Minnelied

[164] Es gibt wohl manches, was entzücket,

Es gibt wohl vieles, was gefällt;

Der Mai, der sich mit Blumen schmücket,

Die güldne Sonn' im blauen Zelt.

Doch weiß ich eins, das schafft mehr Wonne

Als jeder Glanz der Morgensonne,

Als Rosenblüt' und Lilienreis:

Das ist, getreu im tiefsten Sinne[164]

Zu tragen eine fromme Minne,

Davon nur Gott im Himmel weiß.


Wem er ein solches Gut beschieden,

Der freue sich und sei getrost!

Ihm ward ein wunderbarer Frieden,

Wie wild des Lebens Brandung tost.

Mag alles Leiden auf ihn schlagen:

Sie lehrt ihn nimmermehr verzagen,

Sie ist ihm Hort und sichrer Turm;

Sie bleibt im Labyrinth der Schmerzen

Die Fackelträgerin dem Herzen,

Bleibt Lenz im Winter, Ruh' im Sturm.


Doch suchst umsonst auf irrem Pfade

Die Liebe du im Drang der Welt;

Denn Lieb' ist Wunder, Lieb' ist Gnade,

Die wie der Tau vom Himmel fällt.

Sie kommt wie Nelkenduft im Winde,

Sie kommt, wie durch die Nacht gelinde

Aus Wolken fließt des Mondes Schein;

Da gilt kein Ringen, kein Verlangen,

In Demut magst du sie empfangen,

Als kehrt' ein Engel bei dir ein.


Und mit ihr kommt ein Bangen, Zagen,

Ein Träumen aller Welt versteckt;

Mit Freuden mußt du Leide tragen,

Bis aus dem Leid ihr Kuß dich weckt;

Dann ist dein Leben ein geweihtes,

In deinem Wesen blüht ein zweites,

Ein reineres von Licht und Ruh';

Und todesfroh in raschem Fluten

Fühlst du das eigne Ich verbluten,

Weil du nur wohnen magst im Du.


Das ist die köstlichste der Gaben,

Die Gott dem Menschenherzen gibt,

Die eitle Selbstsucht zu begraben,

Indem die Seele glüht und liebt.[165]

O süß Empfangen, sel'ges Geben!

O schönes Ineinanderweben!

Hier heißt Gewinn, was sonst Verlust.

Je mehr du schenkst, je froher scheinst du,

Je mehr du nimmst, je sel'ger weinst du -

O gib das Herz aus deiner Brust!


In ihrem Auge deine Tränen,

Ihr Lächeln sanft um deinen Mund,

Und all dein Denken, Träumen, Sehnen,

Ob's dein, ob's ihr, dir ist's nicht kund.

Wie wenn zwei Büsche sich verschlingen,

Aus denen junge Rosen springen,

Die weiß, die andern rot erglüht,

Und keiner merkt, aus wessen Zweigen

Die hellen und die dunkeln steigen:

So ist's; du fühlest nur: es blüht.


Es blüht; es ist ein Lenz tiefinnen,

Ein Geisteslenz für immerdar;

Du fühlst in dir die Ströme rinnen

Der ew'gen Jugend wunderbar.

Die Flammen, die in dir frohlocken,

Sind stärker als die Aschenflocken,

Mit denen Alter droht und Zeit;

Es leert umsonst der Tod den Köcher,

So trinkst du aus der Liebe Becher

Den süßen Wein: Unsterblichkeit.


Spät ist es - hinter dunkeln Gipfeln

Färbt golden sich der Wolken Flaum;

Tiefrötlich steigt aus Buchenwipfeln

Der Mond empor am Himmelssaum.

Der Wind fährt auf in Sprüngen, losen,

Und spielet mit den weißen Rosen,

Die rankend blühn am Fenster mir.

O säuselt, säuselt fort, ihr Lüfte,

Und tragt, getaucht in Blumendüfte,

Dies Lied und meinen Gruß zu ihr![166]

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 164-167.
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