Am Fest des H. Ludovici

[272] Epistel Sap. X. v. 9. etc.


Text


Die Weißheit reißt aus aller Noth

Die, so sich ihr ergeben,

Sie leitet des Gerechten Fuß

Und rettet Jacobs Leben

Und zeigt ihm, da er dort den Zorn

Des Bruders fliehen muste,

Im Traume deßen Herrligkeit,

Die er zu ehren wuste.


Sie half ihm in der Arbeit fort,

Sie wust ihn zu beschüzen,

Man that ihm Unrecht und Gewalt,

Sie lehrt' ihn Stäbe schnizen,

Sie macht' ihn sicher in Gefahr

Und gab ihm Sieg zum Ringen

Und wies ihm, durch die Gottesfurcht

Sey alles zu erzwingen.


Die Weißheit macht' auch Josephs Herz

Im Guten täglich stärcker,

Sie hielt ihn von den Sünden ab

Und fuhr mit ihm in Kercker,

Sie stund ihm in den Banden bey,

Bis man, eh er es dachte,

Den Scepter eines Königreichs

Ihm ins Gefängnüß brachte.


Da war nun Joseph Obrigkeit.

Nun kont er die regieren,

Die ihn vorher mit Macht gesucht

In Spott und Schimpf zu führen.

Dies that die Weißheit, die nunmehr[273]

Die frechen Tadler höhnte

Und mit der grösten Herrligkeit

Das Haupt der Unschuld crönte.


Lehre


Die Weißheit ist der gute Trieb,

Gott rein und treu zu lieben

Und unsern Nechsten allzeit mehr

Zu beßern als betrüben.

Wer diese Neigung bey sich fühlt,

Der kan stets im Gewißen,

So sehr es auch von außen stürmt,

Den reichsten Trost genießen.


Der Herr, der stets die Seinen schüzt,

Muß solcher Weißheit wegen,

Die stets nach Recht und Warheit strebt,

Der Frommen Wuntsch erwegen.

Er hebt sie ofters durch den Fall;

Wenn alles trübe scheinet,

So kommt und zeigt er unverhoft,

Wie gut er es gemeinet.


Bevortheilt uns der nechste Freund

Wie Labans List und Tücke,

Man thu nur seiner Pflicht genug,

So geht uns nichts zurücke.

Der Seegen folgt der Arbeit nach

Und kan uns nicht verlaßen,

Wenn wir mit Glauben im Beruf

Das Faulheitsküßen haßen.


Verfolgung hilft der Weißheit auf

Wie Last den Palmenzweigen,

Und wer zuerst in Gruben liegt,

Kan bald den Thron ersteigen.[274]

Die Brüder Josephs dachten ihn

Aus Misgunst hinzurücken

Und musten sich hernach mit Angst

Vor seiner Wohlthat bücken.


Die geile Boßheit dieser Welt

Versucht auf allen Seiten,

Uns, wie die Frau des Potiphars

Den Joseph, zu verleiten.

Die Weißheit bittet und ermahnt

Und hält uns von der Sünde,

Bis daß die Tugend Glück und Ruhm,

Der Neid die Schande finde.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Leipzig 1931, S. 272-275.
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