Ein Gedenkblatt

[208] 1851?


Am Samstagmorgen vor Palmarum war's

Im Jahre, da man Neunundvierzig schrieb,

Daß mich die goldne Sonne des Aprils

Aus meinem alten Nest am Hafendamm

Hinab ins Freie lockte. Draußen zog

Der Fluß, von mächt'gen Segeln schon belebt,

Blauglänzend hin, und in den Lüften schwamm

Des Frühlings ahnungsvolles Hoffnungslied.

Mir aber wuchs das Herz bei diesem Ton,

Als müßt' er Glück verkünden. Ruhiger

Gedacht' ich an der Zeit verworrnen Kampf

Und an die Zukunft, deren Los vielleicht

In diesem Augenblick geworfen ward.

Da, wie ich so am Damm des Ufers noch

Vertieft hinabschritt, kam mein Jugendfreund,

Der blonde Maler, hastig und erregt,

Daß Bart und Haar ihm flog, des Wegs daher,

Und sein des Lächelns ungewohnt Gesicht

Erglänzte wie vom Frührot übersonnt.

So rief er mir entgegen: »Weißt du's schon?«

Und da mein Blick ihn fragte, quollen ihm

Aus tiefster Brust die Worte: »Freue dich!

(Und seine Stimme zittert', als er sprach)

Ein Deutscher Kaiser ist gewählt am Main,

Und seine Boten sendet ihm das Reich.«[208]


Und während er von allem, wie's geschah,

Mir nun Bericht gab, sieh, da schmückten sich

Die alten Zackengiebel längs dem Fluß

Mit frohen Fahnen schon, und grüßend flog

An manchem Schiff ein deutscher Wimpel auf

Und wallte breitentrollt im Morgenwind.

Und jetzt, von Turm zu Turm einfallend, scholl

Der Glocken Chorgesang und kündigte

Das Fest der Palmen an. Mir aber war's,

Als läutete man ein das Deutsche Reich,

Und das Hosanna, das in meiner Brust

Andächtig widerklang, zwei Königen,

Die ihren Einzug hielten, galt's zumal,

Dem himmlischen und dem von dieser Welt.


Auf Windesschwingen flog von Haus zu Haus

Die Kunde weiter, da begann im Glanz

Der Frühlingssonne durch die Gassen hin

Ein festlich Wogen. Freunde tauschten rings

Bewegten Handschlag, Feinde grüßten sich,

Als wäre plötzlich aller Zwist gesühnt,

Und manches Auge, das ich längst im Staub

Der Akten oder überm Rechnungsbuch

Verhärtet glaubte, sah ich freudenfeucht.

Denn was wir alle, sei's mit klarem Geist,

Sei's dunkel nur im angebornen Trieb

Gewünscht, gehofft, ersehnt, nun schien's erfüllt.


Ich aber stieg zu Pferd und ritt hinaus,

Die Stille suchend. O wie deuchten mir

Voll Melodie die Lüfte, die im Flug

Das Haar mir streiften, wie so schön der Wald,

Der, kaum von grünem Schimmer überhaucht,

Jungfräulich schauert' in des Werdens Lust!

Die Quellen brausten, aus den Wipfeln scholl

Der Ruf der Vögel, und seitab vom Pfad

Wob um die Stämme zitternd Dämmerlicht.

In solcher Waldnacht saß wohl Heinrich einst,[209]

Der blonde Sachsenheld, den Finkenschlag

Belauschend, als ihm Herzog Eberhard

Den Purpur und die heil'ge Lanze bot.

Ich sah ihn vor mir fest und wetterbraun

Im schlichten Jagdwams und im Kreis umher

Der großen Botschaft Werder allzumal.

Er aber sprang empor vom Vogelherd,

Dem Adler gleich, der seinen Flug beginnt,

Und nahm das Pfand des Reichs und tat den Schwur,

Dem deutschen Volk ein Vaterland zu baun,

Und klar im ruh'gen Feuer seines Blicks,

In seines Worts einfacher Hoheit lag

Die Bürgschaft des, was er verhieß. Da bog

Das Knie vor ihm die stolze Frankenschar

Und huldigt' ihm mit Jauchzen, und mein Herz,

Im Sonnenaufgang frühster Ruhmeszeit

Das Bild des heut'gen schauend, jauchzte mit,

Und Tränen weint' ich, Tränen, wie ein Mann

Sie weinen darf, wenn überwältigend

An seine Brust ein großes Schicksal pocht.

Es war ein froher Tag –

Was später kam,

Ihr wißt es alle. Keinen Hüter fand

Das uralt heil'ge Kleinod unsres Volks.

Die Hand, schon zum Ergreifen ausgestreckt,

Verschloß sich plötzlich, und zu Boden fiel

Des Reiches Apfel. Waisen blieben wir,

Wie wir's gewesen dreiundvierzig Jahr',

Und an den Weiden hängten wir aufs neu'

Die Harfen auf, und durch die Saiten ging

Des Windes Seufzen. O, wann bringt ein Tag

Dem Vaterlande die Gestirnung wieder!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 208-210.
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