Die Türkenkugel

[356] Auf der Höh' am Felsenkirchlein,

Rings vom Türkenheer umschlossen,

Liegt ein Häuflein tapfrer Griechen

Von des Bozzaris Genossen.


Achtmal hat die Schar dort oben

Schon begrüßt den Strahl der Sonnen;

Achtmal schon ergimmten Mutes

Hat der Feind den Sturm begonnen.[356]


Doch vergeblich in den Schluchten

Häuft' er Tote nur zu Toten,

Denn der Fels ist schroff, und sicher

Trifft das Blei der Sulioten.


Drum von fern aus Feuerschlünden

Will er nun Verderben senden;

Kugeln über Kugeln wirft er

Nach den steilen Felsenwänden.


Aber mag sein glühend Eisen

Seltnes Opfer nur erreichen:

Schon beginnt ein andrer Würger

Droben durch die Schar zu schleichen.


Grauser als von Feindeswaffen

Ist der Tod von Durstesqualen;

Keinen Brunnen hat der Felsen,

Und geleert sind Schläuch' und Schalen.


Und der Himmel blau und ehern

Schaut herab mit Feueraugen;

Ach, nicht reicht's, daß von den Halmen

Sie den Tau der Frühe saugen.


Bleich, mit hohlen Wangen, schwanken

Um das Kirchlein die Gestalten:

Kaum vermag der Arm entkräftet

Noch das lange Rohr zu halten.


Dorrend klebt die Zung' am Gaumen,

Fieberglut durchrast die Glieder;

In der Not des neunten Abends

Werfen sie sich flehend nieder:


»Der du Mosis Stab gesegnet,

Daß er Wasser schuf dem Volke,

Der du auf Elias' Rufen

Kamst in schatt'ger Regenwolke,[357]


Herr, erbarm', erbarm' dich unser!

Sieh, wir sind wie trockne Scherben, –

Von des Feindes Schwert errettet,

Laß uns nicht im Durst verderben!«


Und noch hallt es: »Herr, erbarm' dich!«

Da in rotgewölbtem Bogen

Aus dem Türkenlager sausend

Kommt ein Feuerball geflogen.


Dröhnend schlägt er in die Klippe,

Bohrt sich wühlend tief und tiefer, –

Horch, da zischt es leis, und silbern

Zuckt es auf im Felsgeschiefer:


Und es blinkt und rinnt und rieselt,

Und mit Brausen dann geschossen

Well' auf Welle kommt das Wasser,

Dem das Erz die Bahn erschlossen.


O wie lieblich rauscht der Sprudel

In das Ohr der Kriegsgefährten!

O wie schlürfen sie mit Wonnen

Von dem Naß, dem langentbehrten!


Aber dann zum frommen Danke

Siehst du sie die Hände falten:

»Sei gepriesen, Herr der Gnaden!

Wundervoll ist all dein Walten.


Durch die Hand des grimmsten Feindes

Weißt du Trost und Heil zu geben;

Tod gedacht' er uns zu senden,

Doch du wandtest Tod in Leben!«

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 356-358.
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