Der Freier

[157] Ein Freier bat einst einen Freund,

Ihm doch ein Mädchen vorzuschlagen.

»Ich will dir zwei«, versetzte jener, »sagen,

Dann wähle die, die sich für dich zu schicken scheint.


Die erste hat, nebst einem Rittersitze,

Ein recht bezauberndes Gesicht,[157]

Liebt den Geschmack, spricht mit dem feinsten Witze

Und schreibt die Sprachen, die sie spricht.

Sie spielt den Flügel schön und kann vortrefflich singen

Und malet so geschickt, als es die Kunst begehrt,

Und in der Wirtschaft selbst giebt sie gemeinen Dingen

Durch ihre Sorgfalt einen Wert.

Allein bei aller Kunst und allen ihren Gaben

Hat sie kein gutes Herz.

Die andre sieht nicht schön,

Wird wenig im Vermögen haben

Und von den Künsten nichts, die jene kann, verstehn;

Doch bei Verstand und einem stillen Reize,

Der, ohne daß sie's sieht, gefällt,

Besitzt sie, frei von Stolz und Geize,

Das beste Herze von der Welt.

Was thätst du wohl, wenn dich die erste haben wollte?« –

»Ach«, fing der Freier an, »wenn dies geschehen sollte:

So spräch' ich zu der ersten Nein,

Um dadurch bald der andern wert zu sein.«

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 157-158.
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