O sieh mich nicht so lächelnd an

[66] O sieh mich nicht so lächelnd an,

Du Röslein jung, du schlankes Reh!

Dein Blick, der jedem wohlgetan,

Mir tut er in der Seele weh;[66]

Mein Herz wird trüb und trüber

Bei deiner Freundlichkeit;

Vorüber ist, vorüber

Der Liebe Zeit.


Ja wär' ich jung und froh wie du,

Und wär' ich so frisch, und wär' ich so rein:

Wie schlüge mein Herz dem deinen zu,

Wie könnten wir selig zusammen sein!

Wie sollte durchs Gemüte

Mir ziehn ein süßer Traum!

Doch so - was soll die Blüte

Am welken Baum?


Mein Leben liegt im Abendrot,

Deins tritt erst ein in den sonnigen Tag;

Mein Herz ist starr, mein Herz ist tot,

Deins hebt erst an den lustigsten Schlag;

Du schaust nach deinem Glücke

In goldne Fernen weit,

Ich blicke schon zurücke

In alte Zeit.


Drum sieh mich nicht so freundlich an,

Du Röslein jung, du schlankes Reh!

Dein Blick, der jedem wohlgetan,

Mir tut er in der Seele weh.

Laß scheiden mich und wandern

Die Welt hinauf, hinab;

Du findest einen andern,

Und ich - ein Grab.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 66-67.
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