DER KINDLICHE KALENDER


[13] Die ersten wochen nach Erscheinung des Herrn hatten ausser den fremdländischen gesichten der drei Weisen mit gold weihrauch und mirren kaum andere erinnerungen als die schlittenfahrten über den zugefrorenen strom · der mit der ebene eines geworden war. Um Mariä Lichtmess hörten wir viel von der zunehmenden helligkeit und der hoffnung auf winters ende. In der frühe gingen wir zur weihe des wachses und empfingen tags drauf den segen der kerzen. Der Fasching wo wir mit bunten und seltsamen kleidern einherzogen brachte uns die schau einer umgekehrten welt · wo sich männer in weiber und menschen in tiere verwandelten. Morgens noch als es dunkelte · sagten kinder die auf hohen stangen aufgespiesste brote trugen singend die Fastnacht an. Am Aschermittwoch traten wir zum altar und der priester zeichnete unsre stirnen mit dem aschenkreuz. Um Lätare beobachteten wir die ersten arbeiten auf dem feld und als der saft in den bäumen stieg sassen wir im weidicht und schnitten aus den lockergeklopften rinden uns flöten und pfeifen. Die schwalben und die störche kehrten wieder. Die Heilige Woche kam mit ihren zerstörten altären · der verstummten orgel und dem tönen der klapper statt der klingeln und glocken. Am Karfreitag lagen wir · nachdem pfarrer und messner vorangegangen waren · der länge nach ausgestreckt auf dem chor und küssten das niedergelegte Heilige Holz.[14] In der dämmerung erklangen die uralten klageweisen über den untergang der Stadt. Darauf der Samstag mit der enthüllung des kreuzes und den posaunen der osterfreude. Am Weissen Sonntag weckten uns in der frühe die choräle von den türmen und wir stellten uns auf um den zug der kleinen bräutigame und bräute zu sehen die zum erstenmal zum Tisch des Herrn zogen. Alle hatten sie auf ihren stirnen die blässe der angst und andacht und dies war der einzige tag wo auch die plumpen kinder des volkes schön wurden. Ende april begannen wieder unsere regelmässigen fahrten in die wiesen und auf die berge. Unsere mutter lehrte uns die namen und die kräfte der blumen und kräuter und wir bekamen die schwer zugängliche kuppe gezeigt wo die seltene blume diptam wächst aus der des nachts weisse flammen perlen. Im monat der Maria gingen wir des abends mit kränzen und grossen fliederbüschen zur kapelle um das bild der himmelskönigin zu schmücken. Hier wurden uns die beiden gebärden des gebetes gewiesen: die eine mit ineinandergeschlungenen geneigten fingern um ergebenheit und dank auszudrücken · die andere mit aufrechten aneinandergelegten zu bitte und preis. Am Fronleichnam wurde in grossem aufzug das Allerheiligste durch die bestreuten und geschmückten weihrauchduftenden strassen geführt und mit den dumpfen männerstimmen vereinigten sich unsre[15] helleklingenden zum Tedeum. Mit Pfingsten begann der sommer und die gesänge im wald und am flusse. In grossen steinkrügen trugen wir den wein bergaufwärts · wir durften ihn in den bächen kühlen und lagerten uns auf dem grunde zu den frohen abendmahlzeiten im tannenrund. An Johanni sammelten wir von haus zu haus holz und reisig. Es wurde auf karren geladen und auf den höhen in grossen haufen aufgeschichtet. Nach einbruch der dunkelheit wurde es entzündet und wir liebten es unsre nackten arme in die freie züngelnde flamme zu schnellen. In den erntetagen wenn die hitze etwas nachgelassen hatte gingen wir in die flur und flochten uns kränze von kornblumen · und die leute zeigten uns wie man aus umgestülpten mohnrosen kleine prinzessinnen macht. Dort hörten wir einmal wie die schnitter ein lied vom Wote sangen und konnten uns unser grauen und unsere verwunderung nicht erklären. Erst viel später fiel uns der grund ein: dass ein seit jahrtausenden entthronter Gott noch in erinnerung sein sollte während ein heutiger schon in vergessenheit geriet. Mitte august begleiteten wir die auf einem gerüst getragene bildsäule des Stadt-Heiligen von der kirche zur bergkapelle. Er war in einen dunkelpurpurnen samtmantel gekleidet und um seine schultern hingen die ersten reifenden trauben. Wir hatten pilgerkutten angelegt mit aufgenähten muscheln und führten in der[16] hand flasche und stab. In langer reihe kamen dann die vielen sonntage nach Pfingsten die wenig abwechslung brachten im kindlichen jahre und blasser im gedächtnis blieben – bis zum Advent. Dazwischen war der Dreifaltigkeitstag an dem die nachtwandrer und hellseher geboren werden · die zeit der weinlese und Allerheiligen · das lezte fest vor dem einbruch des nebels und der kälte. Während der Kunfttage gingen wir mit lampen zur frühmette · wo der psalm wiederholt wurde ›Tauet himmel den Gerechten‹ .. und lange wochen waren erfüllt von den erwartungen der nahen Weihnacht.[17]

Quelle:
Stefan George: Tage und Taten. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 17, Berlin 1933, S. 13-19.
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