Der Kuß im Traume, aus einem ungedruckten Romane

[119] Es hat ein Kuß mir Leben eingehaucht,

Gestillet meines Busens tiefstes Schmachten,

Komm, Dunkelheit! mich traulich zu umnachten

Daß neue Wonne meine Lippe saugt.


In Träume war solch Leben eingetaucht,

Drum leb' ich, ewig Träume zu betrachten,

Kann aller andern Freuden Glanz verachten,

Weil nur die Nacht so süßen Balsam haucht.


Der Tag ist karg an liebesüßen Wonnen,

Es schmerzt mich seines Lichtes eitles Prangen

Und mich verzehren seiner Sonne Gluthen.

Drum birg dich Aug' dem Glanze irr'dscher Sonnen!

Hüll' dich in Nacht, sie stillet dein Verlangen

Und heilt den Schmerz, wie Lethes kühle Fluthen.

Quelle:
Karoline von Günderrode: Gesammelte Werke. Band 1–3, Band 1, Berlin-Wilmersdorf 1920–1922, S. 119-120.
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