Erster Auftritt

[447] Jungfer Lorchen. Herr Ferdinand.


LORCHEN. Was ich Ihnen sage. Sie können die Frau Muhme itzt nicht sprechen. Sie hat ihre Andacht. Und ich wollte nicht viel nehmen; im engeren Sinn ist Geld nehmen = sich bestechen lassen (Adelung.)

FERDINAND. Mein Gott! die gute Frau. Ich mag kommen, wenn ich will, so hat sie ihre Andacht. Heute Vormittage wollte ich zu ihr; da war Betstunde. Nun komme ich nach Tische; so hat sie wieder ihre Betstunde.

LORCHEN. Es ist nicht anders. Ihr Leben ist ein beständiges Gebet.

FERDINAND. Das Beten ist ein wichtiges Stück der Religion. Allein es gibt ja noch andere Pflichten, die ebenso nötig und ebenso heilig sind. Sie wird doch nicht Tag und Nacht beten, das will ich nicht hoffen.

LORCHEN. Nein, sie wechselt ab. Wenn sie nicht beten will: so singt sie. Und wenn sie nicht mehr Lust zum Singen hat: so betet sie. Und wenn sie weder beten noch singen will: so redet sie doch vom Beten und Singen.

FERDINAND. Nun, das muß ich bekennen. Ich habe mir wohl sagen lassen, daß meine Frau Muhme sehr fromm ist. Ich habe es auch geglaubt. Allein ihr stetes Beten und Singen bringt mich fast auf die Gedanken, daß sie nicht fromm ist, sondern nur fromm scheinen will. Sie möchte sich immer ein Gebet machen lassen, um des Abends die Sünde zu verbeten, die sie den Tag über mit Beten und Singen begeht. Stets beten, heißt nicht beten, und den ganzen Tag beten, ist so strafbar, als den ganzen Tag schlafen.

LORCHEN. Mein lieber Herr Ferdinand, lassen Sie doch Ihren Eifer nicht an mir aus. Sie kennen mich ja wohl, da ich ehemals die Ehre gehabt, einige Zeit in Ihrem Hause zu leben. Es ist niemand weniger mit der Andacht der Frau Muhme zufrieden als ich. Sie betet uns oft um das Mittagsessen; und nie ist sie andächtiger, als um die Stunde, da die Köchin das Marktgeld holen will. Sie hat ihr schon aus frommem Eifer zweimal das Gebetbuch an den Kopf geworfen, weil sie so unverschämt gewesen ist und sie im Singen gestört hat.

FERDINAND. Ich lerne meine Frau Muhme immer besser kennen. Es würde ein sehr mittelmäßiges Glück für Herrn Simonen sein,[447] wenn er mit seiner künftigen Frau Schwiegermutter in einem Haus wohnen sollte. Sie würde ihn entweder bald aus dem Hause oder bald ins Grab beten. Überhaupt geht sie mit ihm und mit mir sehr wunderbar um. Sie hat verlangt, daß wir zu ihr kommen und das Jawort wegen der Heirat mit ihrer Jungfer Tochter abholen sollen. Wir sind von Berlin hieher gereiset. Wir sind schon vier Tage hier. Und alle Tage hat sich ein Hindernis finden müssen, dem Herrn Simon das versprochene Ja zu erteilen. Morgen müssen wir wieder fort. Und der heutige Tag ist endlich zu der Versprechung angesetzt. Gleichwohl sehe ich noch wenig Anstalt dazu.

LORCHEN. Gedulden Sie sich nur bis um vier Uhr, wenn ich bitten darf. Eher nimmt die Frau Richardin keinen Besuch an. Und eher sie sich in ihrer Nachmittagsandacht stören läßt, eher läßt sie Herrn Simonen und zehn andre Freier wieder fortreisen.

FERDINAND. Ich weiß wohl, daß wir erst um vier Uhr herbestellt sind. Allein ich habe noch verschiedenes wegen der Aussteuer mit meiner Frau Muhme auszumachen, und solche Sachen muß man vor dem Jaworte in Richtigkeit bringen. Haben Sie also die Güte und lassen Sie mich melden.

LORCHEN. Das kann ich nicht wagen. Die Andacht geht bei ihr über alles. Sie setzt uns beide in die Ketzerhistorie, wenn wir sie stören. Sie zweifelt ohnedem sehr an der Aufrichtigkeit meiner Tugend, weil ich so eitel bin und zuweilen in dem »Zuschauer« oder sonst in einem weltlichen Buche, wie sie zu reden pflegt, lese.

FERDINAND. So wollen Sie mich nicht melden lassen?

LORCHEN. Sobald es viere schlägt; so will ich Sie melden. Denn ebendiese Stunde hat sie zu weltlichen Geschäften, und also auch zu dem Jaworte, ausgesetzt. Doch um fünf oder längstens um sechs Uhr muß alles getan sein. Länger hält sie sich nicht auf. Denn nach dem kommen zwo von ihren Klientinnen in der Andacht zu ihr, die sie mit erbaulichen Neuigkeiten unterhalten.

FERDINAND. Also wird sie uns wohl nicht zu Tische behalten?

LORCHEN. Ich zweifle sehr daran. Sie hält gar nicht viel auf das Essen. Fasten und Beten ist ihr Gesetz und ihr Vergnügen. Und wenn sie etwas in der Religion zu befehlen hätte: so würde sie alle Fest-, Sonn- und Aposteltage zu Fasttagen machen, so sehr liebt sie die Enthaltung vom Essen und Trinken.

FERDINAND. Wie ich merke, so mag ihr diese Tugend sehr natürlich[448] sein. Meine Frau Muhme wird vielleicht das Fasten lieben, weil sie geizig ist.

LORCHEN. Das will ich eben nicht sagen. Wer ihr aber vorwirft, daß sie das Ihrige nicht zu Rate hält, der kann diese Verleumdung in Ewigkeit nicht verbeten.

FERDINAND. Reden Sie nicht so durch Umschweife mit mir, mein liebes Jungfer Lorchen, sondern tun Sie, als wenn die Frau Richardin meine Frau Muhme nicht wäre! Sie leben schon ein Jahr in ihrem Hause und müssen mir die beste Beschreibung von ihr machen können. Ich habe die gute Frau vor drei Tagen in meinem Leben zum ersten Male gesehen. Und ich hoffe, daß mir der Abschied von ihr nicht sauer werden soll. Machen Sie mir doch einen kleinen Charakter. Denn, wie ich glaube, so mag es mit ihrer großen Frömmigkeit eben nicht so richtig sein, als mir die Leute gesagt haben.

LORCHEN. Wer die Tugend in den Mienen und auf den Lippen zu suchen gewohnt ist, der kann der Frau Richardin ihren Ruhm unmöglich absprechen. Alles ist fromm an ihr; ihre Mienen, ihre Sprache, ihr Gang, ihre Kleidung. Kurz, alles stimmt an ihr mit der Andacht überein. Sie ist eine Feindin aller Eitelkeit, und sie hält mit der größten Demut an den ehrbaren Sitten ihrer Vorfahren.

FERDINAND. Das letzte höre ich gern. Ich bin ein großer Freund von den unschuldigen Sitten unserer Voreltern. Und wenn meine Frau Muhme nur ein gutes Herz hat: so will ich ihr die Unrichtigkeit in ihren Meinungen gern übersehen.

LORCHEN. Geben Sie nur recht Achtung auf sie. Sie werden die Sitten ihrer Großgroßeltern noch unversehrt an ihr finden. Alle Schnitte von Kleidern und Hauben, wie sie vor funfzig Jahren gebräuchlich gewesen sind, behält sie standhaft bei. Und ehe sie den kleinen Fischbeinrock, den langen Pelz und die niedrigen Absätze fahren ließe: ehe bestätigte sie die Unschuld dieser Sitten mit ihrem Tode.

FERDINAND. Sind dieses die frommen Sitten der Alten? Dies sind ja ihre Moden.

LORCHEN. Die Frau Richardin weiß es besser. Wer sich trägt, wie die Alten gingen, der ist ehrbar und sittsam. Und wer zehn oder zwölf Jahre in einem Kleide gehen kann, der ist demütig und sanftmütig.

FERDINAND. Das ist eine treffliche Moral! Meine Frau Muhme sollte[449] ein ganzes Buch von den Kennzeichen der Tugenden schreiben. Ich glaube, sie spräche allen Leuten den Himmel ab, die ihre Kleider dem Willen der Mode und der Schneider überlassen. Sagen Sie mir nur, was sie den ganzen Tag macht.

LORCHEN. Dieses kann ich ihnen leicht sagen. Allein Sie werden allezeit denken, ich erzähle Ihnen eine Fabel. Gegen acht Uhr steht sie auf. Und sobald sie den Fuß in den Pantoffel setzet: so fängt sie auch an zu singen. Singend nun kämmt sie zuerst den Mops. Singend versorget sie ihre Katze. Singend füttert sie den Kanarienvogel. Singend besucht sie ihre beiden brabantischen Hühner. Und sobald es neune schlägt: so hört sie auf zu singen, wenn es auch mitten in dem Gesätze eines Liedes wäre.

FERDINAND. Warum denn das?

LORCHEN. Es ist ihre Ordnung so. Sie will stundenweise, und nicht anders, singen und beten. Sobald es also neune schlägt, so läuft sie, was sie kann, damit sie, ehe es ganz ausschlägt, schon an ihrem Gebettische sitzt.

FERDINAND. Der Himmel nähme es gewiß nicht übel, wenn sie auch erst nach dem Schlage käme. Sie kann wohl nie spät genug kommen.

LORCHEN. Von neun bis zehn Uhr liest sie erst drei Morgensegen.

FERDINAND. Warum denn drei, und nicht mehr oder weniger?

LORCHEN. Weil sie drei verschiedene Gebetbücher hat, die ihr alle drei gleich lieb und die auch alle drei mit Silber beschlagen sind. Eins hat sie von ihrer seligen Frau Pate zum Geschenke, eins von ihrem seligen Manne vor vierzig Jahren zum Mahlschatze und das dritte aus dem väterlichen Erbe bekommen. – Dieses letzte ist, wie sie erzählt, in drei Häusern mit abgebrannt und doch keinmal verbrannt. Die Schalen sind zwar etwas versehrt worden; allein dem Drucke hat das Feuer mit aller seiner Macht nichts anhaben können.

FERDINAND. Der Buchbinder muß gewiß nicht so fromm als der Buchdrucker gewesen sein, weil der Band nicht im Feuer ausgehalten hat.

LORCHEN. Um des Himmels willen! Ich höre jemanden oben auf dem Saale reden. Wenn es vier geschlagen hat: so ist's gewiß die Frau Muhme. Ich muß gehen. Denn wenn sie mich mit Ihnen allein sähe: so würde sie nicht viel Gutes von uns denken.


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 447-450.
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