DAS IRDISCHE PARADIES

[120] Da rings zu wandern mich der wunsch erfüllte

Im dichten und lebendigen gottesgarten

Der für den blick die neue sonne hüllte:


Liess ich die grenze ohne mehr zu warten

Und schlug mich langsam langsam ins gefilde

Hin über pfade die von düften starrten.


Ein zephir ohne sich zu ändern milde

Umstrich mit einem zuge mir die wange

Nicht stärker als wenn sanfter hauch ihn bilde.


Worauf die blätter bebend beim empfange

Nach jener seite allesamt sich bogen

Wo erster schatten fällt vom heiligen hange.[120]


Doch wurden sie nicht so vom ast gezogen

Dass nicht die kleinen vögel immer wieder

In wipfeln alle ihre künste pflogen.


Sie dehnten voller freude ihr gefieder

Im ersten winde · singend im gezweige

Das wie ein bass begleitete die lieder.


So wie von stamm zu stamm ein raunen steige

Im pinienhaine bei Ravennas küste

Wenn losgebunden sich der südwind zeige ...


Den langsam schweifenden trug sein gelüste

Bis ihn der heilige wald so tief umschlossen

Dass keinen rückweg er zu finden wüsste.


Da kam auf seinem weg ein bach geflossen

Der nach der linken mit den kleinen wellen

Die gräser bog die an dem ufer sprossen.


Der erde wasser – auch die noch so hellen –

Enthalten doch ein trübendes gespüle

Entgegen diesen die am reinsten quellen ·[121]


Obwohl sie immer ziehn in dunkler kühle

Und schatten immerwährend sie umsäume

Der nie den strahl von mond und sonne fühle.


Ich hielt den fuss und lenkte auf die räume

Jenseit der flut die blicke um zu sehen

Die bunte fülle frischer blüten-bäume:


Und dort erschien wie dinge die geschehen

In einem nu und mit des staunens zwange

Von jedem andren trachten abzustehen:


Ganz einsam eine frau die im gesange

Dort ging und blume neben blume pflückte

Vom farbenflor auf ihrem ganzen gange.


›Ach schöne Frau · vom liebesstrahl berückte!

Sofern ich es dem aussehn recht entnehme

Darin ja stets das herz sein zeichen drückte ·


Sagt ich zu ihr · ich bitte dich: bequeme

Dich herzukommen zu des flusses rande

So dass ich deines sanges sinn vernehme.[122]


Du riefst vor meinen geist nach ort und stande

Proserpina · am tage der gestohlen

Der mutter sie – und ihr die frühlingslande.‹


So wie sich wendet · nah am grund die sohlen

Und nah beisammen · eine frau im tanze

Wo sich die füsse sacht nur überholen:


So kehrte sie im rot- und gelben glanze

Der blumen zu mir.. einer maid gebaren

Die ehrbar senkt die blicke glich das ganze.


Und meinen bitten wollte sie willfahren ..

Sie nahte sich · so dass die süssen laute

Mit ihrem inhalt mir verständlich waren.


Sie kaum dort angekommen · wo dem kraute

Zum bade winkt des schönen flusses welle

Beschenkte mich indem sie aufwärts schaute.


Nicht glaub ich dass erstrahlt von solcher helle

Der Venus auge als mit seinem brande

Der Sohn sie traf an eines andren stelle.[123]


Sie lächelte · am rechten uferrande

Entpflückend mit den händen blüt an blüte

Die samenlos gedeihn im hehren lande.


Drei schritte trennte uns der fluss.. doch mühte

Der Hellespont den Xerxes liess durchwandern –

Noch heut ein zaum vermessenem gemüte –


Mit mindrer widerwärtigkeit Leandern

Der strömung wegen zwischen den gestaden:

Als mich · da mich ein ufer schied vom andern.


Fegefeuer · XXVIII. Gesang · 1–75.

Quelle:
George, Stefan: Dante. Die göttliche Komödie. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 10/11, Berlin 1932, S. 120-124.
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