O stille dies Verlangen!

[29] O stille dies Verlangen,

Stille die süße Pein!

Zu seligem Umfangen

Laß den Geliebten ein![29]

Schon liegt die Welt im Traume,

Blühet die duft'ge Nacht;

Der Mond im blauen Raume

Hält für die Liebe Wacht.

Wo zwei sich treu umfangen,

Da gibt er den holdesten Schein.

O stille dies Verlangen,

Laß den Geliebten ein!


Du bist das süße Feuer,

Das mir am Herzen zehrt;

Lüfte, lüfte den Schleier,

Der nun so lang mir wehrt!

Laß mich vom rosigen Munde

Küssen die Seele dir,

Aus meines Busens Grunde

Nimm meine Seele dafür -

O stille dies Verlangen,

Stille die süße Pein,

Zu seligem Umfangen

Laß den Geliebten ein!


Die goldnen Sterne grüßen

So klar vom Himmelszelt,

Es geht ein Wehn und Küssen

Heimlich durch alle Welt,

Die Blumen selber neigen

Sehnsüchtig einander sich zu,

Die Nachtigall singt in den Zweigen -

Träume, liebe auch du!

O stille dies Verlangen,

Laß den Geliebten ein!

Von Lieb' und Traum umfangen

Wollen wir selig sein.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 29-30.
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