Tempora mutantur

[136] Die Stätten meiner Jugend sah ich wieder,

Doch zeigen sie mir fast ein fremd Gesicht;

Rings wuchsen Giebel, sanken Wipfel nieder,

Und selbst das Flußbett ist das alte nicht;

Ja, Freund, den Hauch, der unterm Schlag der Glocken

Die Welt durchschauert, spür' ich doppelt hier;

Er blies nicht bloß das Braun aus unsern Locken,

Verwandelt ward die Zeit, und wir mit ihr.


Wie lag im goldnen Märchenduft die Ferne,

Da uns noch eng der Heimat Bann umgab!

Vom ersten Berg schon sahn wir andre Sterne,

Und Zaubergerte schien der Wanderstab.

Sehnsüchtig wuchs das Herz, wenn seine Weisen

Das Posthorn sang im nächt'gen Waldrevier –

Jetzt pfeift der Dampf und läßt im Sturm uns reisen;

Verwandelt ward die Zeit, und wir mit ihr.


Von Ort zu Ort die traute Liebeskunde,

Die Grüße, die der Freund dem Freunde rief,

Wie bang erharrten wir sie Stund' um Stunde,

Und zum Ereignis ward der späte Brief.

Verhallend selbst, als Echo nur, empfingen

Der Weltgeschichte Donnerbotschaft wir –

Jetzt trägt der Blitz das Wort auf Feuerschwingen,

Verwandelt ward die Zeit, und wir mit ihr.


Vom Zauberduft der blauen Blume trunken,

Des Herzens Rätseln sann der Dichter nach;

Er klagt' um Sonnen, die hinabgesunken,

Und rief der Vorwelt mächt'ge Schatten wach.

Der Freiheit Muse schlich nur auf den Zehen

Bei Nacht zu ihm, als wär's Verbrechen schier –

Heut läßt sie auf dem Markt ihr Banner wehen,

Verwandelt ward die Zeit und wir mit ihr.


Gruß euch, ihr Münster mit den hohen Schiffen,

Gebraus der Orgel, dunkles Chorgestühl,

Wo ein Geheimnis, ewig unbegriffen,

Uns Wahrheit ward durch unser wahr Gefühl![137]

Auf seinen Flügeln jedes Zweifels Schranke

Hoch überfliegend, kampflos glaubten wir –

Jetzt heischt sein Recht am Glauben der Gedanke;

Verwandelt ward die Zeit, und wir mit ihr.


Wohl trugen wir das Vaterland im Herzen,

Doch liebten wir wie Knaben, stumm und zart;

Zum Freund nur sprach der Freund von seinen Schmerzen

Und von dem Kaiser mit dem Flammenbart.

Das Wort vom Reich, ob niemals ganz verklungen,

Doch scheu nur ward's geflüstert dort und hier –

Heut rauscht es fort im Volk von tausend Zungen,

Verwandelt ward die Zeit, und wir mit ihr.


Ja, vorwärts geht's, des Webstuhls Spulen sausen,

Die Welt ward weiter, freier Blick und Sinn;

Doch wie des Lebens Ströme schwellend brausen,

Wuchs nach Genuß die Gier und nach Gewinn.

Da singt bei Nacht wohl, eh' die Sterne schwinden,

Vom engen Jugendglück die Sehnsucht mir –

Doch komm nur, Tag! Du sollst mich wacker finden!

Verwandelt ward die Zeit, und wir mit ihr.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 136-138.
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