Der Jüngling

[149] Ein Jüngling, welcher viel von einer Stadt gehört,

In der der Segen wohnen sollte,

Entschloß sich, daß er da sich niederlassen wollte.

»Dort«, sprach er oft, »sei dir dein Glück beschert!«

Er nahm die Reise vor und sah schon mit Vergnügen

Die liebe Stadt auf einem Berge liegen.

»Gottlob!« fing unser Jüngling an,

»Daß ich die Stadt schon sehen kann;

Allein der Berg ist steil. O! wär' er schon erstiegen!«


Ein fruchtbar Tal stieß an des Berges Fuß.

Die größte Menge schöner Früchte

Fiel unserm Jüngling ins Gesichte.

»O!« dacht' er, »weil ich doch sehr lange steigen muß:

So will ich, meinen Durst zu stillen,

Den Reisesack mit solchen Früchten füllen.«

Er aß und fand die Frucht vortrefflich vom Geschmack

Und füllte seinen Reisesack.


Er stieg den Berg hinan und fiel den Augenblick

Beladen in das Thal zurück.

»O Freund!« rief einer von den Höhen,

»Der Weg zu uns ist nicht so leicht zu gehen.

Der Berg ist steil und mühsam jeder Schritt,

Und du nimmst dir noch eine Bürde mit?

Vergiß das Obst, das du zu dir genommen,

Sonst wirst du nicht auf diesen Gipfel kommen.

Steig' leer und steig' beherzt und gieb dir alle Müh';

Denn unser Glück verdienet sie.«


Er stieg und sah empor, wie weit er steigen müßte.

Ach Himmel! ach! es war noch weit.

Er ruht' und aß zu gleicher Zeit

Von seiner Frucht, damit er sich die Müh' versüßte.[149]

Er sah bald in das Tal und bald den Berg hinan:

Hier traf er Schwierigkeit und dort Vergnügen an.

Er sinnt. Ja, ja, er mag es überlegen.

»Steig'«, sagt ihm sein Verstand, »bemüh' dich um dein Glück.« –

»Nein«, sprach sein Herz, »kehr' in das Tal zurück;

Du steigst sonst über dein Vermögen.

Ruh' etwas aus und iß dich satt

Und warte, bis dein Fuß die rechten Kräfte hat!«

Dies tat er auch. Er pflegte sich im Tale,

Entschloß sich oft zu gehn und schien sich stets zu matt.

Das erste Hindernis galt auch die andern Male;

Kurz, er vergaß sein Glück und kam nie in die Stadt.


Dem Jüngling gleichen viele Christen.

Sie wagen auf der Bahn der Tugend einen Schritt

Und sehn darauf nach ihren Lüsten

Und nehmen ihre Lüste mit.

Beschwert mit diesen Hindernissen,

Weicht bald ihr träger Geist zurück;

Und auf ein sinnlich Glück beflissen,

Vergessen sie die Müh' um ein unendlich Glück.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 149-150.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln und Erzählungen
Poetische Fabeln und Erzählungen: Teil 2
C. F. Gellerts Fabeln und Erzählungen
Fabeln Und Erzaehlungen
Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd.1, Fabeln und Erzählungen
Christian Fürchtegott Gellert: Fabeln und Erzählungen

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gedichte. Ausgabe 1892

Gedichte. Ausgabe 1892

Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.

200 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon