in ihrem Wirkungskreis. Nach keiner Seite hin hat die Literatur einen größeren Umfang und eine allgemeinere Verbreitung gewonnen, als indem sie übertretend aus dem geschlossenen Kreise der höheren Stände, durchbrach zu den untern Classen, unter ihnen wohnte, mit dem Volke selbst zum Volke, Fleisch von seinem Fleisch, und Leben von seinem Leben wurde. Wie Halm an Halm auf dem Felde in die Höhe steigt, wie Gräser sich an Gräser drängen, wie unter der Erde Wurzel mit Wurzel sich verflicht, und die Natur einsilbig aber unermüdet immer dasselbe dort, aber immer ein Anderes sagt, so thut auch der Geist in diesen Werken. Wie sehen wir nicht jedes Jahr in der höheren Literatur die Geburten des Augenblicks wie Saturn seine Kinder verschlingen, aber diese Bücher leben ein unsterblich unverwüstlich Leben; viele Jahrhunderte hindurch haben sie Hunderttausende, ein ungemessenes Publikum, beschäftigt: nie veraltend sind sie, tausend und tausendmal wiederkehrend, stets willkommen; unermüdlich durch alle Stände durchpulsirend und von unzählbaren Geistern aufgenommen und angeeignet, sind sie immer glich belustigend, gleich erquicklich, gleich belehrend geblieben, für so viele viele Sinne, die unbefangen ihrem inwohnenden Geiste sich geöffnet. So bilden sie gewissermaßen den stammhaftesten Theil der ganzen Literatur, den Kern ihres eigenthümlichen Lebens, das innerste Fundament ihres ganzen körperlichen Bestandes, während ihr höheres Leben bey den höheren Ständen wohnt. Ob man wohlgethan, diesen Körper des Volksgeistes als das Werkzeug der Sünde so geradehin herabzuwürdigen; ob man wohlgethan, jene Schriften als des Pöbelwitzes dumpfe Ausgeburten zu verschmähen, und darum das Volk mit willkührlichen Beschränkungen und Gewaltthätigkeiten zu irren, das ist wohl die Frage nicht! Denn wir tadeln ja auch die Biene nicht, daß sie im Sechseck baue, und die Seidenraupe nicht, daß sie nur Seide und nicht Tressen und Purpurkleider webe, und beginnen allmählig jetzt die Welt zu achten, wie ohne Menschenweisheit sie die Natur zu ihrem Bestand geordnet, und zur schönen humanen Duldung wohl gelangt, lassen wir leben was athmen mag, weil es sich nicht geziemt, des Herren Werke zu vernichten.

Von dieser toleranten Gesinnung der Gebildeten gegen die Ungebildeten wäre es, dünkt uns, gut und gelegen in der Untersuchung auszugehen; jene aber, die das Postulat nicht zuzugeben gesonnen sind, werden es zugleich mit begründet finden, wenn bewiesen worden, was bewiesen werden sollte. Das nämlich ist die Frage, ob diese Schriften bei ihrer äußeren Verbreitung wohl[173] auch eine gewisse angemessene innere Bedeutsamkeit besitzen; ob nicht zu spärlich für den höhern Sinn der Funken der bildenden Kraft in ihnen glimme; ob nicht, das Alles zugegeben, das Höhere, sobald es aus der Oberwelt in die pflanzenhafte, gefesselte Natur des Volks herabgestiegen, dort seine ganze innere Lebendigkeit verliere, und in ein unnützes Geranke verwildert, nur noch als schädlich Unkraut üppig wuchre? Wahr ist's, schmackloses Wasser führen die Ströme und die Brunnen nur, die aus schlechter Erde quellen, während der Feuerwein nur auf wenigen sonnigten, hochaufstrebenden Gebürgen reift; man hat recht gut und recht scharfsinnig bemerkt, daß die Feldblumen wenig Reize für den gebildeten Dilettanten besitzen, und es ist ein kläglich Ding um Alles, was die Natur weggeworfen, es ist kaum des Aufhebens für den bemittelten Menschen werth, was aber wirklich kostbar ist, das versteckt sie recht tief und geizig in die vielen Falten ihres weiten Mantels, und nur wer die Wünschelruthe hat, der mag zu dem Verborgenen gelangen. Wahr scheints ferner auch, das Volk lebt ein sprossend, träumend, schläfrig Pflanzenleben; sein Geist bildet selten nur und wenig, und kann nur in dem Strahlenkreise der höheren Weltkräfte sich sonnen, seine Blüthe aber blüht Alles unter die Erde in die Wurzel hinab, um dort wie die Kartoffel eßbare Knollen anzusetzen, die die Sonne nimmer sehen. Nicht ganz so ungegründet zeigt sich daher wohl die Besorgniß, es sey da unten nichts zu suchen, als werthloses Gerölle, Kieselsteine, die die Ströme in den langen Zeitläuften rund und glatt gewälzt, schmutzige Scheidemünzen, die vielfältiges Betasten abgegriffen. Aber Manches mögte doch dieser Ansicht wieder entgegenreden. Für's erste könnte es scheinen, als ob die künstliche Differenz der Stände, weil keineswegs die Natur unmittelbar sie gegründet, und in scharfen Umrissen abgegränzt, auch auf keine Weise von so gar mächtigem Einfluß wäre. In jedem Menschen sind, dünkt es, eigentlich alle Stände; diese Zeit hat uns gelehrt, wie sie in einzelnen Individuen alle der Reihe nach erwachten, bis endlich oben gar Kronen aus dem Unscheinbaren erblühten. In den obern Ständen sehen wir daher den Bauer und den Bürger hinter der äußeren Eleganz versteckt, im Bauer aber in der Regel den guten Ton so zu sagen ins Fleisch geschlagen, und dort zum Tonus des Muskels werden. Man sollte denken, daß der eingesperrte Bauer dort wohl auch einmal, wenn er sich durchgeschlagen, auf bäuerisch sich erquicken mögte, und wieder daß wohl auch in den unteren Ständen, besonders an Sonn- und Festtagen, wenn der Wochenschmutz abgerieben, und der Körper im Staate auch zu Staatsactionen aufgelegt sich fühlt, der kniende Herr im Menschen sich aufrichten, und um sich blicken, und auch nach den goldenen Aepfeln lüstern mögte, die oben in dem dunkeln Laube hängen. Wir wollen indessen keineswegs auf diesem fußen: jene würden schamhaft darum sich verbergen, daß sie in einem schwachen Momente sich überrascht; diese würde man als eitle Parvenus verlachen und in Spott entlassen. Aber eines wollen wir vorzüglich in's Auge nehmen, daß wir die Pöbelhaftigkeit, als Solche rein schlecht und verwerflich, unterscheiden von Volksgeist und Volkessinn, die in ihrer Ausartung und Verderbniß nur in jenen übergehen. Wir[174] werden dann der alten Bemerkung uns erinnern, wie diese Pöbelhaftigkeit durch alle Stände greifend keineswegs allein auf die Unteren sich beschränkt. Wenn wir das lärmende Marktvolk in unserer feinen Literatur die Kunstwerke umsummen und stier und dumm begaffen sehen, und dann in dem bösen Pfuhle, der sich um die hohen Bilder sammelt, die schönen Formen in mißfälligen Verzerrungen wiederscheinen, dann wittern wir Pöbelluft; die Schlechtigkeit im Volke hat ihre Repräsentanten zum großen Convente abgesendet, und die sitzen nun im Rathe zu Gericht über Leben, Kunst und Wissenschaft, und legen ihren Comittenten periodisch Rechenschaft von ihrem Thun und Lassen ab, und es ist ein Geist und ein Willen und eine Gesinnung, die unter den verbundenen Brüdern und Freunden herrschen. So hat das Böse, das Schlechte, das Gemeine seine Kirche, seinen sichtbaren Statthalter auf Erden, betraute Räthe, Priester, Ritter, Layen, alles Janhagel, feiner, gröber, bestialisch, geschliffen, pfiffig, dumm, alles Janhagel. Von dieses Volkes Büchern reden wir nicht, es würde zu weitläufig seyn, und wir würden uns zu hoch versteigen müssen. Aber es giebt ein anderes Volk in diesem Volke, alle Genien in Tugend, Kunst und Wissenschaft, und in jedem Thun sind dieses Volkes Blüthe; jeder, der reinen Herzens und lauterer Gesinnung ist, gehört zu ihm; durch alle Stände zieht es, alles Niedere adelnd, sich hindurch, und jeglichen Standes innerster Kern, und eigenster Character ist in ihm gegeben. Jedem Stande kann nämlich ein Idealcharakter inwohnend gedacht werden, höher hinauf gestimmt in den höheren Ständen; tiefer verleiblicht, aber immer noch vollkommen im Volke. Körperliche Gesundheit ist so vollendet in sich und achtbar, wie innere Geistesharmonie, und Eines jedesmal durch das Andere bedingt. Von diesem heiligen Geiste, der im Volke wohnt, und nichts zu schaffen hat mit unheil'gem Pöbel, reden wir jetzt, ob er darum weil er derber, sinnlicher im Niedersteigen geworden ist, verwerflich sey. So ist der Geist, der z.B. am französischen Volke übrig bleibt, nachdem man Alles, was die Verruchtheit von Jahrhunderten ihm eingebrannt, mit jenem Pöbel von ihm abgeschieden, ein harmloser, gutmüthiger, leichter, heiterer Lebensgeist; gewandt und rasch in allen Aeußerungen, für das Gute leicht empfänglich und berührsam. Das ist der herrliche Geist, der in den englischen Matrosen wohnt, nachdem man alle Bestialität in die Schlacken hineingetrieben, diese kräftige, energische, unermüdliche, brave Natur, die wie Damascenerftahl im Sturmesbraus gehärtet gegen den Ankampf aller Elemente federt, und stolz und wild und siegreich mit dem Meere ringt. Das der Spanier stolzer, hoher Barbareskensinn, der tönendes Erz im Busen trägt, und weil er Würdiges nicht vollbringen kann, lieber auf seinem innern Reichthum ruht, und jede ungeziemende Thätigkeit verschmäht. So erkennen wir endlich auch den ächten innern Geist des teutschen Volkes, wie die älteren Mahler seiner besseren Zeit ihn uns gebildet, einfach, ruhig, still, in sich geschlossen, ehrbar, von sinnlicher Tiefe weniger in sich tragend, aber dafür um so mehr für die höhern Motive aufgeschlossen. Gerade die Demüthigung, die diesem Charakter durch das Ungeschick der Führer bereitet worden ist, muß die innere Scheidung in dem[175] Wesen der Nation vollenden; sich lossagend von dem, was die Verworrenheit der nächst vergangenen Zeit ihr aufgedrungen, muß sie zurückkehren in sich selbst, zu dem was ihr Eigenstes und Würdigstes ist, wegstoßend und preisgebend das Verkehrte; damit sie nicht gänzlich zerbreche in dem feindseligen Andrang der Zeit.

Nachdem wir das Alles auf diese Weise erwogen, wird der Gedanken einer Volksliteratur und keineswegs mehr so nichtig und in sich selbst verwerflich scheinen, als es so geradehin auf den ersten Blick den Anschein gewann. Nachdem wir einen inwendigen Geist in allen Ständen wohnend, und gleich einem schlackenlosen Metallkönig durch alle Verunreinigung von Zeit und Gelegenheit durchblickend anerkannt, wird auch die Idee näher uns befreundet, daß im allgemeinen Gedankenkreise die untersten Regionen auch etwas gelten und bedeuten mögten, und daß der große Literaturstaat sein Haus der Gemeinen habe, in dem die Nation sich selbst unmittelbar repräsentire. Giebt es aber nun wirklich einen Kreis von Schriften, die der Genius jener Völker, die wir aufgezählt, gleichmäßig anerkennt, die viele einander folgenden Generationen immer wieder von neuem sanctionirt, die den Besten immer wohlgefallen, die die Menge niemal sinken lassen, und nach denen Alle nimmer zu verlangen aufgehört, dann thun wir klug, nicht mehr so ganz wegwerfend abzuurtheilen; die Verachteten mögten uns unter die Augen treten, und uns entgegen fragen, was wir denn selber bedeuteten, und worauf unser Dünkel denn wohl sich gründen mögte? So aber ist's wirklich mit den Büchern, die wir im Auge haben, beschaffen: so weit teutsche Zungen reden, sind sie überall vom Volke geehret und geliebt: von der Jugend werden sie verschlungen, vom Alter noch mit Freude der Rückerinnerung belächelt, kein Stand ist von ihrer Einwirkung ausgeschlossen, während sie bei den Untern die einzige Geistesnahrung auf Lebenszeit ausmachen, greifen sie in die Höheren, wenigstens durch die Jugend ein, in der überhaupt aller Standesunterschied sich mehr ausgleicht, und die in ihnen oft für ihre ganze künftige Existenz den äußeren Anstoß findet, und den Enthusiasmus ihres Lebens saugt. Aber keineswegs auf diesen großen nationellen Kreis haben sie ihre Wirksamkeit beschränkt; wie bei den Teutschen, so finden wir sie auf gleiche Weise bei den Franzosen in allgemeinem Umlauf; wie dort Cöln und vorzüglich Nürnberg sie zu tausenden nach allen Richtungen hin vertreiben, so ist hier Troyes der allgemeine Stapelplatz, von wo aus sie, in gleicher Menge, nur in der Form häufig sorgfältiger und correcter wie bei den Teutschen, sich über die Nation verbreiten, und einen unzuberechnenden Einfluß auf ihren Geist und Charakter üben. Und auch damit noch ist der Wirkungskreis dieser Bücher nicht begränzt; während die Holländer und die Engelländer die Meisten in ihrer Sprache besitzen, haben nicht minder die Spanier und die Italiäner sie theils in die Ihrige übersetzt, theils Manche selbst für sich producirt, so daß vielleicht sechszig und mehr Millionen Menschen um ihre Existenz wissen, und mehr oder weniger an ihnen sich erfreuen. Nimmt man nun noch hinzu, daß während im Jahrhunderte dreimal die Generationen wechseln, diese Bücher drei, vier und[176] mehrere Jahrhunderte überlebten; Manche wie wir sehen werden, bis in die grauesten Zeiten des Alterthums hinaufreichen, dann gewinnen sie ein wahrhaft ungemessenes Publicum, und sie stehen keineswegs mehr als Gegenstände unserer Toleranz uns gegenüber, sondern vielmehr als Objecte unserer höchsten Verehrung und unserer wahrhaftigen Hochachtung; als ehrwürdige Alterthümer, die durch das läuternde Feuer so vieler Zeiten und Geister unversehrt durchgegangen sind.

Man glaube nur nicht, daß ein Schlechtes für sich diese Prüfung der Menge und der Zeit bestehen könne: es kann mit unterlaufen, von dem Guten durchgeschleppt, aber nimmer sich für sich selbst allein behaupten. Die Nation ist nicht einem todten Felsen ähnlich, dem der Meisel willkührlich jedes Bild eingraben kann, es muß etwas ihm Zusagendes in dem seyn, was man von ihr aufgenommen wissen will; ein dunkler Instinct für das Gute ist keiner Creatur versagt, und damit fühlt sich leicht, was gut und gedeihlich was schädlich und giftig ist, heraus, und kräftig, und ohne sich zu besinnen, stößt die Menge alles ab, vor dem dieser dunkle Trieb sie warnt. Und wenn auch einzelne Irrungen unterlaufen, wenn das Schlechte, das Kraftlose augenblicklichen Eingang findet, bald erwacht der innere Eckel und Ueberdruß, und die Zeit spült in ihrem Strome alles wieder weg, und gleicht alle Fehler wieder aus. Was aber diese Probe besteht, was Allen zusagt, Individuen und Geschlechtern, was Allen eine widerhaltende, kräftige Nahrung giebt wie Brod, daß muß nothwendig Brodeskraft in sich besitzen, und lebensstärkend seyn. Wenn daher auch der Zufall bei der Wahl dieser Schriften gewaltet zu haben scheint, indem man dem Volke sie geboten, bey der Aufnahme hat er keineswegs vorgeherrscht; ein großes fortdauerndes Bedürfniß muß im Volk bestehen, dem jede Einzelne für sich zusagt, und das daher fortdauernd sie erhält: nur gerade das Schlechte mag durch den Zufall oben schwimmend eine Weile erhalten werden, muß aber nothwendig auch über lang oder kurz von ihm zerrieben werden. Und dies Bedürfniß ist gerade das unvertilgbar der menschlichen Natur eingepflanzte Streben, zu sättigen den Geist mit Gedanken, und mit Empfindungen das Gemüth; ein Streben, das gerade am überraschendsten auf dieser Stufe siegreich sich offenbart, wo es scheinen sollte, als ob der dunkle sinnliche Trieb, und die Lust, die mit seiner glücklichen Befriedigung verbunden ist, alle die Kräfte fesseln müßte, deren Spielraum in Regionen fällt, wo das körperliche Bedürfniß nichts zu suchen hat. Aber durchbrechend durch die feste Corallenrinde, in der das Leben gegen die unfreundliche Natur sich wahren muß, drängt der innere verschlossene Geist die Fühlhörner hinaus in die weite freye Umgebung, und es ist rührend zu sehen, wie er um sich tastend, und Alles umher begreifend, und nach allen Richtungen sich windend, nach Weltanschauung ringt, und auch sich ergötzen mögte in dem freundlichen Strahl, der die Seele aller Creaturen ist. Es ist daher ein anderer Hunger und ein anderer Durst, als jener blos sinnliche, der hier sich im Volke regt; nicht nach körperlicher Speise sehnt er sich, damit er in Leibliches sie wandle, sondern nach dem höheren Geiste lüstert ihn, den der Genius ausgegossen aus seiner Schaale in die rohe Materie, und der[177] als ihre Seele sie sich nun zugestaltet hat. In die Tiefe zieht das Thier im Menschen die Leibesnahrung zu sich nieder, und wiederkäuend und assimilirend die Lebenslymphe erstarkt es, und gewinnt Breite und Raum auf Erden; aber der Gott im Menschen mag nur den feinsten Wohlgeruch der Dinge, den zarten Duft, der aus ihnen unbegreiflich und unsichtbar athmet, er nährt sich nur mit den Lebensgeistern, die im Innersten der Wesen verborgen wohnen, die er dann einsaugt mit allen Nerven, und sich aneignet als eines höheren Himmels Speise, und in der Aneignung selbst verklärt. Dieser Geist muß sich vom Thiere losgerungen haben, zum Centauren muß das rein Thierische sich hinaufgesteigert haben, in dem das Menschliche siegreich das Animalische überragt und bändigt, wenn irgend der Drang nach jener feinern Nahrung in ihm lebendig werden soll. Daß aber im Volke jener Drang und die Mittel zu seiner Befriedigung sich finden, beweißt eben, daß in ihm längst schon jene Umwandlung vorgegangen ist; daß es längst schon die Region der dumpfen Stupidität verlassen hat, in die seine Verhältnisse es unlösbar gefesselt zu haben scheinen; daß nun in den untersten Classen der Gesellschaft das Bessere siegreich sich offenbart, und daß oben auf dem durch und durch sinnlichen Körper ein menschlich Antlitz entsprossen ist, das über die wagrechte Thierlinie sich erhebend hinaufstrebt zum Himmel, und Anderes denn das Irdische schon sucht und kennt.

Auf zwiefach verschiedene Weise aber hat jene innere im Volke wach gewordene Poesie sich im Volke selbst geäußert. Einmal im Volkslied, in dem die jugendliche Menschenstimme zuerst thierischem Gebelle entblüht, wie der Schmetterling der Chrysalide, in ungekünstelten Intonationen die Tonleiter auf- und niedersteigend freudig sich versuchte, und in dem die ersten Naturaccente klangen, in die das verlangende, freudige, sehnende, in innerem Lebensmuth begeisterte Gemüth sich ergossen. Eintretend in die Welt, wie der Mensch selbst in sie tritt, ohne Vorsatz, ohne Ueberlegung und willkührliche Wahl, das Daseyn ein Geschenk höherer Mächte, sind sie keineswegs Kunstwerke, sondern Naturwerke wie die Pflanzen; oft aus dem Volke hinaus, oft auch in dasselbe hineingesungen, bekunden sie in jedem Falle eine ihm einwohnende Genialität, dort productiv sich äußernd, und durch die Naivität, die sie in der Regel characterisirt, die Unschuld und die durchgängige Verschlungenheit aller Kräfte in der Masse, aus der sie aufgeblüht, verkündigend; hier aber durch ihre innere Trefflichkeit den feinen Tact und den geraden Sinn bewährend, der schon so tief unten wohnt, und nur von dem Besseren gerührt nur allein das Bessere sich aneignet und bewahrt.

Wie aber in diesen Liedern der im Volke verborgene lyrische Geist in fröhlichen Lauten zuerst erwacht, und in wenig kunstlosen Formen die innere Begeisterung sich offenbart, und bald gegen das Ueberirdische hingerichtet, vom Heiligen spricht und singt, so gut die schwere wenig gelenke Zunge dem innern Enthusiasm Worte geben kann; dann aber wieder der Umgebung zugewendet, von dem Leben und seinen mannichfaltigen Beziehungen dichtet, jubelt oder klagt und scherzt: so muß auf gleiche Weise auch der epische Naturgeist sich bald ebenfalls dichtend und bildend zu erkennen geben, und[178] auch mit seinen Gestaltungen den ihm in dieser Region gezogenen Kreis anfüllen. Jenen religiösen und profanen Gesängen, in denen des Volkes Gemüth sein Inneres ausspricht, werden daher auch bald andere Gedichte im Character jenes ruhigen Naturgeistes sich gegenüberstellen, in denen das Gemüth was es durch seine Anschauung in der Welt gesehen, mahlt und verkündigt, und gleichfalls bald als heilige Geschichte das Ueberirdische bedeutsam bezeichnet, bald als Romantische dem unmittelbar Menschlichen näher gerückt, durch Schönheit, Lebendigkeit, Größe, Kraft, Zauber oder treffenden Witz ergötzt. Diese Dichtungen sind die Volkssagen, die die Tradition von Geschlecht zu Geschlechte fortgepflanzt, indem sie zugleich mit jenen Liedern, durch die Gesangweise die sich dem Organe eingeprägt, einmal gebildet, vor dem Untergange sich bewahrten. In den frühesten Zeiten entstanden die meisten dieser Sagen, da wo die Nationen, klare frische Brunnen der quellenreichen, jungen Erde eben erst entsprudelt waren; da wo der Mensch gleich jugendlich wie die Natur mit Enthusiasmus und liebender Begeisterung sie anschaute, und von ihr wieder die gleiche Liebe und die gleiche Begeisterung erfuhr; wo Beyde noch nicht alltäglich sich geworden, Großes übten und Großes anerkannten: in dieser Periode, wo der Geist noch keine Ansprüche auf die Umgebung machte, sondern allein die Empfindung; wo es daher nur eine Naturpoesie und keine Naturgeschichte gab, mußten nothwendig in diesem lebendigen Naturgefühle die vielfältig verschiedenen Traditionen der mancherlei Nationen hervorgehen, die kein Lebloses anerkannten, und überall ein Heldenleben, große gigantische Kraft in allen Wesen sahen, überall nur großes, heroisches Thun in allen Erscheinungen erblickten, und die ganze Geschichte zur großen Legende machten. Lebendig wandelten diese Gesänge mit den Liedern, vom Ton beseelt, im Leben um; da aber, als die Erfindung der Schreibkunst und später der Buchdruckerey dem Ton das Bild unterschob, da wurde freilich das Leben in ihnen matter, aber dafür in demselben Maaße zäher, und was sie an innerer Intensität verlohren, gewannen sie wenigstens an äußerer Extension wieder. So wurden die Lieder in jenen fliegenden Blättern fixirt, die sie wie auf Windes-Fittig durch alle Länder trugen; und was im Munde des Volkes allmählig mehr und mehr verstummte, das bewahrte das Blatt wenigstens für die Erinnerung auf. Jene andern Gesänge aber, ihrer Natur nach mehr ruhend, bestimmt, mehr an das Bild als an den Ton gebunden, und daher Zauberspiegeln gleich, in denen das Volk sich und seine Vergangenheit, und seine Zukunft, und die andere Welt, und sein innerstes geheimstes Gemüth, und Alles was es sich selbst nicht nennen kann, deutlich und klar ausgesprochen vor sich stehen sieht; diese Gebilde mußten vorzüglich in jenem äußeren Fixirenden ein glückliches Organ für ihre freie Entwicklung finden, weil sie ihrer Natur nach mehr im Extensiven sind, und nun, indem die Schranken, die die enge Capacität des Gedächtnisses ihnen zog, gefallen waren, sich frei nach allen Richtungen verbreiten konnten. So sind daher aus jenen Sagen die meisten Volksbücher ausgegangen, indem man sie, aufgenommen aus dem mündlichen Verkehr in den Schriftlichen, in sich selbst[179] erweiterte und vollendete; nur Eines haben sie bei dieser Metamorphose eingebüßt: die äußere poetische Form, die man als bloßes Hülfsmittel des Gedächtnisses jetzt unnütz geworden wähnte, und daher mit der gemeinen Prosaischen verwechselte. So gut nämlich wie der alten griechischen Sage von der Einnahme Trojas ist es wenigen Späteren geworden, daß sie nämlich einen Homer gefunden hätten, der aus dem Munde der Nation sie übernehmend, während er extensive zum großen Epos sie erweiterte, sie zugleich auch in ihrer inneren Form verklärte, und das große Werk nun in Tafeln von Erz gegraben im großen Tempel der Nation aufgestellt. Die Tradition selbst aber, nachdem sie auf diese Weise ein bleibendes Organ gefunden, verlor nun als Solche sich allmählig; während Andere Jahrhunderte hindurch umsonst auf die gleiche Erlösung wartend, von der fortschreitenden Kultur erreicht, in sich vergangen sind, und noch Andere in den entlegneren Gegenden, wo die Zeit das alte Dunkel noch nicht aufgeklärt, in der Dämmerung stillen Lichtern gleich, schweben, und auf eine bessere Zukunft verzweifelnd harren, weil die Misgunst der Umstände nicht wollte, daß die Vergangenheit ihnen Körper und Bestand gegeben hätte. Von vielen dieser Volksbücher sagt ihre Geschichte ausdrücklich, daß sie auf solche Weise entstanden sind; Andere tragen unverkennbar den Character dieser Abkunft in ihrem ganzen Wesen, und wenn man bei noch Anderen auf besondere historische Quellen sich beruft, dann findet man, wenn man die Natur dieser Quellen genauer prüft, immer wieder, wie sie zuletzt auf jene Sagen sich beziehen, und aus ihnen sich gesammelt haben.

Was aber die Didactischen, Lehrenden unter den Volksbüchern betrifft, so sind sie eben ihres innern reflectirenden Characters wegen durchaus modern, und in demselben Grade mehr modern, wie das Verständige in ihnen mehr vorherrscht. Und in den Aeltesten herrscht es noch am meisten vor; jene wunderbare Ansicht von seltsamen Eigenschaften der Naturproducte, z.B. in den Kräuterbüchern dieser Zeit, die die Physik bei ihrem Fortschreiten völlig vernichtet hat, ist in dem Grade poetisch, wie sie unwissenschaftlich ist; und gerade weil sie so alt sind, ist so viel von Poesie in ihnen, so wenig hingegen von Wahrheit. Denn in dem Maaße, wie die Naturkraft im einzelnen Menschen und im ganzen Volke in jugendlicher Fülle, und in raschem Lebensmuth vorherrscht, in dem Maaße wird er auch von dem Lebensrausch besessen, und er taucht mit seinem ganzen Wesen unter in dem frischen warmen Quelle, und ist lauter Phantasie, und Empfindung und Poesie. Wenn aber, nachdem das Ganze in kräftiger Fülle sich geründet hat, die Natur im Menschen zur Vollendung reift: dann sammelt er sich in sich selber wieder, und reißt sich von sich selber los, und tritt nun in seiner Freiheit dieser Natur und seiner ganzen Vergangenheit, eben so als einem Gegenständlichen gegenüber, wie vorher das Object selbst der ganzen äußern Natur sich entgegensetzte, und mit diesem Gegensatz erwacht zuerst die Reflection und das Nachdenken, und mit ihnen die freie, klare Erkenntniß, und des Gedankens weites, schrankenloses Reich ist dann geöffnet. Alle diese Schriften sind daher nicht von früherer mündlicher Ueberlieferung ausgegangen,[180] mithin auch nicht wie die rein Poetischen aus dem Volke selbst hervorgewachsen, und auch keineswegs so tief mit seiner innersten Natur verwachsen, wie es Diese sind. Sie ordnen sich am nächsten jenen spätern Versuchen der Neuern bey, diese Literatur zu erweitern durch andere der großen Masse fremde Combinationen, mit denen vorher nie das Volk vertraut gewesen, die daher auch in ihrer Wirkung so wenig gedeihlich und so oft unnütz gewesen sind.1 Das Volk hat sie nicht mit der Liebe umfassen können, wie jene Früheren, mit denen es gleichsam aufgewachsen, und in welchen es erstaunt auf einmal sein eigenstes Eigenthum erkannte, und klar und deutlich im Worte ausgesprochen fand, was es wohl oft mit schwerer, dicker Zunge undeutlich nur articuliren konnte.

Fragen wir aber nun noch nach dem allgemeinen Character, der alle diese Schriften gemeinschaftlich bezeichnet, dann müssen wir uns vor Allem überzeugen, daß, sollten diese Gebilde Wurzel greifen in der Menge, und eine eigene selbstständige Existenz in ihr gewinnen, eine innere Sympathie zwischen ihnen und der Nation selbst, bestehen mußte; es muß ein Moment für diese Wahlverwandtschaft in ihnen seyn, und ein gleiches Entsprechendes im Volke, und im Zug und Gegenzug konnte dann Alles in Liebe sich verbinden, und eins werden in der allgemeinen Lust und Vertraulichkeit. Wir sahen eben wie das Element, welches das Volk zur Bildung hergegeben, jene uralte Sagenpoesie war, die wie ein leises Murmeln fortlief durch alle Geschlechter, bis der Letzten Eines sie zur vollen Sprache bildete; das parallel gegenüber eingreifende Moment in den Büchern aber ist der durchaus stammhafte, sinnlich kräftige, derbe, markirte Character, in dem sie gedacht und gedichtet sind, mit Holzstöcken und starken Lichtern und schwarzen Schatten abgedruckt, mit wenigen festen, groben, kecken Strichen viel und gut bezeichnend. So nur kann die Poesie dem Volke etwas seyn, nur für den starken, derbanschlagenden Ton hat dieser grobgefaserte Boden Resonanz, und die starke Fiber kann dem tief Einschneidenden nur ertönen. Nur dadurch wird die Poesie zur Volkspoesie, daß sie seinen Formen sich eingestaltet; hat die Natur in diesen Formen ihre bildende Kraft offenbaren wollen, dann darf die Kunst auf keine Weiße sich scheuen ihr zu folgen in dieser Metamorphose, und im Worte wieder auszuprägen, was jene stumm und still gestaltete. Aber doch ist nicht so ganz gleichmäßig in allen diesen Bildungen ohne Unterschied derselbe Geist herrschend; durch die ganze fortlaufende Entwickelung der Zeit ist die Kunst von ferneher der Nation gefolgt, und die vorzüglichsten Epochen dieser allmähligen Entwickelung sind durch eben so viel vorstechende Werke bezeichnet. Als die etruscischen Satyren,[181] und die oscischen Atellanen zuerst eingeführt wurden in Rom, da nahm das Volk sie freudig und willig auf; überrascht, fand es seine ganze Natur in diesen rohen, wilden, barbarischen Gestaltungen widerscheinend; die Kunst rang mit seiner Kraft und seiner innern Energie, und es rang wieder mit dem Geiste, der so derb anzufassen wußte, und es gewann Geschmack dem Schimpfspiel ab zwischen seinen Kräften und den Kräften des fremden wunderbaren Zaubers, und alle Poesie war noch ganz Volkspoesie im eigentlichen Sinn, und in Allem war große, feste, kernhafte Alpennatur. Nicht auf dieser Stufe von Gediegenheit hat in neuern Zeiten sich das Volk erhalten; schon dadurch daß eben ein höherer Anflug aus der Masse sich heraus verflüchtigte, und gerade das Geistigste ihm entführte, mußte der Rückstand im Gegensatz mit diesem Flüchtigen gewissermaßen einen mehr phlegmatischen und minder elastischen Character annehmen, und manche der ältesten Volksbücher, die dem früheren, antiken Volksgeist rein zusagten, sind dem Gegenwärtigen fremd geworden; und manche Neuere, indem sie jenem veränderten Genius sich anschmiegten, traten zugleich in einer Form hervor, die nicht ganz mehr mit jener Normalen zusammenstimmen will. Es ziehen keine Bären mehr durch unsere Wälder, keine Elennthiere und keine Auerochsen; mit Ihnen ist daher auch das Bärenhafte, was die ältesten Sagen und Bildungen bezeichnet, gewichen, und wie die Sonnenstrahlen durch die gelichteten Wälder Bahn sich brachen, hat auch in der entsprechenden Kunstentwicklung ein milderer Geist Platz gegriffen, der manchmal rein für sich in einzelnen Bildungen dasteht, manchmal mit jenem Früheren sich verschmelzend, einen gewissen mittelschlägigen Character bildet. Nicht mehr des Ursen und des Bären unbändige Wildheit spricht daher aus diesen Büchern, wohl aber ein rascher, gesunder, frischer Geist, wie er das Reh durch's Dickigt treibt, und in den andern Thieren des Waldes lebt; es ist nichts Zahmes, Häusliches, Gepflegtes in Ihnen, Alles wie draußen im wilden Forst geworden, geboren im Eichenschatten, erzogen in Bergesklüften, frei und frank über die Höhen schweifend, und zutraulich von Zeit zu Zeit zu den Wohnungen des Volkes niederkommend, und von dem freien Leben draußen ihm Kunde bringend. Das ist der eigentliche Geist jener Schriften, fern von Jenem, den man in den neuesten Zeiten in den Noth- und Hilfsbüchern als eine feuchtwarme, lindernde Bähung seinen Preßhaftigkeiten aufgelegt, und die, obgleich vielleicht den augenblicklichen Bedürfnissen entsprechend, doch eben dadurch Zeugniß geben von dem chronisch-krankhaften Geist der Zeit.

Wenn man, was wir in diesen wenigen Blättern über den Charakter und das Wesen dieser Bücher beigebracht, erwägt; wenn man, so oft die Hoffart auf unsere feinere Poesie uns übernehmen will, bedenkt, wie es das Volk doch immer ist, was uns im Frühlinge die ersten, die wohlriechendsten und erquickendsten Blumen aus seinen Wäldern und Hegen bringt, wenn auch später freilich der Luxus unserer Blumengärten sich geltend macht, deren schönste Zierden aber immer irgendwo wild gefunden werden; wenn man sich besinnt, wie überhaupt alle Poesie ursprünglich doch immer von ihm ausgegangen ist, weil alle Institution und alle Verfassung, und das ganze Gerüste[182] der höheren Stände, immer sich zuletzt auf diesen Boden gründet, und in den ersten Zeiten die gleiche poetische, wie politische und moralische Naivetät herrschend war, dann können wir wohl endlich voraussetzen, daß jedes Vorurteil gegen dies große Organ im allgemeinen Kunstkörper verschwunden sey, und wir haben uns Bahn gemacht zur gehörigen Würdigung dieser Schriften im Einzelnen. Wir gehen daher ohne weitern Aufenthalt zur Betrachtung der besonderen Bildungen dieses Faches über, um zu sehen, in wiefern was wir so eben im Allgemeinen ausgesprochen, auch im Einzelnen sich bewährt. Die Ordnung aber, die wir bei dieser Bücherschau befolgen, wird Diese seyn, daß wir nämlich mit den Lehrenden, dem Alter nach Jüngsten beginnen, von dort aus zu den Romantischen, und dann zu den Religiösen übergehen, und endlich mit einem großen Blick auf das durchlaufene Gebtech von der gewonnenen Höhe hinab enden.

1

Ich rechne dahin unter Andern die neuen Leipziger Volksbücher bei Solbrig. Mehrere aus Musäus abgedruckte Volkssagen sind zwar nicht unzweckmäßig gewählt, obgleich der in ihnen herrschende Ton keineswegs eigentlicher Volkston, und ihre Naivetät nicht Volksnaivetät ist. Alles andere aber ist meist so leer, so gehaltlos und fatal, daß die fade Speise nothwendig den Instinct des Volkes eckeln mußte.

Quelle:
Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher, in: Joseph Görres, Gesammelte Schriften, Band 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803–1808). Köln 1926, S. 170-183.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon