Zehnter Auftritt

[430] Die Vorigen. Simon.


SIMON. Ich stehe die größte Qual aus. Unsere Absicht mit dem Briefe schlägt leider fehl. Sie liebt ihn nur desto mehr, je mehr sie ihn für unschuldig hält. Sie dringt in ihren Vater, daß er die Verlobung beschleunigen soll. Dieser gute Alte liebt seine Tochter und vergißt vielleicht in der großen Liebe die Vorsichtigkeit und meine Erinnerungen. Wenn es niemand wagen will, sich dem Sturme preiszugeben: so will ich's tun.

DAMIS. Ich tue es auch.

JULCHEN. Wenn nur meine Schwester käme. Ich wollte ... Aber sie liebt ihn unaussprechlich. Was wird ihr Herz empfinden, wenn es sich auf einmal von ihm trennen soll?

SIMON. Es wird viel empfinden. Sie liebt ihn so sehr, als man nur lieben kann. Aber sie liebt ihn deswegen so sehr, weil sie ihn der Liebe wert hält. Sobald sie ihren Irrtum sehen wird: so wird sich die Vernunft, das Gefühl der Tugend und das Abscheuliche der Untreue wider ihre Liebe empören und sie verdrängen. Der Haß wird sich an die Stelle der Liebe setzen. Wir müssen alle drei noch einmal mit ihr und dem Herrn Vater sprechen, ehe er sie um das Ja betrügt.

JULCHEN. Du redliche Schwester! Könnte ich doch dein Unglück durch Wehmut mit dir teilen! Wie traurig wird das Ende dieses Tages für mich!

SIMON. Betrüben Sie sich nicht über den Verlust eines solchen Mannes. Lottchen ist glücklich, wenn sie ihn verliert, und unglücklich,[430] wenn sie ihn behält. Herr Damis, haben Sie die Güte und sehen Sie, wie Sie Lottchen einen Augenblick von ihrem Liebhaber entfernen und hieherbringen können.

DAMIS. Ja, das ist das letzte Mittel.

SIMON zu Damis. Noch ein Wort. Haben Sie die Abschrift des Testaments schon gelesen, die ich itzt mitgebracht habe?

DAMIS. Nein, Herr Vormund.

SIMON. Sie auch nicht, Mamsell Julchen?

JULCHEN. Nein.

SIMON. Also wissen Sie beide noch nicht, daß die erste Nachricht falsch gewesen ist. Mamsell Julchen, erschrecken Sie nicht. Sie sind nicht die Erbin des Ritterguts.

JULCHEN. Wie? Ich bin's nicht? Warum haben Sie mir denn eine falsche Freude gemacht? Das ist betrübt. Geht denn heute alles unglücklich? Ach, Herr Damis, Sie sagen nichts? Bin ich nicht mehr Ihre Braut? Geht denn das Unglück gleich mit der Liebe an? Ich wollte meinen Vater und meine liebe Schwester mit in mein Gut nehmen. Ich ließ schon die besten Zimmer für sie zurechtemachen. Ach, mein Herr, was für eine Freude empfand ich nicht, wenn ich mir vorstellte, daß ich Sie an meiner Hand durch das ganze Gut, durch alle Felder und Wiesen führte ...! Also habe ich nichts?

DAMIS. Sie haben so viel, als ich habe. Vergessen Sie die traurige Erbschaft. Es wird uns an nichts gebrechen. Mir ist es recht lieb, daß Sie das Rittergut nicht bekommen haben. Vielleicht hätte die Welt geglaubt, daß ich bei meiner Liebe mehr auf dieses als auf Ihren eigenen Wert gesehen hätte. Und dies soll sie nicht glauben. Sie soll meine Braut aus ebender Ursache hochschätzen, aus der ich sie verehre und wähle. Führen Sie mich an Ihrer Hand in meinem eigenen Hause herum: so werden Sie mir ebendas Vergnügen machen. Genug, daß Sie ein Rittergut verdienen. O wenn ich nur Lottchen aus ihrem Elende gerissen hätte. Ich werde eher nicht ruhig.

SIMON. Jungfer Lottchen ist die Erbin des Ritterguts.

JULCHEN. Meine Schwester ist es? Meine Schwester? Bald hätte ich sie beneidet; aber verwünscht sei diese Regung! Nein! Ich gönne ihr alles. Zu Damis. Was könnte ich mir noch wünschen, wenn Sie mit mir zufrieden sind. Sie soll es haben. Ich gönne ihr alles.

DAMIS. Auch mich, meine Braut?

JULCHEN. Ob ich Sie meiner Schwester gönne? Nein, so redlich bin[431] ich doch nicht. Es ist keine Tugend; aber ... Fragen Sie mich nicht mehr.

DAMIS. Nein. Ich will Mamsell Lottchen suchen. Die Zärtlichkeit soll der Freundschaft einige Augenblicke nachstehen.


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 430-432.
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