2.

[374] Als die Zwölfnacht nun herankam

Und der Reif im Forste lag,

Bat sie ihn, die Jagd zu meiden,

Bis erfüllt das alte Jahr,

Und, wiewohl es schwer ihn dünkte,

Sagt' er zu, was sie verlangt.

Aber einst, da gegen Abend

Sie verfallen war in Schlaf,

Zog er, seine Lust zu büßen,

Dennoch heimlich aus zur Jagd.

Lange schweift' er durch die Heide,

Ohne daß ein Wild er traf,

Bis er eine Wölfin endlich

Laufen sah am Waldeshang.

Die bedünkt' ihn gute Beute,

Schleunig nahm er seinen Stand,

Und den schärfsten seiner Pfeile

Schoß er, sie zu töten, ab.

Doch mit Winseln in die Büsche

Sprang das Untier und entrann,

Und umsonst, es aufzufinden,

Spürt' er durch den ganzen Wald.

Aber als er drauf nach Hause

Kam in später Mitternacht,[374]

Fand er dort in Blute schwimmend

Auf dem Lager sein Gemahl,

Wie sie wimmernd aus der Seite

Einen scharfen Pfeil sich wand.

Schmerzlich schrie sie auf zum Himmel,

Als sie den Geliebten sah,

Schaute dann, die Lippen regend,

Kummervollen Blicks ihn an,

Doch bevor sie reden konnte,

War ihr Herz im Tod erstarrt.

Bei der Leiche stand der Ritter

Von Entsetzen übermannt,

Denn den eignen Pfeil erkannt' er,

Der die Brust der Gattin traf,

Und zerrissen unterm Bette

Lag ein blutig Wolfsgewand.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 374-375.
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