IV

[10] Das altertümliche dorf wo unsere vorfahren lebten und der reihe nach an der eppichbewachsenen mauer des kirchhofes begraben sind. Auf den wacken-gepflasterten gassen grüssen mich einige leute die ich niemals vorher gesehen hatte und auf dem kirchweg begegnet mir eine greisin die mich mit urväterlicher freude erkennt und befragt. Dunkel tauchen mir wieder auf: das rundbogige hölzerne tor die geschnizten köpfe am treppenaufgang und die unmodischen möbel die anheimeln wie die verjährte ehrliche gastlichkeit der inwohner. Ich hätte mich auch gern nach dem alten ohm erkundigt: ich wusste aber wahrlich nicht ob er nicht schon gestorben war.[10]

Es sollte mir gezeigt werden ein familien-erbstück das schon seit jahren dastand: die gipsbüste eines schönen stillen klugen kindes das früh sterben musste .. es wurde mir gezeigt in dem frostigen langen fünffenstrigen saal mit den altfränkischen vergoldungen dem weissen gedielten estrich dem verbrauchten plüsch und den bis zur unkenntlichkeit nachgedunkelten ölgemälden. Alle läden wurden geöffnet damit man es gut betrachten könne. Auf einem alten kaunitz in einem glasgehäuse stand es mit der hohen etwas gewölbten stirn – viel älter aussehend da es nach der totenmaske gebildet war – das hinterköpfchen stark hervortretend und um den mund schon den ansatz zur falte die man später die schmerzensfalte nennt.

Die zusammenstimmende ruhe von wiesen wasser und blauer ferne wird nur manchmal unterbrochen durch das wehen einer flagge oder durch einen feiertagsklang der umliegenden weiler. In langen zwischenräumen schreien truthähne auf dem meierhof. Kinder stehen mitten im flachen fluss und fischen · andere baden zwischen dem weidicht und weiter oben schwankt ein leeres boot an der fähre. Wäre es möglich in dieser friedfertigen gediegenen landschaft seine seele wiederzufinden?[11]

Quelle:
Stefan George: Tage und Taten. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 17, Berlin 1933, S. 10-13.
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