GEBET DES HEILIGEN BERNHARD

[206] Jungfrau und Mutter! Tochter deines sohnes!

Voll demut und voll würde wie kein wesen

Nach vorbestimmtem rat des ewigen Thrones ·


Du machtest unsre menschheit so erlesen

Und edel dass der Schöpfer selbst geruhte

Geschöpf zu werden dessen du genesen.


Die Liebe ward entfacht in deinem blute

Damit von ihrem brand in ewiger wonne

Solch eine wunderbare rose glute![206]


Du bist für uns die mittagliche sonne

Der himmelslust · dort auf der erdenscholle

Gleichst du der hoffnung stets lebendigem bronne.


O Frau! du bist die grosse Hilfevolle ·

Wer gnade sucht und nicht zu dir sich wendet

Ist wie wer ohne schwinge fliegen wolle.


Und so ist deine milde dass sie sendet

Nicht nur dem bittenden – oft ward dem armen

Freigebig vor dem bitten schon gespendet.


In dir ist mitleid! In dir ist erbarmen!

In dir ist langmut! Was nur je des guten

In menschen war entströmt aus deinen armen.


Nun naht er dir der aus tiefuntern gluten

Des weltalls sich erhob zu dieser steile ·

Durch alle stufen sah der geister fluten


Und ruft zu dir dass deine huld erteile

Die kräfte seinem blick und dass er trete

Noch weiter aufwärts bis zum grössten Heile.[207]


Ich der nicht mehr für mein erleuchten flehte

Als jetzo für das seine: ich erneue –

O nimm sie auf! – all meine bittgebete


Auf dass sich jede wolke ihm zerstreue

Von seiner sterblichkeit nach deinem flehen

Und er des höchsten gutes sich erfreue!


Noch bitt ich · Königin (denn schon geschehen

Ist was du wünschest) dass sich rein erhalten

Die sinne dem der solches hat gesehen.


Dein schutz besiege irdische gewalten!

Sieh hier die Selige und soviel seelen

Damit du mich erhörst die hände falten!


Himmel · XXXIII. Gesang · 1–39.[208]

Quelle:
George, Stefan: Dante. Die göttliche Komödie. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 10/11, Berlin 1932, S. 206-209.
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