Aus Griechenland

[20] Ich saß im Abendschein

Auf Naxos' Traubenklippe;

Der Krug mit dunklem Wein

Erfrischte meine Lippe.[20]


Da sah ich, wie im Tal

Mit Frucht und Silberblüten

Die Gärten sonder Zahl

Im Sonnenduft verglühten;


Ich sah am Fels empor

Hoch über luft'gen Stiegen,

Reblaub um Säul' und Tor,

Die schmucken Häuser liegen;


Ich sah der Herde Zug,

Den Hirten mit dem Stabe,

Die Jungfrau schöpft' im Krug

Am Bach die frische Labe.


Und ferne blitzt' im Ring

Das Meer vergoldet wieder,

Denn hinter Paros ging

Die Sonne langsam nieder.


Da kam's mir ins Gemüt:

Hier unter diesem blauen

Gezelt, wo's ewig blüht,

Wie gut wär's Hütten bauen!


Es würde dir der Baum,

Es würden Feld und Reben

Dir mühlos wie im Traum

Des Lebens Notdurft geben.


Ein Weib von dieses Lands

Gottähnlichem Geschlechte,

Sie flöchte Liebesglanz

In deine Tag' und Nächte.


Nicht in gelahrten Wust,

In Nebel nicht begraben,

Genössest du mit Lust

Der großen Mutter Gaben.


Du sähst im Sonnenschein

Ihr formenbildend Walten

Und dürftest weise sein

Und heiter wie die Alten.[21]


So träumt' ich vor mich hin

In selig Schaun versunken,

Es war mein ganzer Sinn

Vom Glanz des Südens trunken.


Doch froh gedacht' ich's kaum,

Da sprach das Herz mit Beben:

Das ist ein schöner Traum,

Doch ist's ein Traumbild eben.


Wie sollte dir, o Tor,

Erblühen Rast und Friede,

Wo nimmermehr ein Ohr

Aufhorchte deinem Liede!


Bei Palm' und Rebgewind'

Bald würde dich's verlangen

Zum Wald, wo du als Kind

Vertieft dahingegangen.


Von deinem Volke los

Und seinem Kampf und Trachten

Müßt' aller Füll' im Schoß

Dein einsam Herz verschmachten.


Und ob ein griechisch Weib,

Schön wie die Morgenröte,

Dir freudig Seel' und Leib

Zum Eigentume böte:


Es könnt' ihr fremder Brauch,

Ihr südlich Tun und Denken

Dir nie den Veilchenhauch

Der deutschen Minne schenken.


Drum auf, genieße frei

Den Glanz, der dich umwebet!

Nur wie die Biene sei,

Die leicht im Sammeln schwebet.


Im Ölwald Attikas,

Am Strand Homers erringe

Der Schönheit ew'ges Maß,

Daß es dein Lied durchdringe.[22]


Erfülle pilgernd hier

In tiefen Atemzügen

Die ganze Seele dir

Mit heiterem Genügen;


Doch wolle Stab und Gurt

Nicht rastend von dir legen;

Das Größt' ist die Geburt,

Und nur daheim ist Segen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 20-23.
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