Neunter Auftritt

[388] Julchen. Der Magister.


JULCHEN. Ist es nicht möglich, daß ich allein sein kann? Müssen Sie mich notwendig stören? Herr Magister! Sagen Sie mir's nur kurz, was zu Ihren Diensten ist.

DER MAGISTER. Jungfer Muhme, ich will etwas mit Ihnen überlegen. Vielleicht bin ich wegen meiner Jahre und meiner Erfahrung nicht ungeschickt dazu. Ich liebe Sie, und Sie wissen, was der Verstand für eine unentbehrliche Sache bei allen unsern Handlungen ist.

JULCHEN. Ja, das weiß ich. Dem ungeachtet wollte ich wünschen, daß ich heute gar keinen hätte; vielleicht wäre ich ruhiger.

DER MAGISTER. Sie übereilen sich. Wer würde das Wahre von dem Falschen, das Scheingut von dem wahren Gute unterscheiden helfen? Wer würde unsern Willen zu festen und glücklichen Entschließungen bringen, wenn es nicht der Verstand täte? Und würden Sie wohl so liebenswürdig geworden sein, wenn Sie nicht immer verständig gewesen wären?

JULCHEN. Herr Magister, Sie sind ja nicht auf Ihrer Studierstube. Was quälen Sie mich mit Ihrer Gelehrsamkeit? Ich mag ja nicht[388] so weise sein als Sie. Ich kann es auch nicht sein, weil ich nicht so viel Geschicklichkeit besitze.

DER MAGISTER. Zu eben der Zeit, da Sie wünschen, daß sie keine Vernunft haben möchten, beweisen Sie durch Ihre Bescheidenheit, daß Sie ihrer sehr viel haben. Ich fordere keine Gelehrsamkeit von Ihnen. Ich will sogar die meinige vergessen, indem ich mit Ihnen spreche. Sie sollen heute den Schritt zu Ihrem Glücke tun. Es scheint aber nicht, daß Sie dazu entschlossen sind. Gleichwohl wünscht es Ihr Herr Vater herzlich. Ich habe ihm versprochen, Ihnen einige kleine Vorstellungen zu tun. Und ich wünschte, daß Sie solche anhören und mir Einwürfe dagegen machen möchten. Dies kann ich, so alt ich bin, doch wohl leiden. Die Liebe ist eine der schönsten, aber auch der gefährlichsten Leidenschaften. Sie rächt sich an uns, wenn wir sie verschmähen; und sie rächt sich auch, wenn wir uns in unserm Gehorsame übereilen.

JULCHEN. Sie sind etwas weitläufig in Ihren Vorstellungen. Allein Sie sollen ohne Einwurf recht haben. Lassen Sie mich nur in Ruhe. Mein Verstand ist freilich nicht so stark an Gründen als eine Philosophie. Dennoch ist er noch immer stark genug für mein Herz gewesen.

DER MAGISTER. Wissen Sie nicht, daß uns unsere Leidenschaften am ersten besiegen, wenn sie am ruhigsten zu sein scheinen? Das Herz der Menschen ist der größte Betrüger. Und der Klügste weiß oft selbst nicht, was in ihm vorgeht. Wir lieben und werden es zuweilen nicht eher gewahr, als bis wir nicht mehr geliebt werden. Dieses alles sollen Sie nicht glauben, weil ich's sage. Nein, weil es die größten Kenner des menschlichen Herzens, ein Sokrates, ein Plato, ein Seneka und viele von den neuern Philosophen gesagt haben.

JULCHEN. Ich kenne alle diese Männer nicht und verlange sie auch nicht zu kennen. Aber wenn sie so weise gewesen sind, wie Sie behaupten, so werden sie wohl auch gesagt haben, daß man ein unruhiges Herz durch viele Vorstellungen nicht noch unruhiger machen soll. Und ich traue dem Plato und Seneka, und wie sie alle heißen, so viel Einsicht und Höflichkeit zu, daß sie Sie bitten würden, mich zu verlassen, wenn sie zugegen wären. Sobald ich die Leidenschaften und insonderheit die Liebe nicht mehr regieren kann: so will ich Ihre Philosophie um Beistand ansprechen.

DER MAGISTER. Ihre Aufrichtigkeit gefällt mir, ob sie mir gleich zu[389] widersprechen scheint. Aber ich würde mich für sehr unphilosophisch halten, wenn ich den Widerspruch nicht gelassen anhören könnte. Sie sollen mich nicht beleidiget haben. Nein! Aber Sie sagen, Sie sind unruhig. Sollte es itzt nicht Zeit sein, diese Unruhe durch Überlegung zu dämpfen? Was verursacht Ihre Unruhe? Ist's der Affekt der Liebe oder des Abscheus? Der Furcht oder des Verlangens? Ich wollte wünschen, daß Sie ein anschauendes Erkenntnis davon hätten. Wenn man die Ursache eines moralischen Übels weiß: so weiß man auch das moralische Gegenmittel. Ich meine es gut mit Ihnen. Ich rede begreiflich, und ich wollte, daß ich noch deutlicher reden könnte.

JULCHEN. Ich setze nicht das geringste Mißtrauen weder in Ihre Aufrichtigkeit, noch in Ihre Gelehrsamkeit. Aber ich bin verdrießlich. Ich weiß nicht, was mir fehlt, und mag es auch zu meiner Ruhe nicht wissen. Verlassen Sie mich. Sie sind mir viel zu scharfsinnig.

DER MAGISTER. Warum loben Sie mich? Wenn Sie so viele Jahre der Wahrheit nachgedacht hätten als ich: so würden Sie vielleicht ebenso helle denken. Unterdrücken Sie Ihre Unruhe und überlegen Sie das Glück, das sich Ihnen heute auf Ihr ganzes Leben anbietet. Herr Damis verlangt Ihr Herz und scheint es auch zu verdienen. Was sagt Ihr Verstand dazu? Auf die Wahl in der Liebe kömmt das ganze Glück der Ehe an; und kein Irrtum bestraft uns so sehr als der, den wir in der Liebe begehn.

Allein wenn kann man sich leichter irren als bei dieser Gelegenheit?

JULCHEN. Ich glaube, daß dieser Unterricht recht gut ist. Aber was wird er mir nützen, da ich nicht lieben will?

DER MAGISTER. Sie reden sehr hitzig. Dennoch werde ich nicht aus meiner Gelassenheit kommen. Sie wollen nicht lieben, nicht heiraten? Aber wissen Sie denn auch, daß Sie dazu verbunden sind? Soll ich Ihnen den Beweis aus meinem Rechte der Natur vorlegen? Sie wollen doch, daß das menschliche Geschlecht erhalten werden soll? Dieses ist ein Zweck, den uns die Natur lehrt. Das Mittel dazu ist die Liebe. Wer den Zweck will, der muß auch das Mittel wollen, wenn er anders verständig ist. Sehn Sie denn nicht, daß Sie zur Ehe verbunden sind? Sagen Sie mir nur, ob Sie die Kraft dieser Gründe nicht fühlen?

JULCHEN. Ich fühle sie in der Tat nicht. Und wenn die Liebe nichts ist als eine Pflicht: so wundert mich's, wie sie so viele Herzen an[390] sich ziehen kann. Ich will ungelehrt lieben. Ich will warten, bis mich die Liebe durch ihren Reiz bezaubern wird.

DER MAGISTER. Jungfer Muhme, das heißt halsstarrig sein, wenn man die Augen vor den klärsten Beweisen zuschließt. Wenn Sie erkennen, daß Sie zur Ehe verbunden sind, wie könnte denn Ihr Wille undeterminiert bleiben? Ist denn der Beifall im Verstande und der Entschluß im Willen nicht eine und ebendieselbe Handlung unserer Seele? Warum wollen Sie sich denn nicht zur Heirat mit dem Herrn Damis entschließen, da Sie sehen, daß Sie eine Pflicht dazu haben?

JULCHEN. Nehmen Sie mir's nicht übel, Herr Magister, daß ich Sie verlasse, ohne von Ihrer Sittenlehre überzeugt zu sein. Was kann ich armes Mädchen dafür, daß ich nicht so viel Einsicht habe als Plato, Seneka und Ihre andern weisen Männer? Machen Sie es mit diesen Leuten aus, warum ich keine Lust zur Heirat habe, da ich doch durch ihren Beweis dazu verbunden bin. Ich habe noch etliche Anstalten in der Küche zu machen.


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 388-391.
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