Gudruns Klage

[76] Nun geht in grauer Frühe

Der scharfe Märzenwind,

Und meiner Qual und Mühe

Ein neuer Tag beginnt.[76]

Ich wall' hinab zum Strande

Durch Reif und Dornen hin,

Zu waschen die Gewande

Der grimmen Königin.


Das Meer ist tief und herbe,

Doch tiefer ist die Pein,

Von Freund und Heimatserbe

Allzeit geschieden sein;

Doch herber ist's, zu dienen

In fremder Mägde Schar,

Und hat mir einst geschienen

Die güldne Kron' im Haar.


Mir ward kein guter Morgen,

Seit ich dem Feind verfiel:

Mein Speis' und Trank sind Sorgen,

Und Kummer mein Gespiel.

Doch berg' ich meine Tränen

In stolzer Einsamkeit;

Am Strand den wilden Schwänen

Allein sing' ich mein Leid.


Kein Dräuen soll mir beugen

Den hochgemuten Sinn;

Ausduldend will ich zeugen,

Von welchem Stamm ich bin.

Und so sie hold gebaren,

Wie Spinnweb acht' ich's nur;

Ich will getreu bewahren

Mein Herz und meinen Schwur.


O Ortwin, trauter Bruder,

O Herwig! Buhle wert,

Was rauscht nicht euer Ruder,

Was klingt nicht euer Schwert!

Umsonst zur Meereswüste

Hinspäh' ich jede Stund':

Doch naht sich dieser Küste

Kein Wimpel, das mir kund.[77]


Ich weiß es: Nicht vergessen

Habt ihr der armen Maid;

Doch ist nur kurz gemessen

Dem steten Gram die Zeit.

Wohl kommt ihr einst, zu sühnen; –

Zu retten, ach, zu spät,

Wann schon der Sand der Dünen

Um meinen Hügel weht.


Es dröhnt mit dumpfem Schlage

Die Brandung in mein Wort;

Der Sturm zerreißt die Klage

Und trägt beschwingt sie fort.

O möcht' er brausend schweben

Und geben euch Bericht:

»Wohl lass' ich hier das Leben,

Treue lass' ich nicht!«

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 76-78.
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