Zweiter Auftritt

[450] Frau Richardin. Ferdinand.


FRAU RICHARDIN. Sind Sie schon da, Herr Vetter? Das ist mir lieb.

FERDINAND. Ja, liebe Frau Muhme, ich habe mit Fleiß geeilt, Ihnen meine Aufwartung zu machen, weil wir ohnedem vor der Versprechung noch eins und das andre wegen des Brautschatzes zu reden haben. Diesen Punkt wollen wir unmaßgeblich gleich in Richtigkeit bringen.

FRAU RICHARDIN. Ach! lieber Herr Vetter, wenn ich nur auch heute zu einer Sache geschickt wäre, die so viele Überlegung erfordert. Ich muß meine Umstände wohl in Erwägung ziehen. Ich bin gar nicht so reich, als mich die Leute ausschreien. Ich muß erst sehen, was ich entbehren kann. Und gleichwohl bin ich heute so unruhig, daß ich meine Umstände schwerlich mit Bedacht werde übersehen können. Wieviel Sorge und Not macht einem nicht die Welt! Das gottlose Volk kommt gar und stört einen im Beten, in der größten Andacht; da soll man nicht unwillig, nicht betrübt in seiner Seele werden!

FERDINAND. Ja, ja, die Welt ist böse. Aber liebe Frau Muhme, wir müssen morgen unumgänglich wieder fort, das ist Ihnen bekannt. Sie haben uns drei Tage nacheinander auf den heutigen Tag vertröstet. Und Herr Simon würde zu bedauern sein, wenn er eine so weite und kostbare Reise hätte umsonst tun sollen.

FRAU RICHARDIN. Nein, nein, das nicht! Aber, bedenken Sie nur, Herr Vetter, ob man nicht alle Gelassenheit verlieren muß. Ich lese gleich in der Bibel: so kommt ein Bettler und klopft ordentlich an meinem Vorsaale an und stört mich in der größten Andacht.

FERDINAND. Es ist nicht recht. Doch der arme Mann wird nicht gewußt haben, daß Sie in der Bibel lesen.

FRAU RICHARDIN. Ich lese ja laut, recht laut, damit ich alle Leute in meinem Hause durch meine Erbauung erbaue. Hätte er das nicht hören können? Der gottlose Bettler! Ein noch so junger Mensch schämt sich nicht zu betteln! Die Ruchlosigkeit war recht in seinem Körper abgezeichnet. Warum kann er denn nicht arbeiten, wenn er nichts zu leben hat? Ein Hochedler Rat sollte doch auch das Bettlermandat ... Ich mag nicht reden. Ich habe mich geärgert, daß ich zittre.

FERDINAND. Ich bedaure Sie, Frau Muhme. Aber Sie tun sich durch Ihren Zorn Schaden. Denken Sie nicht daran! Wir wollen zur Sache kommen, und die Mitgift ...[451]

FRAU RICHARDIN. Man möchte vor Ärgernis des Todes sein. Es ist kein Zorn. Ich eifre nur über die Bosheit des Bettlers, der aus Faulheit, aus Wollust müßig geht und andre Leute in der Andacht stört und sie um ihren Nährpfennig bringen will. Eine Hand ohne Finger! Nun? Es war ja nur die linke. Kann er denn nicht mit der rechten arbeiten? Diese war ja so gesund als die meinige. Ich will nicht richten; aber wer weiß, warum ihn Gott so gezeichnet hat, an dem rechten Fuße war er auch lahm. Die Ruchlosigkeit und ein krüpplichter Körper sind immer beisammen. Vergebe mir's Gott! Ich will gerne gelogen haben.

FERDINAND. Liebe Frau Muhme, urteilen Sie nicht so strenge. Vielleicht hat dieser Unglückselige ein gutes Herz gehabt. Und wie Sie mir ihn beschrieben haben: so kann er wohl schwerlich arbeiten.

FRAU RICHARDIN. So, wenn er auch nicht arbeiten kann, soll er mich denn in der Andacht stören? Soll ich meine Gedanken von himmlischen, von überirdischen Dingen abziehen und sie auf einen irdischen Menschen, auf einen Krüppel, einen elenden Wurm richten? Denn was sind wir Menschen denn anders? Würmer, arme boshafte Würmer sind wir.

FERDINAND. Ja, ja. Aber das Gebot zu beten schließt das Gebot der Liebe und des Mitleidens nicht aus.

FRAU RICHARDIN. Nein, bete und arbeite! Dieses sollen alle Menschen tun. Niemand soll dem lieben Gott die Tage abstehlen, noch andern ehrlichen Leuten durch sein unverschämtes Betteln das Leben und die Erhaltung ihres Hauses sauer machen. Der gottlose Mensch!

FERDINAND. Doch, wir sollen ja wohltun. Wir sollen andern beistehen und das Weh und die Anzahl der Elenden zu verringern suchen. Und ich dächte, Werke der Liebe wären so nötig als die Andacht. Ja ich weiß nicht anders, als daß Liebe und Mitleiden notwendige Folgen der Andacht und der Erhebung unsers Geistes zu Gott und zu unsern Pflichten sind. Die Armen sind doch eben sowohl nötig auf der Welt als die Reichen.

FRAU RICHARDIN. Alles gut! Alles wahr! Man muß geben. Man muß förderlich und dienstlich sein. Aber man muß erst an die Seinigen, an sein Haus, an sich und seine armen Kinder denken. Wissen Sie, wer ärger als ein Heide ist? Wer seine Kinder nicht versorgt; wer das Seinige wegwirft. Eben durch die Gutheit macht man nur mehr Bettler, denn man wird endlich darüber[452] selbst zum Bettler. Obrigkeitliche Personen sollten allezeit darauf sehen, daß dem heillosen Bettelwesen gesteuert würde.

FERDINAND. Ja doch, Frau Muhme! Sie tun es auch. Aber es gibt ja Leute, die weder Kräfte noch Glieder zur Arbeit haben; oder die durch Unglücksfälle oder durch anderer Leute Geiz und Bosheit um das Ihrige gekommen sind. Sollen denn diese verhungern und aus Sorge, uns durch ihre Bitten um einen Dreier zu bringen, lieber weinen als essen? Doch wir wollen keine theologischen Untersuchungen anstellen. Sie werden die Pflichten der Religion und der Menschenliebe ohne mich wissen. Lassen Sie uns nun zu den Heiratspunkten schreiten! Denn Herr Simon wird gleich da sein und um Ihre versprochene Einwilligung nochmals gehorsamst bitten.

FRAU RICHARDIN. Ja! Es ist ein ganz feiner Mensch. Ich habe nichts an ihm auszusetzen. Wenn mich nur der Bösewicht, der Bettler, nicht so geärgert hätte: so könnte ich doch etwan überlegen, wieviel ich, ohne zu darben, meiner Tochter mitgeben könnte. Da kommt Lorchen. Es wird gewiß wieder etwas geben.


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 450-453.
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