Die beiden Knaben

[155] Ein jüngrer und ein ältrer Bube,

Die der noch frühe Lenz aus der betrübten Stube

Vom Buche zu dem Garten rief,

Vielleicht weil gleich ihr Informator schlief,

Gerieten beid' an eine Grube,

In der der Schnee noch nicht zerlief.

»Ach Bruder!« sprach der kleine Bube,

»Was meinst du, ist das Loch wohl tief?

Ich hätte Lust –« »Was? Lust hinein zu springen?

Du mußt doch ausgelassen sein.

Versuch' es nicht und spring' hinein,

Du könntest dich ums Leben bringen.

Wir können uns ja sonst noch wohl erfreun,

Als daß wir uns und unsern Kleidern schaden

Und kindisch Schnee und Eis durchwaten.

Und kömmst du drauf zum Vater naß hinein:

So hast du's da erst auszubaden.«

Doch keine Redekunst nahm unsern Knaben ein.

»Wer wird im Schnee denn gleich ersaufen?«

Und kurz und gut, er sprang hinein

Und ließ sich's wohl in seiner Grube sein;[155]

Doch kaum war er vor Kälte fortgelaufen:

So sprang der Philosoph so gut wie er hinein.


Dies ist die Kunst der strengen Moralisten.

Bekannt mit dem System und von Grundsätzen voll,

Beweisen sie das, was man lassen soll,

So froh, als ob sie nichts von den Begierden wüßten.

Sie sind von besserm Ton als wir.

Sie bändigen ihr Herz durch die Gewalt der Schlüsse.

Uns Armen ist die Torheit süße;

Doch ihnen ekelt nur dafür.

Wir lassen sie, wenn wir sie unternehmen,

Aus gutem Herzen andern sehn

Und denken nicht daran, daß wir uns so vergehn.

Sie aber, die gelehrt sich aller Torheit schämen,

Begehn die That, die sie uns übel nehmen,

Aus Tugend eher nicht, als bis wir es nicht sehn.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 155-156.
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